Opfer-Datenbank geht online
Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten“
Es ist die weltweit erste Online-Datenbank, die Opfer unethischer medizinischer Forschung im Nationalsozialismus systematisch erfasst und ihre Schicksale für Forschung und Recherchen dokumentiert. Sie wurde im Rahmen des von der Max-Planck-Gesellschaft geförderten Verbundprojekts „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten“ aufgebaut und am 18. August 2025 im Rahmen eines gemeinsamen Pressegesprächs von Max-Planck-Gesellschaft und Leopoldina vorgestellt. Die Datenbank erinnert an Menschen, die für medizinische Experimente missbraucht wurden, Opfer der NS-Euthanasieverbrechen wurden, sowie an zivile und militärische NS-Opfergruppen.
Das Pressegespräch fand am 86. Jahrestag des Beginns der systematischen Ermordung behinderter und kranker Menschen im nationalsozialistischen Deutschland statt. Mit dem Runderlass zur Erfassung von Menschen in Heil- und Pflegeanstalten begann 1939 die sogenannte „Euthanasie“, der im deutschen Machtbereich rund 260.000 Menschen zum Opfer fielen. Auch Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG)– Vorläuferin der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) – waren an diesen Verbrechen beteiligt, denn Gehirne von Ermordeten wurden von der Forschung bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg missbraucht.
MPG-Präsident Patrick Cramer betonte angesichts dieser Vergangenheit: „Die Geschichte zeigt uns, wozu Menschen fähig sein können, wenn ein autokratischer Staat ein geltendes humanitäres Wertesystem zugunsten von Rasseideologie und Fanatismus negiert. Auch die Wissenschaft muss sich daran erinnern und auf die ethischen Leitlinien besinnen; heutige hochspezialisierte Wissenschaft darf den Menschen nicht aus dem Blick verlieren. Das gilt insbesondere für die MPG mit ihrer langen Geschichte in der KWG.“
Namen und Schicksale
Die Datenbank gibt den Opfern ihre Identität und einen Teil ihrer Würde zurück, indem sie persönliche Schicksale rekonstruiert und die Menschen benennt. „Die Datenbank ist eine Ressource für Ethik und Geschichte, die die Zeit überdauern wird“, sagte Paul Weindling von der Oxford Brookes University, der mit seiner Forschung vor rund 20 Jahren begann die Grundlage des Projekts zu legen. Aktuell enthält die Datenbank Informationen zu 30.250 Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus im medizinischen Kontext wurden. Sie wurden für unethische medizinische Menschenversuche missbraucht, im Zug der NS-„Euthanasie“ systematisch ermordet, oder fielen der NS-Justiz und deutschen Kriegsverbrechen zum Opfer. Unter den Namen sind auch jene von rund 5.000 jüdischen Opfern.
Die Datenbank dokumentiert Daten zu Leben, Krankengeschichte und zum Missbrauch in medizinischen Experimenten, wo möglich verzeichnet sie überlieferte Selbstzeugnisse und gibt weiterführende Informationen für die Recherche zu Quellen, Ereignissen sowie unethischen Forschungsprojekten, die mit den Personen verbundenen sind. Der Umfang der Informationen ist dabei von Fall zu Fall sehr unterschiedlich entsprechend der Quellenlage und Überlieferung und zeigt im öffentlichen Bereich deshalb nur 16.000 umfassend dokumentierbare, vollständig geklärte Fälle. Die Datenbank ist damit eine Grundlage für künftige Studien und für private Recherchen.
Digitaler Gedenkort
Als zentrales Namensverzeichnis ist die Datenbank auch ein digitaler Gedenkort für die Öffentlichkeit und für Betroffene. Denn sie bietet Angehörigen die Möglichkeit, gezielt nach Familienmitgliedern zu suchen. Zugriff zu sensiblen Daten zur Kranken- und Verfolgungsgeschichte erhalten allerdings nur Angehörige auf Anfrage oder Forschende. Wer für Wissenschaft oder Recherchezwecke umfassende Einsicht in alle hinterlegten Daten erhalten möchte, kann über ein Kontaktformular auf der Website Victims of Biomedical Research under National Socialism einen Zugang beantragen und zu allen 30.250 Personen recherchieren. Angehörige können auf Antrag den gesamten Datensatz ihres Familienmitglieds einsehen.
Als digitaler Gedenkort stellt die öffentlich sichtbare Nutzeroberfläche auch ausgewählte Personen und ihre Einzelschicksale mit Bildern und Texten vor, um so stellvertretend für alle Betroffenen zu erinnern. Eine interaktive Karte gibt Aufschluss über das Ausmaß und die geografische Verteilung der Verbrechen.
Erste Datenbank zu Opfern unethischer medizinischer Forschung im Nationalsozialismus
Die Datenbank ist die erste Online-Ressource weltweit, die umfassend die Opfer unethischer medizinischer Forschung im Nationalsozialismus verzeichnet. Sie stützt sich auf die umfangreichen langjährigen Forschungen von Paul Weindling an der Oxford Brookes University zu diesem Thema. Seit 2017 wurde die Datenbank an der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften technisch realisiert und von der Max-Planck-Gesellschaft finanziert als Teil des Forschungsprojekts „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten“.
Zwischen 1933 und 1945 sammelten Forschende der Kaiser-Wilhelm-Institute für Hirnforschung und für Psychiatrie – heute Max-Planck-Institute – Hirngewebeproben aus Kontexten von NS-Verbrechen Viele dieser Proben wurden noch lange nach 1945 für Forschung und Lehre verwendet, auch weil die beteiligten Wissenschaftler ihre Karrieren nach Ende des Nationalsozialismus bruchlos in der Max-Planck-Gesellschaft fortsetzen konnten.
Erste Ergebnisse des Opferforschungsprojekts „Hirnforschung an Instituten der KWG“
Die Entdeckung solcher Präparate 2015 war Anstoß für das umfassende Forschungsprojekt „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten“, dessen erstes Teilergebnis die Datenbank darstellt.
Paul Weindling hat im Rahmen dieses Projekts mit seiner Gruppe die Herkunft von Präparaten geklärt, die von 314 Menschen außerhalb der „Euthanasie“-Opfergruppe stammen. Dazu gehören beispielsweise Kriegsgefangene, Zivilisten aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, Zwangsarbeiter und Verurteilten der NS-Justiz. Darunter sind auch Opfer aus Polen, mit denen Weindling eine bislang kaum bekannte Gruppe mit großer Relevanz erforschte.
Die beiden anderen Gruppen des Forschungsprojekts unter Leitung von Herwig Czech, Medizinische Universität Wien, und Philipp Rauh, TU München, sowie Volker Roelcke, Universität Gießen, untersuchten Opfer der „Euthanasie“. Von mindestens 1.350 Menschen eigneten sich Wissenschaftler des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin und des Hirnpathologischen Instituts des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München Gehirne und Gewebeproben an und fügten sie in ihre wissenschaftlichen Sammlungen ein. Dazu kommen noch mehrere hundert Gehirnentnahmen, die nicht direkt in die Sammlungen eingingen. Ein Zwischenergebnis dieser Forschung ist die Erkenntnis, dass die Zahl der betroffenen Menschen, deren Gehirne auf diese Weise für die Forschung missbraucht wurden, wesentlich höher ist als bisher bekannt. Ungefähr die Hälfte der „Euthanasie“-Opfer waren Kinder bis 10 Jahre.












