Künstliche Elemente in der Waagschale

15. Oktober 2010

Atomkerne zu wiegen, die sich nur im Labor erzeugen lassen, hilft bei der Antwort auf weitreichende Fragen der Physik. Etwa danach, wie in Sternen Elemente entstehen. Doch um die Masse kurzlebiger Atomkerne zu bestimmen, brauchen Physiker raffinierte Kniffe.

Text: Roland Wengenmayr

 Atomkerne wiegen – wozu denn das? Klaus Blaum ist solche Fragen sichtlich gewohnt. Geduldig erklärt der junge Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, warum er für kleinste Objekte die wohl empfindlichsten Waagen baut, die es derzeit gibt. An diesen Präzisionsexperimenten arbeiten knapp 40 Mitarbeiter, hinzu kommen Partner anderer wissenschaftlicher Institutionen. Schnell gerät das Gespräch zu einer Abenteuerreise von winzigen Atomkernen zu großen Fragen der Physik. Es ist erstaunlich, welche Erkenntnisse das Wiegen von Atomkernen bringen kann.

Immer wieder springt Blaum auf und geht zu der großen Nuklidkarte an der Bürowand. In einem breiten Panorama rollt sie die Vielfalt der Atomkerne mit ihren physikalischen Eigenschaften auf. Blaum fährt mit dem Finger über kleine Quadrate. Sie symbolisieren die chemischen Elemente und ihre leichteren oder schwereren Isotope mit abweichenden Neutronenzahlen. Je schwerer ein Element ist, desto weiter rechts findet man es. Ganz rechts, jenseits vom Uran, also dem Element mit der Ordnungszahl 92, beginnt das Reich der schweren und superschweren Elemente. Diese künstlich hergestellten Kerne bleiben nicht stabil – nach einigen millionstel Sekunden oder höchstenswenigen Sekunden zerfallen sie.

Element 118 haben die Physiker inzwischen schon erreicht, offiziell bestätigt hat die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) sie allerdings erst bis Element 112. Hinter diesen Elementen läuft die Karte in unbekanntes Terrain aus. Irgendwo bei Element 120 vermuten Physiker schon lange eine Insel der Stabilität. „Die Kerne dort könnten Jahre leben“, erläutert Blaum. Subtile Quanteneffekte sollen den stabilisierenden Kernkitt auf dieser Insel bilden, zu der es auch den Max-Planck-Forscher mächtig zieht. Es geht ihm aber nicht um physikalische Gewichtsrekorde, sondern darum, wie Atome als Materiebausteine entstehen.

„Die Frage, wie die Welt entstanden ist, finde ich besonders spannend“, sagt Blaum und landet bei der Astrophysik. Schließlich erbrüten Sterne nahezu alle atomaren Materiebausteine jenseits von Wasserstoff und Helium. Besonders fasziniert den Wissenschaftler die Nukleosynthese von schweren chemischen Elementen. Diese entstehen nur unter den extremen Bedingungen, die während eines besonders dramatischen Sterntods herrschen – einer Supernova.

Die Astrophysik hält noch weitere Probleme bereit, deren Lösungen Klaus Blaum näherkommen will, indem er Atomkerne wiegt. Fundamental ist die Frage, welche Masse Neutrinos, die allgegenwärtigen, alles durchdringenden Geisterteilchen der Physik, besitzen. Die Antwort würde unter anderem ein wichtiges Puzzleteil zum ungelösten Rätsel um die Dunkle Materie im Kosmos liefern. Wie alle schlau erdachten Präzisionsexperimente nützt eine Waage für Atomkerne also gleich auf mehreren Gebieten der Grundlagenforschung. Aber wie sieht so eine Extremwaage aus, wie funktioniert sie? Das will Blaum beim GSI Helmholtzzentrum für Schwer­ionenforschung in Darmstadt zeigen.

Kerne verschmelzen nur bei frontalen Stößen

Zwei Tage später stehen wir dort in einer großen Experimentierhalle vor Shiptrap. Wie eine Waage sieht das scheinbar chaotische, tatsächlich aber durchdachte Wirrwarr aus Rohren, Kabeln und leuch­tenden Digitalanzeigen allerdings nicht aus. Klar, Atomkerne werden völlig anders gewogen als Mehl oder Menschen. Michael Block führt durch die Anlage. Der promovierte Atomphysiker ist Projektleiter dieses Experiments an der GSI, an dem sich neben den Heidelberger Max-Planck-Wissenschaftlern noch andere deutsche und internationale Forschungsgruppen beteiligen.

