Die Macht des Makellosen

Von der Renaissance bis zur KI-Ära: Hana Gründler erforscht, wie Schönheitsideale gesellschaftliche Normen und Vorurteile widerspiegeln

Auf den Punkt gebracht

  • Die Kategorie „Schönheit“ war noch nie neutral. In der Renaissance galt sie als Ausdruck des Wahren und Guten. Auch totalitäre Systeme griffen auf normierte Körperbilder zurück, um Macht zu inszenieren und Abweichungen zu unterdrücken.
  • Die Kunst hat sich immer wieder mit diesen Normen auseinandergesetzt und Gegenentwürfe geschaffen – von Donatellos Maria Magdalena bis zu subversiven Filmen in Osteuropa.
  • Heute verstärken KI-Systeme stereotype Ideale und gesellschaftliche Normen. Schönheit bleibt damit eine kulturell und politisch hoch aufgeladene Kategorie.
  • Wie Schönheitsideale von der Renaissance bis zur KI-Ära gesellschaftliche Normen und Vorurteile widerspiegeln, das untersucht Hana Gründler mit ihrer Forschungsgruppe am Kunsthistorischen Institut in Florenz.

Text: Tanja Beuthien

Es geht um Schönheit. Und um Politik. Es geht um das Abbild einer schönen Frau. Und um Gene. Es geht um Macht: Das Porträt der Eleonora von Toledo mit ihrem Sohn Giovanni, entstanden um 1545, gemalt von Agnolo Bronzino, zeigt die Gattin von Cosimo I. de’ Medici, des Herzogs von Florenz, mit perfektem Teint, in prunkvoller Kleidung und prächtigem Schmuck. Bronzino kannte die Schönheitstraktate seiner Zeit. Die Gespräche über die Schönheit der Frauen des Dichters Agnolo Firenzuola etwa, der die Farbe der Stirn (weiß), der Lippen (rot), der Ohren (rosig) und Wangen (strahlend) bis ins Detail festlegte. In dieser Hinsicht repräsentiert Eleonora von Toledo eine westliche Idealverkörperung der Weiblichkeit – bis hin zu ihrem überlängten Hals. Doch damit nicht genug. Firenzuola nämlich bezog sich mit seiner Schönheitslehre unter anderem auf Marsilio Ficino, einen italienischen Philosophen, Übersetzer und Humanisten, der im 15. Jahrhundert im allgemeinen Wesen der Schönheit das Göttliche erkannte. Er legte dabei dar, wie sich innere Schönheit im äußeren Erscheinungsbild widerspiegelt – und bezog sich damit unter anderem auf christliche Tugenden und die Schönheitskonzeptionen Platons, der in äußerer Harmonie einen Widerschein der seelischen Haltung erkennt. Die Herzogin ist also für ihre Zeitgenossen nicht nur eine attraktive Frau, sondern verkörpert mit ihrem Aussehen für alle sichtbar auch das Wahre und Gute. Den Arm um ihren kleinen Sohn gelegt, repräsentiert sie zudem den Erhalt der Dynastie. Also die Macht.

„In Bronzinos Porträt wird die ästhetische Kategorie der Schönheit zu einer moralischen“, sagt Hana Gründler. „Und damit ist sie letztlich auch politisch.“ Als Wissenschaftlerin am Kunsthistorischen Institut (MPI) in Florenz erforscht Gründler mit ihrem Team das Verhältnis von Kunst, Visualität und Ethik. „Etho-Ästhetiken des Visuellen“ nennt sich ihre Forschungsgruppe, die sich mit der Kunst und Philosophie der Renaissance genauso auseinandersetzt wie mit den manipulativen Bildwelten autoritärer Staaten und ihren künstlerischen Gegenentwürfen in Osteuropa – bis hin zu KI-Ästhetiken in der Gegenwart und den daraus resultierenden ethischen Problemen. „Auch wenn Schönheit erst mal eine subjektive Empfindung sein mag, ist sie doch stets historisch und kulturell bedingt. In diesem Sinne spielen (Kunst-)Objekte und gebaute Umwelt eben nicht nur eine maßgebliche Rolle für die ästhetische Wahrnehmung und Sensibilisierung des Einzelnen“, so Gründler. „Sie wirken stets bei der ethischen und politischen Konstituierung der Gesellschaft mit.“ In dieser Hinsicht ist auch die Frage wichtig, ob und wie Schönheit und soziale Normen als Propaganda missbraucht werden. Und für Diskriminierung und gesellschaftliche Ungerechtigkeit sorgen.

