Tiefgang an Oberflächen

7. Dezember 2009
Im ersten Anlauf klappten die Experimente für ihre Promotion nicht richtig. Im zweiten eröffnete Sylvie Roke eine völlig neue Sicht auf weiche Materie. Am Max-Planck-Institut für Metallforschung untersucht sie mit der Methode auch neue Medikamente und biologische Zellen.

Text: Uta Deffke

Manchmal sind es die kleinen, alltäglichen Dinge, die noch große Geheimnisse bergen. Man nehme zum Beispiel Öl und kippe es in ein Gefäß mit Wasser. Beide Flüssigkeiten werden sich nicht vermischen, das kennt jeder von der Vinaigrette aus Essig und Öl. Erst kräftiges Schütteln verteilt das oben schwimmende Öl im Wasser. Allerdings nur in Form feiner Tröpfchen. Chemiker nennen das eine Emulsion. Es gibt sie überall im täglichen Leben: als Milch, Butter, Shampoo oder Medizin. Doch was bestimmt die Größe der Tröpfchen, ihre Stabilität, ihre Wechselwirkung mit der umgebenden Flüssigkeit? Warum ändert sich das alles, wenn man bestimmte Substanzen dazu gibt? Und wie lässt sich das gezielt beeinflussen?

Die Antworten auf diese Fragen liegen in der Oberfläche der Teilchen verborgen. Sylvie Roke zeichnet einen schwarzen Kreis auf die weiße Tafel und drum herum noch einen. „Diese Grenzschicht ist nur etwa einen Nanometer dick, aber sie unterscheidet sich grundlegend vom Rest der Flüssigkeit“, erläutert die Physikerin. Die Flüssigkeit verhält sich dort eher zähflüssig und enthält viel mehr geladene Teilchen, die untereinander und auf ihre Umgebung eine anziehende oder abstoßende Wirkung ausüben. Doch wie sehen die Moleküle dort genau aus? Wie sind sie angeordnet und warum? Ist das bei der gekrümmten Oberfläche der Tröpfchen anders als bei der glatten Oberfläche vorher?

An Lehrbuchwissen zu rütteln macht Spaß

Erste Spekulationen darüber geisterten schon vor hundert Jahren durch die Fachliteratur. „Über die Tröpfchen gibt es eine Menge Theorien“, sagt Roke, „aber bislang gibt es dazu keine direkten Messungen.“ Es gab schlichtweg keine geeignete Methode, die den Forschern Zugang zu den Grenzflächen der winzigen Tröpfchen ermöglicht hätte. Sylvie Roke hat ein optisches Verfahren entwickelt, mit dem das nun erstmals möglich ist. „Damit können wir eine Menge alter Vorstellungen über Bord werfen“, sagt sie. „Das macht natürlich Spaß; andererseits ist es ziemlich hart, gegen Lehrbuchwissen anzuforschen, denn da werden wir natürlich besonders kritisch beäugt.“

Trotz ihrer zierlichen Erscheinung und ihren gerade einmal 32 Lebensjahren klingt es nicht so, als ließe sich Sylvie Roke davon einschüchtern. Im Gegenteil. Die junge Wissenschaftlerin liebt solche Herausforderungen und weiß, was sie kann und was sie will. Wenn sie über ihre Arbeit und ihre Pläne spricht, haut sie schon mal mit den Händen auf den Tisch, demonstriert mit einer Spiralfeder die Bewegung von Molekülen und skizziert Formeln an die Tafel. Und sie beweist durchaus komödiantisches Talent beim Erzählen, wenn sie in Tonfall und Mimik andere Leute imitiert.

Sylvie Roke sitzt in ihrem Büro im sechsten Stock eines Neubaus, draußen vor den Toren Stuttgarts. Gläserne Fassade, Beton im Kern – das Max-Planck-Institut für Metallforschung. Seit 2005 leitet sie hier ihre eigene, themenoffene Max-Planck-Forschungsgruppe, die inzwischen sieben Wissenschaftler aus Brasilien, Spanien, USA, Frankreich, Holland und Deutschland umfasst. Man frage sie oft, warum sie ausgerechnet an ein Institut für Metallforschung gekommen sei. Doch der Name ist historisch bedingt. Hinter den Büro- und Labortüren geht es längst um ein breites Spektrum an Stoffen und Themen. Und die weiche Materie, die weder eindeutig festen noch flüssigen Stoffen zuzuordnen ist, liegt auch hier im Trend – inklusive biologischer Materialien.