Zunächst zeigt Block, wo die schweren Kerne hergestellt werden. Hier erzeugten Darmstädter Physiker erstmals insgesamt sechs superschwere Elemente, darunter Nummer 110 und 112, die sie Darmstadtium und Copernicium taufen durften. Das Allerheiligste findet sich in einer Vakuumkammer, die mit ihren Panzerfenstern an einen altmodischen Taucherhelm erinnert. Hinter den Fenstern schimmert eine Metallfolie, eingespannt in ein drehbares Rad. „Das ist das Target“, erklärt Block. In dieses Ziel schlägt ein Strahl von Ionen, elektrisch geladenen Atomen, ein – etwa Calciumionen. Zuvor hat sie der kräftige Beschleuniger der GSI mit elektromagnetischen Feldern auf eine Geschwindigkeit von einigen Zehntausend Kilometern pro Sekunde geschleudert.

Unter vielen Billionen Ionen im Strahl landet eines irgendwann einen Treffer: Sein Atomkern kollidiert frontal mit dem Kern eines Atoms in der Metallfolie. Das passiert jedoch extrem selten, weil Atomkerne unfassbar winzig sind. Ihr Durchmesser beträgt nur wenige Femtometer, einige Millionstel eines millionstel Millimeters. Prallt ein Kern aus dem Ionenstrom frontal auf einen Kern in der Folie, verschmelzen beide. So entsteht ein schweres oder gar superschweres Atom – das allerdings ebenfalls elektrisch geladen ist.

Der Schwung reißt das schwere Ion nach hinten aus der Metallfolie heraus. Zunächst passiert es mit Ship (Separator for Heavy Ion Reaction Products) eine Art Filteranlage, die es von den Strahlteilchen trennt. Dann erreicht das Ion Shiptrap. Bevor das eigentliche Wiegen beginnt, muss es jedoch erst einmal von seiner hohen Geschwindigkeit auf nahezu null abgebremst werden – und das auf nicht einmal einem halben Meter!

Als Bremse dienen eine weitere Folie und eine mit Heliumgas gefüllte längliche Zelle: Darin kollidiert das schwere Ion in einer Massenkarambolage mit einer Kaskade von Heliumatomen. Das Brems­prinzip ist zwar simpel, aber in der Entwicklung der Gaszelle steckt jahrelange Forschungsarbeit. Selbst bei der jetzigen Technik überstehen nur wenige Prozent der Schwerionen den Bremsvorgang. Die meisten bleiben in der Folie stecken oder landen an der Zellenwand und zerfallen dort.

Auf der Kreisbahn verrät das Atom seine Masse

Die überlebenden Ionen kommen nun in dem Teil an, dem Shiptrap das trap verdankt. Das englische Wort steht für Falle, denn passenderweise besteht die eigentliche Waage aus einer sogenannten Penning-Falle. Diese ist nach dem niederländischen Physiker Frans Michel Penning benannt. Sie steckt in einem sehr starken supraleitenden Magneten. Dessen Magnetfeld und das elektrische Feld der Falle bilden zusammen einen Käfig für das elektrisch geladene Ion. In ihm tigert das Teilchen auf einer Art Kreisbahn herum, die nochmals in sich verschraubt ist.

„Auf der Rosettenbahn läuft ein Ion zum Beispiel eine Million Mal pro Sekunde um“, erklärt Blaum. Diese Zirkulationsfrequenz enthält schon die genaue Information über das Gewicht oder, physikalisch präziser gesagt, die Masse des Ions. Leider lässt sie sich nicht einfach ablesen, dazu bedarf es vielmehr eines Tricks, den Blaum mit einem Bild erklärt: Man könne sich vorstellen, dass das Ion auf seiner Kreisbahn wie auf einer Schaukel hin und her schwingt.

Angestoßen wird das Teilchen von einem elektromagnetischen Hochfrequenz­signal. Je genauer dessen verstellbare Frequenz der Eigenfrequenz des Ions in der Falle entspricht, desto schneller schaukelt sich das Ion auf. Schließlich wird es aus der Falle geschossen und landet in einem Detektor. Wie lange das Ion dorthin fliegt, verrät den Physikern die Eigenfrequenz und damit die Masse des Ions. Daraus können die Forscher schließlich präzise die Masse des Atomkerns berechnen.

Auf diese Weise gelang es Blaum, Block und ihren Partnern kürzlich, die Masse des Atomkerns von Nobelium, dem Element 102, sehr genau zu bestimmen. „Unsere Veröffentlichung im Fachblatt Nature hat in der Presse einiges Aufsehen erregt“, erzählt Klaus Blaum stolz. „Ja, in Spanien hat sogar El País den Bericht eines spanischen Gruppenleiters von uns auf der Titelseite gebracht“, erzählt Michael Block.