Die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten und Wahren

Die Abhandlung De Amore des Philosophen Marsilio Ficino besitzt das KHI in Florenz in einer um 1475 entstandenen Handschrift auf Papier, Hana Gründler hat kürzlich erst damit gearbeitet. „Ficinos Liebestheorie besagt, dass die Schönheit die Idee ist, die am stärksten ausstrahlt. Davon werden wir angezogen, deswegen verlieben wir uns.“ Damit werden die menschliche Wahrnehmung und die Ästhetik aufgewertet. „Zugleich“, so Gründler, „gibt es eine Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten und Wahren, was normative Implikationen besitzt: Diejenigen, die nicht diesen Idealen entsprechen, werden moralisch und intellektuell abgewertet.“ Als weiteres Beispiel nennt die Bildwissenschaftlerin den moralischen Dialog des Kunsttheoretikers und Humanisten Leon Battista Alberti (1404-1472) Über die Seelenruhe oder vom Vermeiden des Leidens in drei Büchern, den sie vor drei Jahren mit Katharine Stahlbuhk und weiteren Mitgliedern ihrer Forschungsgruppe herausgegeben und kommentiert hat. Auch in diesem Text, entstanden um 1445, geht es um die ethische Dimension des Ästhetischen: Drei Freunde, der betagte Humanist Agnolo Pandolfini, der etwa 60-jährige Niccola, ein Spross der Bankiersfamilie de’ Medici, und das Alter Ego des Autors machen sich auf zu einem Spaziergang durch Florenz. Die Harmonie des gerade fertiggestellten Domes, das wohlgeordnete Stadtbild, die lieblich-sanfte toskanische Landschaft erbauen ihre Seelen. „Man kann Alberti so lesen, dass sich die Schönheit und Wohlstrukturiertheit des Stadtraumes auch auf den Einzelnen und die Gesellschaft auswirken – Ästhetik und Ethik bedingen sich hier wechselseitig und bestimmen das Politische mit, so Gründler. Die Säulenordnung im Dom etwa, wird ihm zu einem Sinnbild der Gemeinschaft: Genauso wie die Säule das Gebälk stützt, trägt der Einzelne durch seine „aufrechte“ Haltung die Gesellschaft. Die Schmutzigen und Verwahrlosten, die Bettler und Armen, die ebenfalls den öffentlichen Raum, die Straßen, Hospitäler und Vorhallen der Kirche bevölkern, werden von Alberti bewusst als negatives Gegenbeispiel zu idealisierten Körper- und Stadtbildern eingesetzt.

Doch auch zu Albertis Zeiten gab es künstlerische Gegenentwürfe zur stark idealisierten Schönheit. Die Skulptur Maria Magdalena des Bildhauers Donatello etwa. Er zeigt die schöne Maria Magdalena hier als abgemagerte Büßerin: mit eingefallenem Gesicht, zahnlos, asketisch, mit einem einzigartigen, intensiven Blick. „Der Anblick solch ausgemergelter Körper war den Zeitgenossen Albertis und Donatellos wahrscheinlich nicht fremd. Doch die Holzstatue bricht aufgrund ihrer extremen Darstellung mit den Konventionen.“ Ein zu ungeschöntes, zu realistisches Kunstwerk wurde als nicht angemessen betrachtet. „Zugleich aber führt sie dem Betrachter die theologische Komplexität der Heiligen – als tragende Säule des christlichen Glaubens und als Figur zwischen Sünde und Gnade, Erotik und Askese – vor Augen“, sagt Katharine Stahlbuhk, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Gründlers Team, die aktuell zur Maria Magdalena forscht. „Der Maler und Kunsttheoretiker Giorgio Vasari, der im 16. Jahrhundert für seine Künstlerviten bekannt wurde, beschrieb die Plastik von Donatello bezeichnenderweise als ,molto bella‘, sehr schön, und zwar gerade aufgrund der vortrefflichen Darstellung ihrer Enthaltsamkeit und ihres Fastens.“

So wird die Kategorie Schönheit instrumentalisiert

Was also ist Schönheit? Ist es die Harmonie, die Ausgewogenheit und Symmetrie, auf die sich schon der antike Philosoph Platon bezieht? Und dessen Theorien des Schönen und der Liebe die Philosophen und Kunsttheoretiker der Renaissance wie Ficino und Alberti beeinflussten? Oder ist es der Realismus des Bildhauers Donatello, der die Betrachter und Betrachterinnen die reine Seele der Maria Magdalena nachvollziehen lässt? Wann und zu welchen Gelegenheiten in der Geschichte wird der Begriff der Schönheit normiert, idealisiert und als politisches Element gebraucht – oder missbraucht?