Grenzflächen spielen für viele Prozesse eine Schlüsselrolle. Sie bestimmen die elektronischen Eigenschaften von Computerchips und die mechanische Stabilität von festen Körpern. Sie beeinflussen Transportvorgänge durch Zellwände, zum Beispiel bei Medikamentengabe, und die Wechselwirkung von Partikeln mit ihrer Umgebung. Die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Nanomaterialien basieren sogar nahezu ausschließlich auf den Eigenschaften der Oberflächen. Denn je kleiner die Abmessungen eines Körpers werden, desto dominanter wird der Anteil seiner Oberfläche und umso wichtiger wird es, sie zu verstehen.

Zellhüllen und Tröpfchen in neuem Licht

Um ebene Oberflächen zu untersuchen, gibt es einige etablierte Verfahren: von der Elektronenstreuung bis hin zu laseroptischen Methoden. Sie haben entscheidend zur steten Miniaturisierung der Mikroelektronik beigetragen. Allerdings eignen sich diese Techniken nur bedingt, um die Oberflächen weicher Materie wie Zellen oder Emulsionen zu untersuchen. Es gibt gleich mehrere Haken: Etliche der Methoden benötigen Vakuumbedingungen, unter denen Flüssigkeiten sofort verdampfen; und die interessanten Oberflächen sind in Flüssigkeiten oder festen Körpern regelrecht verborgen, sodass Elektronen gar nicht bis dorthin gelangen. Außerdem sind die Partikel sehr klein und ihre Oberflächen daher krumm, sodass unkontrollierte Streueffekte auftreten.

Das vielversprechendste Instrument, um weiche Materie zu erforschen, ist Licht. Denn es kann Flüssigkeiten und feste Körper durchdringen. Zudem wird Licht bereits verwendet, um Oberflächenstrukturen zu untersuchen, und zwar in einer nicht-linearen Methode der Schwingungs-Spektroskopie: Sie verrät, verkürzt gesprochen, wie die Moleküle an Oberflächen vibrieren, woraus sich wiederum ihre Struktur ableiten lässt.

Doch die ausgeklügelte Methode funktioniert in dieser Form nur an glatten Oberflächen. Denn zur Analyse benötigt man einen Lichtstrahl, der wie von einem Spiegel direkt reflektiert wird. Die gekrümmten Oberflächen kleiner Partikel streuen das Licht aber in verschiedene Richtungen, wo es nur noch in geringer Intensität ankommt. Dass man dennoch die Informationen über die Oberflächenmoleküle daraus ablesen und die Streueffekte sogar gezielt ausnutzen kann, um Erkenntnisse zum Beispiel über Größe und Form der untersuchten Partikel zu gewinnen, darin liegt die Idee, die Sylvie Roke verfolgt.

Um die nicht-lineare Streuspektroskopie zu realisieren, braucht sie ein fundiertes Wissen über die Streuprozesse an den Teilchen. Nur so lassen sich die Daten richtig interpretieren. Im Labor sind auf einem großen Tisch Laser aufgebaut und viele Spiegel und Linsen, die den Lichtstrahl formen. Ultrakurze intensive Lichtblitze sind nötig, damit die Schwingungen der Oberflächenmoleküle überhaupt ausreichend starke Signale erzeugen. Und weil sie so kurz sind, eignen sie sich auch, um den zeitlichen Verlauf der angeregten Molekülschwingungen in einer raschen Folge von Schnappschüssen zu beobachten.

Bedeutende Preise nach den ersten Publikationen

Mit diesem Verfahren haben die Forscher um Sylvie Roke unter anderem nachgewiesen, dass eine Suspension von Kolloiden – kleine Kügelchen in einer Flüssigkeit – eine gelartige Konsistenz annimmt, wenn sich die Molekülketten, die wie Haare an der Kolloidoberfläche sitzen, abwechselnd mit Flüssigkeitsmolekülen anordnen. Die Molekülhaare beeinflussen somit die Eigenschaften des Materials, in diesem Fall des Gels. Die Forscher bewiesen zudem: Die Oberfläche der Öltröpfchen in Wasser unterscheidet sich grundlegend von der Grenzfläche, die Flüssigkeiten trennt, wenn sie in Schichten übereinander schwimmen. Darüber hinaus arbeiten die Max-Planck-Wissenschaftler permanent daran, die Empfindlichkeit ihrer Apparatur weiter zu steigern und neue optische Effekte zu integrieren.

Für ihre Entwicklung wurde Sylvie Roke 2008 mit dem Hertha-Sponer-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ausgezeichnet. Und bereits 2006 bekam sie den holländischen Minerva-Preijs, der ebenfalls speziell Wissenschaftlerinnen ehrt. „Das ist schon etwas Besonderes für mich“, sagt Roke nicht ohne Stolz. „Manche Forscherin ist damit für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden, und ich bekam ihn bereits nach meinen ersten Veröffentlichungen.“

Ziemlich eilig hatte es Sylvie Roke schon ganz am Anfang ihres Lebens. Ein bisschen zu eilig vielleicht. Denn sie wurde drei Monate zu früh geboren und musste erst einmal um ihr Überleben kämpfen. Auch später noch war sie mehr als andere Kinder mit dem Groß-und-stark-Werden beschäftigt. Zum Glück hatte sie ihre um ein Jahr ältere Schwester. „Sie war immer größer und besser als ich. Aber sie nahm mich trotzdem mit. Weil sie Fußball spielen wollte, musste ich das auch lernen. Wenn sie wollte, dass wir durch den Wald rennen, dann rannte ich mit. Und wenn sie auf Bäume klettern wollte, kletterten wir auf Bäume. Sie ließ nicht locker, und das war sehr wichtig für mich.“

Irgendwann, mit 15 oder 16, war Sylvie Roke in ihrem eigenen Leben angekommen. Und da begann sie sich auch für die Naturwissenschaften zu interessieren. Mathematik erschien ihr als sehr natürliche Art zu denken, und auch Physik und Chemie fielen ihr leicht. Sie begann in Fachzeitschriften zu lesen und fand Gefallen an der Idee, so etwas später selbst zu machen. Damit hatte sie – auch in der Familie – ihre Nische gefunden. Denn die Eltern arbeiten beide als Juristen. Und die Schwester? „Sie ist Psychiaterin geworden und mehr für das Soziale zuständig“, sagt Roke mit einem Augenzwinkern.

An der Universität in Utrecht, nahe ihrem kleinen Heimatort, begann sie ein Chemiestudium. Doch als sie in den Veranstaltungen des Vordiploms wieder und wieder mit ihren Fragen nach dem „Warum“ nervte, empfahl ihr ein Dozent schlichtweg, sie solle doch lieber zur Physik wechseln. Das tat sie dann auch. Nach weiteren zweieinhalb Jahren beendete Roke dann nicht nur das Physik-, sondern auch noch das Chemiestudium. In der Masterarbeit am Amsterdamer Institut für Atom- und Molekularphysik vertiefte sie sich erstmals in die Untersuchung von Oberflächen – ein klassisches Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie. Als die Arbeitsgruppe dann an die Uni­versität Leiden umzog und sich die Möglichkeit bot, in die Laserphysik einzusteigen, ging Roke mit, um ihre Doktorarbeit zu schreiben.

Allerdings lief das anfangs nicht rund, die Experimente wollten nicht klappen. Sylvie Roke geriet ins Grübeln und konstatierte drei mögliche Ursachen: „Erstens: Ich bin eine lausige Wissenschaftlerin; oder zweitens: Die ganze Idee ist falsch; oder drittens: Es liegt am schlechten Signal-zu-Rausch-Verhältnis.“ Um herauszufinden, ob die einzig wirklich beunruhigende Hypothese Nummer eins stimmte oder nicht, beschloss sie, einfach ein neues Projekt anzugehen. Und sie hatte auch schon eines im Kopf.

„Wenn man etwas will, gibt es immer Wege“

Zu Beginn ihrer Promotion verbrachte sie einige Wochen an der Columbia University in New York. Aus dieser Zeit kannte sie Leute, die nicht-lineare Optik im sichtbaren Spektrum mit Lichtstreuung kombinierten. Warum also die Lichtstreuung nicht mit Spektroskopie im infraroten Bereich verbinden, der für die Aufklärung von Molekülstrukturen besonders gut geeignet ist?

Innerhalb weniger Monate baute sie nach dieser Idee ein Lasersystem. Und zeigte, dass es damit prinzipiell möglich war, die Oberflächeneigenschaften von Partikeln zu bestimmen. „Da habe ich eine Menge Glück gehabt“, sagt sie. „Denn meine Testpartikel hatten genau die richtige Größe, dass ich sie relativ problemlos messen konnte.“

So hatte sie also ihre Wissenschaftlerinnen-Ehre vor sich selbst wiederhergestellt und nach erfolgreicher Promotion zog es sie für eine Postdoc-Stelle ins Ausland. „Wie das so ist: Ich traf Michael Grunze auf einer Konferenz. Wir haben uns nett unterhalten, er hatte eine interessante Stelle in der physikalischen Chemie und so landete ich

mit einem Alexander-von-Humboldt-Stipendium in Heidelberg.“ Der gast­gebende Professor machte sie allerdings auch auf das Programm der Max-Planck-Nachwuchsgruppen aufmerksam und ermunterte die junge Forscherin, sich dafür zu bewerben.

Wirklich viel habe sie damals nicht gewusst über die Max-Planck-Gesellschaft und ihre Möglichkeiten, gesteht Sylvie Roke. Noch in Heidelberg hatte sie allerdings Joachim Spatz kennengelernt, der auf dem Sprung war ans Max-Planck-Institut für Metallforschung. Er beschäftigte sich ebenfalls mit Oberflächen und Nanostrukturen und mit biologischen Materialien und riet ihr, sich auch dort zu bewerben. Mit Erfolg: Ihre Idee und die ersten Ergebnisse ihrer neuen Methode überzeugten nicht nur die Juroren der Max-Planck-Gesellschaft, sondern auch das Direktorium in Stuttgart.

Nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht bot sich ihr damit eine glänzende Perspektive. Ihr Freund hatte sich bereit erklärt, von Holland nach Stuttgart zu kommen, wenn das mit der Nachwuchsgruppe klappen sollte. „Es ist für mich schon sehr wichtig, dass wir keine Fernbeziehung führen müssen“, sagt Roke. „Ich weiß, dass das viele machen, aber ich könnte und wollte das nicht. Und wenn man etwas will, gibt es immer Wege ...“

Und wie ist es so als Holländerin in Deutschland? Noch dazu im Herzen des schon fast bergigen und in jedem Fall „vorbildlichen Ländle“? „Na ja“, sie stöhnt ein bisschen, „es ist halt anders. Und daran muss man sich erst mal gewöhnen.“ Inzwischen ist ihr allerdings eher schon ihre Heimat fremd geworden: „Wenn ich jetzt nach Holland komme, bin ich sehr oft irritiert und denke: Kann das nicht mal ‚normal‘ gehen? Eigentlich passe ich hier nicht mehr wirklich her.“ Der größte Unterschied sei wohl, dass die Deutschen doch sehr viel geregelter leben und sich an die Vorschriften auch halten: „Wenn da steht: ‚Fahrrad abstellen verboten‘ – dann steht da auch keins.“

Auch beim Radfahren eine Kämpfernatur

Dass Sylvie Roke aus Holland kommt, wird spätestens dann klar, wenn sie von ihren sportlichen Vorlieben spricht: Radfahren und Eisschnelllaufen. „Ich liebe die Geschwindigkeit auf dem Eis, es ist fast wie fliegen“, schwärmt sie. Leider ist die Eishalle im benachbarten Kornwestheim im vorigen Jahr abgebrannt, und alternative Eisschnelllaufstrecken sind rar. Auch in Holland sind zugefrorene Grachten eher selten. Wenn dann allerdings die Menschen auf Kufen von Ort zu Ort ziehen und sich von der eisigen Landschaft und den fantastischen Perspektiven auf die alten Städte verzaubern lassen, sei das schon eine ganz besondere Atmosphäre und eine große nationale Party.

Zum Radfahren genießt Sylvie Roke das Stuttgarter Umland. „Ich fahre gerne bergauf“, gesteht sie. Für die Kämpfernatur in ihr darf es auch schon mal ein Klassiker sein: Elfmal hat sie den Mont Ventoux bereits bezwungen, den berüchtigten kahlen Berg der Tour de France. Und wenn es draußen arg ungemütlich ist oder gerade kein ordentlicher Berg vor der Tür liegt, dann gibt es da noch den Hometrainer mit DVD und Computer. „Da kann ich dann einfach Alpes d’Huez auflegen und die Anlage übersetzt mir das für Auge und Beine.“

Auch beim Lesen ist die Physikerin neuester Technik nicht abgeneigt. Neben der Kaffeetasse greift sie beim Frühstück gerne zum E-Book-Reader. Es fühle sich an wie ein richtiges Buch und sei sehr praktisch, insbesondere auf Reisen könne man damit viel Gepäck sparen. Inhaltlich bevorzugt sie dagegen Historisches, zum Beispiel Persian Fire von Tom Holland über den Krieg der Perser gegen die Griechen. Besonders gelungen findet sie auch Bill Brysons Eine kurze Geschichte von fast allem. An diesem populärwissenschaftlichen Rundumschlag schätzt sie, dass die großen Zusammenhänge deutlich werden. Bryson liste nicht bloß chronologisch Entdeckungen auf. So werde er dem Lauf der Wissenschaft doch viel eher gerecht, findet Roke.

Der umfassende Blick auf eine Sache war ihr selbst schon im Studium wichtig. Deshalb hat sie damals an der „Universiteit Vrij van Nut“ teilgenommen, der „Universität ohne Nutzen“, die der Biologieprofessor Frits Bienfait ins Leben gerufen hatte. In vierzehntägigen Sommercamps ohne Fernseher und Computer trafen sich Studierende aller Fakultäten, um miteinander über diverse und kontroverse Themen zu diskutieren. Die Verantwortung des Boxers für sein Gehirn zum Beispiel. „Das waren sehr wichtige Erfahrungen für mich, Dinge so intensiv und aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten“, resümiert Roke.

Diesen ganzheitlichen Ansatz versucht sie auch in ihrer Max-Planck-Gruppe umzusetzen. Hier arbeiten Chemiker und Physiker gemeinsam, sowohl am Experiment als auch an den entsprechenden Theorien. Erst kürzlich haben sie eine vollständige Theorie zu ihrer Streumethode veröffentlicht, die sogenannte nicht-lineare Mie-Theorie. Damit können sie den Streuprozess an sphärischen Partikeln für jedes beliebige Medium beschreiben. Künftig wollen sie die Theorie auch auf andere Partikelformen ausdehnen. Die Theorie trägt entscheidend dazu bei, die Messergebnisse richtig zu interpretieren und auch den Versuchsaufbau weiter zu optimieren.

Wichtige Hinweise für künftige Medikamente

Gerade abgeschlossen ist ein medizinisches Projekt mit der Universität Utrecht. „Ich traf den Forscher tatsächlich im Fahrstuhl, und er erzählte mir von seinem Problem“, erinnert sich Sylvie Roke. Zur Bekämpfung von Leberkrebs hatten die Mediziner winzige Kügelchen aus biologisch abbaubarem Kunststoff entwickelt. Darin befinden sich geringe Mengen Holmium, das zum Aussenden radioaktiver Strahlung angeregt wird, um den Tumor zu zerstören. Die Mediziner hatten festgestellt, dass etwa die Hälfte der Kügelchen über die Blutbahn bis in den Tumor gelangt. Um die Therapie zu optimieren, wollten sie mehr über die Kunststoffpartikel erfahren: wo genau sich das Holmium in ihnen befindet und wie sie transportiert werden.

Von ihren Messergebnissen an den Partikeln waren die Max-Planck-Forscher zunächst irritiert. Die beobachteten Streuphänomene ließen sich durch die Oberflächen der Kunststoffkügelchen nicht erklären. Stattdessen deutete alles darauf hin, dass die Kunststoffmoleküle innerhalb der Kügelchen kristalline Bereiche bilden. Und in diesen Bereichen befindet sich auch das Holmium, aber in einer so stabilen Konfiguration, dass es auch nach einem stundenlangen Aktivierungsprozess nicht anfängt zu strahlen. Eine wichtige Erkenntnis für das Design künftiger Medikation, findet Sylvie Roke. „Es ist doch sehr befriedigend, wenn man etwas Grundlegendes herausfindet, das auch sehr nützlich ist, nicht wahr?“ Mittlerweile werden die Holmium-Partikel in klinischen Studien erprobt.

Zurzeit ist Sylvie Roke nicht mehr so oft im Labor zu finden. Sie schreibt an Veröffentlichungen und kümmert sich um die Zukunft. Darum, ihre Ideen und Ergebnisse auch in Vorträgen weiter publik zu machen. Denn noch ist ihre Gruppe weltweit die einzige, die sich auf diese Weise mit den Partikeloberflächen befasst. Und man trifft ja nicht alle, die das interessieren könnte, zufällig im Fahrstuhl.

Und die private Zukunft? Kinder sind jedenfalls nicht geplant, da ist sich Sylvie Roke mit ihrem Partner einig. „Ich bin gerne Tante und skype viel mit meinen Nichten. Aber Kinder brauchen eine Menge Energie, das sehe ich bei meiner Schwester. Was ich tue, macht mir großen Spaß. Eine solche Chance haben nicht viele, und ich denke, ich sollte sie auch nutzen.“

Arbeit für zwanzig Jahre

Das nächste große Projekt hat jedenfalls schon begonnen: Für die Erforschung der Emulsionen hat sie 2009 einen der begehrten, mit 1,3 Millionen Euro dotierten ERC-Grants aus der EU-Forschungsförderung bekommen. Damit ist ihre Arbeit vorerst bis 2014 gesichert. Um die längerfristige Zukunft sorgt sich Sylvie Roke nicht: „Es war ein gewisses Risiko, hier mit meiner Idee zu starten.“ Aber jetzt, da die Methode läuft, können sie und ihre Mitarbeiter die kleinsten Strukturen von weicher Materie untersuchen und die Prozesse zeitlich sehr genau auflösen und so dazu beitragen, Materialien mit neuen Eigenschaften zu entwickeln. „Da gibt es so viele Fragen zu beantworten, dass wir damit sicher für die nächsten zwanzig Jahre beschäftigt sind. Dafür bietet die Max-Planck-Gesellschaft ideale Bedingungen.“

 

Glossar

Weiche Materie

ist weder eindeutig fest noch flüssig. Sie kennzeichnet, dass kleine Temperaturänderungen in der Umgebung eines Systems große Veränderungen im System selbst hervorrufen. Zum Beispiel Milch: Ohne Kühlschrank wird sie schnell sauer. In festen Stoffen hat die damit verbundene Temperaturerhöhung keine derartigen Auswirkungen.

Kolloide

Teilchen oder Tröpfchen, die fein verteilt in einem anderen Medium, etwa einer Flüssigkeit, schweben.

Nicht-lineare Schwingungs-Spektroskopie

Wird anders als lineare Spektroskopie nicht mit einem, sondern mit zwei eingestrahlten Lasern betrieben. Der erste regt ein Molekül zum Schwingen an. Abhängig von ihrer Struktur sprechen die Moleküle dabei auf unterschiedliche Frequenzen an. Der zweite Laser regt das Molekül dazu an, selbst ein Photon zu emittieren. Diese Methode funktioniert nur bei Molekülen in einer asymmetrischen Umgebung, also etwa an Oberflächen.

Lichtstreuung

Licht, das aus einer Richtung auf ein Teilchen trifft, wird in unterschiedliche Richtungen gestreut. Denn das einfallende Licht verwandelt das Teilchen vorübergehend in einen elektrischen Dipol, der schwingt und dabei Licht abgibt. Die Richtung des gestreuten Lichtes hängt von der Größe und Form der Teilchen ab. 

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