Das gegenwärtige Messverfahren hat den Nachteil, dass jede Messung das wertvolle Ion vernichtet. Schon vom Nobelium landeten aber durchschnittlich ohnehin nur wenige Ionen pro Stunde in der Falle. Die noch schwereren Kerne entstehen selbst in Spitzenbeschleunigern wie bei der GSI zum Teil nur einmal pro Tag oder pro Woche. Die Physiker brauchen aber etwa 100 Ionen pro Massenmessung. Das ist ein Problem, denn 100 Wochen andauernde Messkampagnen wären viel zu teuer an der wissenschaftlich sehr gefragten Maschine.

Deshalb arbeitet Blaum mit seinem Team nun an einer besonders feinen Nachweistechnik, die das Ion nicht zerstört und eine Massenmessung an einem einzelnen Ion erlaubt. Der Trick: Das Ion zieht mit seiner positiven elektrischen Ladung negativ geladene Elektronen in der Fallenwand an. Diese zirkulieren als winziger Spiegelstrom im Gleichtakt mit dem Ion. Den Strom können die Forscher messen, allerdings nur mit extrem empfindlichen Geräten. Diese neue Technik ermöglicht es nun, das einzelne Ion extrem genau zu wiegen.

Die Modelle der Atomkerne sind ungenau

Klaus Blaum entwickelt die Methode mit Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Kernphysik und an der Universität Mainz. „Um sie einsetzen zu können, muss das Ion in der Falle aber mindestens einige Sekunden leben“, sagt der Forscher. Für schnell zerfallende Ionen eignet sie sich also nicht. Existieren jedoch tatsächlich superschwere Kerne, die langlebig oder sogar wieder stabil sind, dann wäre diese Waage die Entdeckungsmethode der Wahl für neue Elemente.

Die gegenwärtige Standardmethode kann nur Ionen nachweisen, die schnell wieder zerfallen. Seit Jahrzehnten wird sie an allen Teilchenbeschleunigern eingesetzt, die schwere Elemente produzieren. Ihre Detektoren reagieren allein auf die Zerfallsprodukte, aus deren Daten die Physiker dann den ursprünglichen Kern rekonstruieren. Auch die Kernmasse errechnen sie daraus, was jedoch zu Fehlern führen kann. Ein Grund: Die Kernbruchstücke können einen Teil der Energie, die beim Zerfall frei wird, in sich versteckt davontragen. Genau dann nämlich, wenn die Protonen und Neutronen im Kern in höhere Quantenzustände springen, ähnlich wie die Elektronen in der Atomhülle.

Bei dem Quantensprung nehmen die Kerne Anregungsenergie auf, die für die Standardmethode jedoch quasi unsichtbar bleibt. Das sorgt für einen gewissen Fehler, wenn die Kernphysiker aus den detektierten Bruchstücken die Masse des zerplatzten schweren Kerns rückrechnen. Denn Energie und Masse sind äquivalent, also zwei Seiten derselben physikalischen Medaille. Das hat Albert Einstein bereits 1905 erkannt und in seine berühmte Formel E = mc2 gefasst.

Die Theorie ist nach wie vor eine Problemzone der heutigen Kernphysik. Zwar können Physiker inzwischen das Verhalten der Elektronen in den Hüllen von Atomen und Molekülen recht genau berechnen, doch bei den Protonen und Neutronen in den winzigen Kernen tun sie sich schwer. Ihre theoretischen Modelle über den Aufbau und inneren Zusammenhalt der Kerne sind wesentlich ungenauer als die nun experimentell erreichbare Präzision. Das liegt daran, dass die Kernbausteine ein System aus vielen Teilchen bilden. Unangenehmerweise sind solche Systeme mit mehr als zwei Teilchen mathematisch nicht mehr exakt berechenbar. Die theoretische Physik muss also geschickte Näherungslösungen finden.

Kerne mit gefüllten Schalen könnten stabil bleiben

Bei den komplex aufgebauten Kernen ist das eine besondere Herausforderung. Die Elektronen in Atomen bilden – außer beim einfach gebauten Wasserstoff – zwar auch Vielteilchensysteme. Diese sind aber gutmütiger, weil nur die elektromagnetische Kraft die negativ geladenen Elektronen an den positiven Kern bindet. Bei dieser Kraft handelt es sich um die zweitstärkste der vier bekannten physikalischen Grundkräfte. Sie wirkt auch in Atomkernen, allerdings zerstörerisch, treibt sie doch die gleich geladenen Protonen heftig auseinander.

Die Existenz unserer materiellen Welt verdanken wir einer weiteren Kraft, die beim Kern ins Spiel kommt, diesen aber auch komplexer macht. Diese starke Kraft zwingt die Protonen und Neutronen zusammen. Sie hat aber nur eine extrem kurze Reichweite. Bei sehr großen Kernen gewinnt deshalb die schwächere, aber weiter reichende elektromagnetische Kraft die Oberhand und lässt diese zerfallen.

Ein stabilisierender Effekt aus der Quantenmechanik kann das allerdings verhindern. Er spielt auch in der Elektronenhülle der Atome eine wichtige Rolle. Elektronen, Protonen und Neutronen zählen nämlich zu einer Sorte Quantenteilchen, die extreme Individualisten sind: Sie beanspruchen einen Quantenzustand für sich alleine. In der Elektronenhülle und im Kern gibt es aber jeweils nur eine streng begrenzte Zahl dieser Quantenplätze. Sie bilden Schalen, ungefähr wie Sitzreihen im Theater.

Bei den Elektronenhüllen sorgt so eine volle Elektronen-Sitzreihe für die Eigenschaften der Edelgase. Die gefüllten Schalen sind extrem energiesparend und damit sehr stabil. Dasselbe erwartet die Kernphysik bei schalenförmig aufgebauten Atomkernen: Jede mit Protonen oder Neutronen voll gefüllte, stabile Schale entspricht einer magischen Zahl von Kernbausteinen.

Diese magische Quanteneigenschaft soll sogar superschwere Kerne zusammenschweißen, die eigentlich zerplatzen müssten. Blaum zeigt auf der Nuklidkarte auf die Massengegend um 120 Protonen und 184 Neutronen: „Gibt es dort auch solche magischen Schalen?“ Wenn ja, dann liegt dort vermutlich die Insel der Stabilität – wenn sie denn existiert.

Bislang ist es den Physikern jedoch noch nicht gelungen, solche superschweren Kerne mit sehr vielen Neutronen herzustellen. Deshalb bleibt offen, ob die Modellvorstellungen der Kernphysik überhaupt für Vorhersagen dieser Art gelten. Etwas leichtere Kerne genau zu wiegen kann aufzeigen, welche der konkurrierenden Kernmodelle die Natur besser beschreiben. Damit sollte sich auch konkreter bestimmen lassen, ob es die hypothetische Insel der Stabilität gibt und – wenn ja – wo sie liegt.

Die Stabilität von Kernen führte Blaum bereits in einer langjährigen Kooperation am Europäischen Forschungslaboratorium CERN in Genf zu den Novae und Supernovae. Diese gelten als Brutstätten der schwereren Elemente. Im Gegensatz zur GSI kann die dortige Isolde-Anlage zwar nur leichtere Atomkerne produzieren. Doch auch unter diesen gibt es Exemplare, die während des Todeskampfs der Sterne eine entscheidende Rolle spielen.

Brutvorgänge in Sternen machen Gold wertvoll

Diese sogenannten Wartepunktskerne wirken wie Stoppsignale auf dem Weg zu noch gewichtigeren Elementen. Für diesen Weg sorgt in Supernovae ein Prozess, dem etwa die Hälfte der Elemente jenseits von Eisen im Periodensystem ihre Existenz verdankt. Dabei fängt ein Kern eines der Neutronen ein, von denen enorme Mengen durch die sterbenden Sterne flitzen. Ein radioaktiver Zerfall, der sogenannte Beta-Zerfall, wandelt dann im Kern ein Neutron in ein Proton um, wobei ein Elektron frei wird. Mit dem neuen Proton wird das Element schwerer und rückt um einen Platz nach links oben im Periodensystem.

Die Wartepunktskerne kann man sich nun wie satte Vielfraße vor einem Buffet vorstellen, das reichlich mit leckeren Neutronen gedeckt ist. Sie stehen vor der Wahl, ein weiteres Neutron zu schlucken und noch schwerer zu werden – oder zu zerplatzen. Da die Wartepunktskerne sich mit der Entscheidung zwischen den beiden Optionen schwertun, muss die Bildung noch schwererer Elemente erst einmal warten, was den Brutvorgang erheblich verzögern kann. „So können wir verstehen, warum etwa Gold so selten entsteht und deshalb so wertvoll ist“, erklärt Blaum.

Die heutigen Kernmodelle lassen zwar vermuten, welche Atomkerne als Wartepunktskerne wirken. Doch erst die präzisen Massenmessungen von Blaum und Kollegen liefern eine genaue Information über die Schalenstruktur der Kandidaten. Kürzlich gelang ihnen mit der Isoltrap-Waage am CERN, die nach demselben Prinzip wie Shiptrap funktioniert, der Nachweis, dass eine stabile Schale von 50 Protonen und 82 Neutronen im sehr schweren Kern des Isotops Zinn-132 (Zinn ist Element 50) eine solche prominente Rolle in Supernovae spielt.

Auch für die Fliegengewichtsklasse der Teilchen interessiert sich Klaus Blaum. Zusammen mit Physikern des Karlsruher Instituts für Technologie sind die Heidelberger der Masse von Neutrinos auf der Spur. In Karlsruhe steht dazu das Karlsruhe Tritium Neutrino-Experiment „Katrin“. Es soll einen bestimmten radioaktiven Zerfall extrem genau vermessen: den Beta-Zerfall des schweren Wasserstoffs Tritium.

Dabei zerfällt der Tritium-Kern mit seinem Proton und zwei Neutronen in einen Helium-3-Kern. Dieser besteht aus zwei Protonen und einem Neutron. Folglich hat sich eines der Neutronen in einem Beta-Zerfall in ein Proton verwandelt. Dafür sorgt die schwache Kraft, die dritte Grundkraft der Physik. Damit nun aber die Bilanz der elektrischen Ladungen stimmt, muss aus dem elektrisch neutralen Neutron neben dem positiv geladenen Proton auch ein negatives Elektron entstehen. Nun gibt es aber noch eine Lücke in der Bilanz einer zweiten physikalischen Eigenschaft, dem gesamten Drehimpuls (Spin) vor und nach dem Zerfall. Dieses Defizit gleicht ein Elektron-Antineutrino aus, das als weiteres Teilchen frei wird. Und dessen Masse haben die Physiker im Visier.

„Katrin“ registriert zu diesem Zweck extrem genau, wie viel Energie die bei den Zerfällen frei werdenden Elektronen mit sich davontragen. „Wir wollen dagegen hier an einer Anlage in Heidelberg die Energiedifferenz zwischen dem Tritium und dem Helium messen“, erklärt Blaum. Da Energie ja nach Einstein zur Masse äquivalent ist, muss sich aus beiden Messwerten die Neutrinomasse errechnen lassen. Die Heidelberger bauen dafür eine besonders präzise Waage, die auf ein billiardstel Bruchteil der Kernmasse genau messen soll.

Dieses Forschungsprojekt könnte zu einer Sensation führen. Das Standardmodell der Teilchenphysik, ein Grundpfeiler der heutigen Physik, verpasst den Neutrinos zwar die Masse null. Inzwischen ist jedoch klar, dass sie eine besitzen müssen. Wie gewichtig die verschiedenen Neutrinosorten sind, bleibt bislang aber offen. Gelingt es den Karlsruher Katrin-Forschern gemeinsam mit den Heidelberger Max-Planck-Physikern, eine Neutrinosorte zu wiegen, hätte das weitreichende Folgen. Erstmals ließe sich abschätzen, ob und wie stark diese Geisterteilchen zur rätselhaften Dunklen Materie im Kosmos beitragen.

So hilft die Präzisionswaage für Atomkerne, weitreichende Fragen der Physik zu beantworten. Kein Wunder also, dass Klaus Blaum bilanziert: „Ich glaube, dass die neuen Methoden zu einer Renaissance der Kernphysik geführt haben.“

 

GLOSSAR

Neutrinos

Elektrisch neutrale Elementarteilchen mit sehr niedriger Masse. Physiker unterscheiden Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino und Tauon-Neutrino, die jeweils als Gegenstück zu elektrisch geladenen Teilchen (Elektron, Myon, Tauon) existieren. Neutrinos wechsel­wirken kaum mit Materie und durchdringen daher auch die Erde nahezu ungehindert. Sie ent­stehen beim radioaktiven Beta-Zerfall und bei Kernfusionsprozessen etwa in Sternen. Wie zu anderen Materiebausteinen das jeweilige Antiteilchen existiert, gibt es auch Antineutrinos.

Eigenfrequenz
Jedes Objekt, das schwingen kann, besitzt mindestens eine Eigenfrequenz – egal ob Elektron, Pendel, Geigensaite, Hängebrücke oder Hochhaus. Wird es mit dieser Frequenz angestoßen oder angeregt, schwingt es besonders heftig.

Standardmodell der Teilchenphysik

Es beschreibt die Elementarteilchen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen, umfasst allerdings nur drei der vier Grundkräfte; die Gravitation lässt es unberücksichtigt. Zudem gibt es dem Neutrino die Ruhemasse null, was inzwischen widerlegt wurde. Daher versuchen Physiker, das Modell zu erweitern – eines der großen offenen Probleme der Physik.

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