Machthaber totalitärer Staaten – wie Hitler im Nationalsozialistischen Deutschland oder Stalin in der Sowjetunion – generierten schon immer einen einheitlichen Schönheitsbegriff. Der perfekte, gestählte Körper stand im Zentrum der visuellen Propaganda und wurde etwa von Leni Riefenstahl in ihren Filmen wie Olympia von 1936 in Szene gesetzt oder von Arno Breker modelliert. Die Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin, die Wera Muchina 1937 für den Pavillon der Sowjetunion zur Weltausstellung in Paris schuf, zeigt ein ähnlich heroisiertes Menschenbild. Darüber hinaus prägten die Nationalsozialisten den Begriff der „Entarteten Kunst“ für alles, was diesem Ideal der Schönheit und der Ästhetik widersprach. „Das ist ein Totalitarismus des perfekten, des unangreifbaren, militarisierten Körpers“, so Hana Gründler. „Schwäche, Sensibilität, Krankheit, vermeintliche Andersartigkeit, all das wird eliminiert aus dieser Bildwelt, die ja auch eine Gedankenwelt, eine Ideologie ist. Es geht um Formen von Unterwerfung des Individuellen unter das ästhetisierte, kollektive, staatlich normierte Körperbild. Letztlich ist es stets auch die Ausblendung dessen, was nicht akzeptierter Teil der Gesellschaft ist.“ Zu sehen etwa in den „Spartakiaden“, den staatlich inszenierten Großsportereignissen, die von der Sowjetunion gefördert wurden und ab 1955 auch in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) stattfanden.

Körper, Kunst, Kritik

„Gegen diese propagandistische Normierung und Ideologisierung des Körpers wehrten sich viele Body-Art-Künstler in den 1970er- und 1980er-Jahren in Osteuropa“, so Gründler. Etwa der tschechische Künstler Petr Štembera, der sich im Juni 1980 in einer radikalen, das Publikum miteinbeziehenden Performance direkt auf die Spartakiade bezog. Und der den eigenen Körper bis an die äußersten Grenzen brachte. 1974 experimentierte er in seiner Performance Narcissus mit Schlaf– und Nahrungsentzug und verletzte sich selbst. „Natürlich geht es hier nicht um Schönheit, es geht darum, den eigenen Körper und die Kunst als Instrument der Kritik an ihre eigenen Grenzen zu bringen. Und gegen idealisierte Körpervorstellungen zu revoltieren.“

Das tat auch die tschechische Filmregisseurin Věra Chytilová. In ihrem Film Tausendschönchen von 1966 zeigt sie zwei Frauen, die sie Marie 1 und Marie 2 nennt und die gegen die Weiblichkeitsideale und die gesellschaftliche Normierung des Sozialismus aufbegehren. Sie essen die ganze Zeit, stopfen mit beiden Händen Speisen in sich hinein, steigen mitten ins Buffet, fackeln das Zimmer ab, degradieren die Männer zum Pin-up. „Ein unglaublich disruptiver Akt“, sagt Gründler „Der Film war Teil der Tschechoslowakischen Neuen Welle, in der viele avantgardistische Filme entstanden, und hatte von vornherein einen schwierigen Stand, da er als antisozialistisch beschimpft wurde. 1968, als die Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR einmarschierten, wurde er vom Regime natürlich verboten.“ Dennoch zirkulierte der Streifen weiter im Untergrund. „Aus heutiger Perspektive ist der Film geradezu ein feministisches Manifest.“ Aber er endet bitter. Am Schluss werden die beiden maßlosen, exzessiven Frauen wieder verschnürt und eingepackt, sie werden normiert und für die Gesellschaft passend gemacht.

„Die beiden Maries feiern in Tausendschönchen die Freiheit, die Abweichung, das Empowerment des eigenen Körpers. Und auch die Kraft, über die eigenen Bilder des Körpers bestimmen zu können“, so Gründler, die ein Buch zu den „Ästhetiken der Freiheit“ in der Subkultur der ČSSR schreibt. Doch wie steht es heute um die Selbstbestimmung? Um die Disruption und die Andersartigkeit? In Zeiten, in denen das heroisch-muskulöse Soldatenbild nicht nur in Putins Russland wieder populär ist? In denen das Weiße Haus eine Liste aller unliebsamen Werke in den Smithsonian-Museen veröffentlicht, die es eliminieren möchte? Darunter Trans Forming Liberty, ein Gemälde der Malerin Amy Sherald mit dem Porträt von trans Model und Performance-Künstlerin Arewà Basit. Wird es überhaupt noch Abweichungen geben, jetzt wo die KI-basierten Bildgenerierungstools aus Milliarden von Trainingsdaten Schönheitsideale herausfiltern, um ein scheinbar perfektes Model zu generieren?

„Die Macht der Bilder ist enorm. Immer mehr Menschen versuchen, ihren eigenen Körper gemäß ihres simulierten Idealbilds zu formen.“
Hana Gründler

KI reproduziert und verstärkt westliche Schönheitsnormen

„Als Bildwissenschaftlerin denkt man hier sofort an die berühmte antike Legende über den Maler Zeuxis, der aus fünf Jungfrauen, die für ihn posierten, die eine, die schönste aller Frauen, nämlich Helena, erschuf“, so Gründler. „Von jeder übernahm er eine andere Ansicht, einen anderen Körperteil. Das spiegelt die Vorstellung, dass Schönheit aus einer Vielzahl von Körpern selektiert werden kann. Bezeichnenderweise von einem Mann.“ Ähnliches generieren heute auch die KI-Bildtools, wenn sie hyperrealistische, sexy Influencerinnen hervorbringen, Models mit langen Haaren und großen Brüsten, die auf Instagram werben. Oder die man sich mit der App AI Beauty gleich selbst erschaffen kann. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Rafael Uriarte, Leiter des Digital Humanities Lab am KHI, hat Gründler im April 2024 einen Workshop veranstaltet, in dem auch darüber diskutiert wurde, wie KI-Systeme westliche Schönheitsnormen reproduzieren und verstärken. „Dabei sollte man auch die Frage nicht aus den Augen verlieren, wer eigentlich die KI-Szene dominiert“, so Gründler. Nach einer Untersuchung der UN-Kulturorganisation Unesco im Jahr 2023 waren weltweit nur etwa zwölf Prozent der KI-Forscherinnen weiblich.

„Ganz abgesehen von diesem stark normierten und auch stark männlich geprägten Blick und der Nivellierung weiblicher Körperbilder, ist bekannt, wie sehr insbesondere junge Frauen durch KI generierte Bilder beeinflusst werden. Die Macht der Bilder ist enorm. Immer mehr versuchen, ihren eigenen Körper gemäß ihres simulierten Idealbilds – auch operativ – zu formen“, so Gründler. Weiter kann man sich von der utopischen, hemmungslosen Vision der „Tausendschönchen“, von den asketischen Idealen eines Donatello oder eines Petr Štembera nicht entfernen.

Auch heute geht es also, wie schon zu Bronzinos Zeiten beim Abbild einer schönen Frau immer um Politik. Und zuweilen auch um die richtigen Gene – wie der Fall der äußerst prominenten amerikanischen Schauspielerin Sydney Sweeney zeigt, die kürzlich für eine Werbekampagne posierte. „Sydney Sweeney has great Jeans“, hieß der Slogan, der mit dem gleichlautenden Worten „jeans“ und „genes“, Jeans und Gene spielte. In einem Zusatz plapperte die blauäugige, blonde und weiße Sweeney von Vererbung der Augen- und Haarfarbe. Das würde an rassistische Stereotype erinnern, hieß es in den sozialen Medien aus dem eher linken Spektrum – da würde eine gut aussehende Amerikanerin von Woken fertiggemacht, konterte kurz darauf der rechte Rand. Da blieb Trump nur noch, die „HEISSESTE Werbung“ der Schauspielerin zu loben, die zudem als Wählerin bei den Republikanern registriert ist. Die Aktie der Jeansmarke stieg im Rekordtempo nach oben – der neue Film von Sweeney floppte.  „Schönheit hat immer mit Körperpolitik und Macht zu tun“, sagt Hana Gründler. „Sie ist seit jeher kulturell und historisch bedingt, und sie ist somit auch normativ, ideologisch und politisch besetzt. Sie ist eine problematische Kategorie im 20. und auch im 21. Jahrhundert – wie es dieses Beispiel zeigt. Und sie war es schon immer.“

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht