Klimaschutz per Gerichtsentscheid

IGH-Gutachten sieht Staaten in der Pflicht, mehr Einsatz in der Klimakrise zu zeigen. Welche Klimaklagen bislang Erfolg hatten - und welche nicht

Für den Internationalen Gerichtshof (IGH) ist eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt ein Menschenrecht. Wie er in seinem Gutachten klarstellte, müssen Staaten mehr Einsatz in der Klimakrise zeigen. Immer mehr Gerichte setzen den Rahmen für Maßnahmen gegen den Klimawandel: Welche Klimaklagen Erfolg hatten - und welche nicht, zeigt diese Übersicht.

Text: Nina Schick

140 Seiten zählt das Rechtsgutachten, das der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag am 23. Juli 2025 verkündete. Mehr als eineinhalb Stunden verlas der Vorsitzende Richter die tragenden Argumente, welchen Einsatz Staaten im Umgang mit der Klimakrise zeigen müssen. Für das Gericht stelle der Klimawandel eine „universelle und ernstzunehmende Bedrohung“ für die Weltgemeinschaft dar, das Gericht sieht Staaten in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um zur Verringerung der Treibhausgasemissionen und zur Anpassung an den Klimawandel beizutragen. Eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt zähle als Menschenrecht.

Initiiert hatten das Gutachten eine Studentengruppe des Inselstaats Vanuatu, dessen Staatsgebiet aus mehr als 70 Inseln bei fortschreitender Erderwärmung und steigendem Meeresspiegel zu versinken droht. Das Verfahren vor dem IGH zählt zu den größten in seiner Geschichte. Im Rahmen der vorangegangenen zweiwöchigen Anhörung Mitte Dezember 2024 konnten 96 Staaten und 11 internationale Organisationen ihre Argumente für und gegen Verpflichtungen der Staaten zum Klimaschutz vorgetragen. Die genaue Auswertung des klar strukturierten Gutachtens wird Rechtsexpertinnen und -experten einige Zeit beschäftigten. Die Argumentation wird laufende Verfahren weltweit prägen, die international seit mehreren Jahren „Climate Change Litigation“ genannt werden.

Klimaklagen weltweit

„Climate Change Litigation“ oder auch nur kurz „Climate Litigation“ steht für Gerichtsverfahren, die im Zusammenhang mit Klimaschutz stehen. Im Deutschen hat sich der Begriff „Klimaklagen“ etabliert. Der Name klingt griffig, allerdings verbergen sich dahinter sehr unterschiedliche Verfahren mit unterschiedlichen Zielen, Rechtsgrundlagen und Konstellationen.

Jedes Urteil, jeder Beschluss und jedes Gutachten offenbart Argumente, die angesichts zunehmender Extremwetterereignisse für Staatengemeinschaften, Staaten, Unternehmen und Bevölkerung bedeutsam sind – auch wenn die Richter, wie vor kurzem im Verfahren eines peruanischen Bauern gegen den Energiekonzern RWE, die Klage abweisen. Klimajuristinnen und -juristen finden und sammeln diese Informationen wie Mosaiksteine und setzen Verantwortlichkeiten im Klimawandel wie ein Bild zusammen. Jannika Jahn, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg weiß, es gibt kein einfaches „So ist es“ in Klimaverfahren. Zu unterschiedlich sind die Vorschriften und auch die Ideen, wie man mit rechtlichen Mitteln für Maßnahmen gegen die Erderwärmung kämpfen kann.

Gerichte als Klimaschützer

„Klimaklagen können zivilrechtlicher Natur sein, wenn sie sich beispielsweise gegen Unternehmen richten. Sie können im öffentlichen Recht angesiedelt sein, wenn Einzelpersonen oder Verbände den Staat in die Verantwortung nehmen wollen“, erklärt Jahn. Sie beobachtet die internationale Klimarechtsprechung seit mehreren Jahren in ihrer Forschungsarbeit. Dabei unterscheiden sich Klagen auch hinsichtlich der Beteiligten. Man gruppiert die Klagen in „horizontale Klagen“ einerseits, wenn sich die Parteien auf gleicher Ebene begegnen. Das ist bei zivilgerichtlichen Klagen der Fall, aber auch im Völkerrecht, wenn Staaten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) anstrengen. Auf der anderen Seite stehen „vertikale Klagen“, wenn Einzelpersonen oder Initiativen den Staat oder Staaten zu mehr Klimaschutz verpflichten wollen.

Welche Entscheidungen viel Klarheit bringen, zeigt dieser Überblick:

Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021 – Verantwortung für die Zukunft

Zu den wichtigsten Entscheidungen zählt der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021. Am 24. März 2021 erkannte das Bundesverfassungsgericht an, dass Klimaschutz Verfassungsrang hat. Das Gericht erklärte das deutsche Klimaschutzgesetz von 2019 in Teilen für verfassungswidrig. Dem Gesetz fehlten konkrete CO2-Einsparziele für den Zeitraum von 2030 bis 2050. Das beeinträchtige die Freiheitsrechte junger Menschen und nachfolgender Generationen. Das Gericht verwendete dafür den Begriff „intertemporale Freiheitsrechte“ – es stellte in der Gegenwart eine Rechtsverletzung fest, weil Freiheitsrechte in der Zukunft betroffen sein werden.

„Der Beschluss markiert einen Meilenstein im Verfassungsrecht und hat der Klimaschutzbewegung Auftrieb gegeben“, sagt Jannika Jahn. Gerade mit der „Temporalisierung der Verfassung“ – das Einbeziehen der Zukunft in die Betrachtung der Freiheitsrechte – habe das Gericht eine weitreichende Entscheidung getroffen. Doch die Grenzen der neuen Rechtsauffassung zeigten sich schnell: Eine darauffolgende Verfassungsbeschwerde, die die Einführung eines allgemeinen Tempolimits forderte, wurde nicht einmal zur Entscheidung angenommen.

Urgenda Niederlande 2019 – die Blaupause

Vorbild für viele Klimaklagen ist die Entscheidung des höchsten Gerichts der Niederlande im Jahr 2019 über eine Klage der NGO Urgenda gegen die niederländische Regierung. Der Name setzt sich zusammen aus dem niederländischen Wort „urgente“ für dringend und Agenda. Mit der schon 2013 eingereichten Klage verlangte die Stiftung von der niederländischen Regierung eine stärkere Reduzierung der Emissionen, um wirksameren Klimaschutz zu betreiben und gewann in allen Instanzen. Das Gericht verpflichtete die Regierung zu einer stärkeren Reduktion von Treibhausgas-Emissionen. Zu den Maßnahmen der Regierung zählte unter anderen ein verschärftes Tempolimit von tagsüber 100 statt 130 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen.

„Der ‚Urgenda’-Fall ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Klimaklage, die zu politischen Veränderungen und konkreten Maßnahmen geführt hat“, erläutert Jahn. Allerdings steht die Urgenda-Entscheidung damit recht allein unter den Klimaklagen. „Grundsätzlich sind Klimaklagen nicht das geeignete Instrument, um Politik zu gestalten. Die Justiz ist dazu da, den Rahmen vorzugeben.“

People’s Climate Case 2021 – schlechte Chancen im Europarecht

Ein schwedischer Jugendverband und zehn Familien aus fünf EU-Ländern sowie aus Kenia und Fidschi klagten 2018 gegen das Europäische Parlament und den EU-Ministerrat auf eine effizientere Klimaschutzpolitik. Ziel war es, die EU-Klimaschutzregeln für nichtig erklären zu lassen (Nichtigkeitsklage). Das Gericht der Europäischen Union (EuG) wies die Klage 2019 als unzulässig ab, ebenso in zweiter Instanz der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2021. Den Klagenden fehle es an der Klagebefugnis, sie seien nicht mehr als andere betroffen – ein Unterschied im Europarecht zur deutschen Verfassungsbeschwerde, die keine besondere, gegenüber anderen erhöhte Betroffenheit voraussetzt. Auch der Klimawandel rechtfertige nicht, das Kriterium der individuellen Betroffenheit weiter auszulegen als bisher, so der EuGH.

Der Fall machte deutlich: Klimaklagen haben im Europarecht einen schweren Stand. Ein Äquivalent zur deutschen Verfassungsbeschwerde gibt es im EU-Recht nicht. Für die Nichtigkeitsklage, wie im People’ s Climate Case, gelten sehr hohe Zulässigkeitsvoraussetzungen. „Damit bietet das Europarecht für strategische Klagen zum Klimaschutz weniger Möglichkeiten“, sagt Jahn. Dabei wäre es ein mächtiges Instrument: Das Gemeinschaftsrecht hätte direkte Durchgriffswirkung auf das nationale Recht – anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der auf völkerrechtlicher Grundlage steht.

Schweizer Klimaseniorinnen 2024 – fehlender Klimaschutz verletzt Menschenrechte

Am 9. April 2024 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg dem Schweizer Verein Klimaseniorinnen Recht. Die Klimapolitik der Schweiz schütze die vom Klimawandel besonders gefährdeten älteren Frauen nicht ausreichend und verletze sie damit in ihrem in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Recht auf Privatleben. Entscheidender Kniff des Falles: Die Klimaseniorinnen hatten sich als Verein organisiert. Denn nur diesem sprach der EGMR die „Opfereigenschaft“ zu. Angesichts der Besonderheit des Klimawandels betonte der Gerichtshof die Notwendigkeit eines Verbandsklagerechts und schärfte die Kriterien dafür: Dazu gehört der Verbandszweck, die Menschenrechte der Mitglieder zu verteidigen, und der Nachweis, dass die Vereinigung als qualifiziert und repräsentativ angesehen werden können, um die Mitglieder zu vertreten. Als ausdrücklich nicht notwendig erklärte der EGMR den Nachweis, dass die vom Verband vertretenen Personen die Voraussetzung der Opfereigenschaft selbst erfüllen. Die Beschwerden von vier Einzelklägerinnen wies der Gerichtshof dagegen ab – sie hätten ihre besondere Betroffenheit nachweisen müssen.

Klimarechtsexpertin Jahn sieht darin nichts Ungewohntes: „Verbandsklagen haben im Umweltrecht schon immer eine große Bedeutung. Das zeigen viele Verfahren, die in Deutschland beispielsweise von Greenpeace und der Deutschen Umwelthilfe angestrengt wurden.“ Beide Verbände sind weiterhin laufend mit Klimaklagen aktiv. Auch in der Schweiz deutet vieles auf weitere juristische Auseinandersetzungen hin. Derzeit hat die Schweiz die Anforderungen zur Umsetzung des Urteils noch nicht erfüllt.

Duarte Agostinho und portugiesische Jugendliche 2024 – Vorrang des nationalen Rechtswegs

Ebenfalls am 9. April 2024 fällte der EGMR eine weitere viel beachtete Entscheidung in einem Klimaschutz-Fall. Er wies die Beschwerde von sechs portugiesischen Jugendlichen gegen ihr Land und 32 weitere Staaten als unzulässig zurück: Sie hätten zuerst den Rechtsweg in ihrem Heimatland durchlaufen müssen. Nach den verheerenden Waldbränden in ihrer Heimat 2017 hatten die Jugendlichen wirksamere Klimaschutzmaßnahmen von Portugal und den anderen Ländern gefordert.

Jannika Jahn: „Das war ein Verfahren mit hohen Erfolgschancen gegen das Herkunftsland der Beschwerdeführer.“ Leider sei den Klägern eine Fehleinschätzung unterlaufen. „Ich verstehe nicht, warum die Beschwerdeführer davon ausgingen, dass sie den nationalen Rechtsweg überspringen könnten.“ Der Fall zeigt gut, dass die Spielregeln streng sind: Rechtswegerschöpfung, bestimmte Klagewege, Zulässigkeitsvoraussetzungen, hinzukommen auch spärliche Möglichkeiten zur politischen Gestaltung. „Klimaschutz auf dem Gerichtsweg stößt an institutionelle Grenzen“, sagt Jahn.

Saúl Luciano Lliuya gegen RWE 2025 – Unternehmen tragen Verantwortung für den Klimawandel

Mehr als zehn Jahre lang lief das Verfahren des peruanischen Bauern Saúl Luciano Lliuya gegen den deutschen Energieriesen RWE. Am 28. Mai 2025 wies das Oberlandesgericht Hamm die Klage von Lliuya auf eine anteilige Zahlung von RWE für Schutzmaßnahmen gegen eine Flutwelle aus dem oberhalb seiner Stadt gelegenen Gletschersee ab. Die Gefährdung sei nicht konkret genug. Die NGOs, die die Klage unterstützt hatten, feierten dennoch: Das Gericht erkannte die grundsätzliche Verantwortlichkeit von Unternehmen für Klimaschäden an.

Der Fall des peruanischen Bauern ist ein Beispiel für eine „horizontale“ Klage. Lliuya ging gegen RWE zivilrechtlich vor. „Der RWE-Fall wird mit Sicherheit zu weiteren Klagen dieser Art führen – aber auch bei diesen ist zu befürchten, dass sie Jahre dauern“, vermutet Jahn. Die Beweisführung sei in diesen Fällen besonders aufwändig. Dutzende Fälle gegen Groß-Emittenten sind derzeit anhängig, ein aufsehenerregender in den Niederlanden.

Milieudefensie gegen Shell 2024 – NGO gegen Ölgigant

Die niederländische Umweltschutzorganisation Milieudefensie klagt seit 2019 gegen den Ölriesen Shell darauf, dass dieser seinen CO2-Ausstoß verringert. 2021 bekam Milieudefensie in der ersten Instanz Recht – Shell müsse seine Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 reduzieren. Das Berufungsgericht urteilte Ende 2024 jedoch anders: Es hob die Verpflichtung für Shell auf.

Anfang 2025 ging Milieudefensie in Berufung zum höchsten Gericht. Die Entscheidung steht noch aus.

„Rights of Nature“-Entscheidungen – die Natur als Rechtspersönlichkeit

Bei „Rights of Nature“ handelt es sich um ein rechtliches Konzept und eine zugehörige Bewegung, nicht um eine einzelne Entscheidung. Die juristische Theorie stammt aus dem sogenannten Globalen Süden und wird inzwischen auch im Globalen Norden diskutiert – umgekehrt zum sonst üblichen Verlauf. Grundlegender Gedanke ist, dass die Natur eigene Rechte hat, die im Rechtssystem geltend gemacht werden können. Weltweit Aufsehen erregte Ecuador, das 2008 den Schutz der Natur in seiner neuen Verfassung verankerte. 2010 verabschiedete Bolivien sein „Gesetz über die Rechte der Mutter Erde“, das die Natur in Form der „Mutter Erde“ als Wesen mit Rechten anerkennt.

In Kolumbien erklärte 2016 das Verfassungsgericht den Atrato-Fluss zur Rechtsperson. Eine eigene Organisation, in der auch Angehörige der Ufergemeinden vertreten sind, bildet zusammen mit dem kolumbianischen Umweltministerium die rechtliche Vertretung des Flusses. Weitere Gewässer und Landschaften, aber auch Tiere erhielten seitdem in Kolumbien eigene Rechte.

Die „Rights of Nature“-Idee zieht weitere Kreise: In Neuseeland wurde 2017 der Fluss Whanganui zur juristischen Person, in Indien im selben Jahr die Flüsse Ganges und Yamuna. Uganda verabschiedete 2019 ein Gesetz über die Rechte der Natur. 2022 bekam mit der Lagune Mar Menor in Spanien erstmals in Europa ein Gewässer Rechtspersönlichkeit.

Die „Rights of Nature“-Bewegung ist in Europa angekommen und fordert das gewohnte menschenzentrierte Rechtsverständnis heraus.

Internationaler Seegerichtshof 2024 – Staaten müssen Ozeane schützen

Treibhausgase landen nicht nur in der Atmosphäre, auch die Ozeane nehmen sie auf. Die Folge ist als „Versauerung der Meere“ bekannt: Der pH-Wert sinkt, Korallenriffe und andere Organismen nehmen Schaden. Die Lebensgrundlage der Menschen vor allem in kleinen Inselstaaten wird dadurch zerstört. Der durch die Erderhitzung steigende Meeresspiegel bringt zudem ganze Staaten in die Gefahr des Verschwindens. Die Klimakrise bedroht kleine Inselstaaten in besonderem Ausmaß. Neun von ihnen aus der Karibik und dem Pazifik, darunter Tuvalu, Vanuatu und die Bahamas, haben sich deshalb zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und fordern besseren Klimaschutz der großen Staaten.

In einem Gutachten stellte der Internationale Seegerichtshof in Hamburg am 21. Mai 2024 fest, dass der Treibhausgasausstoß zur Meererwärmung beiträgt und deshalb eine Verschmutzung der Meere im Sinne des UN-Seerechtsabkommens darstellt. Dieses haben 170 Staaten unterzeichnet, Deutschland zählt dazu, die USA nicht. Die Staaten seien deshalb verpflichtet, den Treibhausgasausstoß zu senken. Bindend ist das Gutachten für die Vertragsstaaten nicht. Es trägt jedoch dazu bei, das internationale Klimaschutzrecht zu formen.

Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte 2025 – Klimaschutz ist zwingendes Recht

Am 3. Juli veröffentlichte  der Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), der seinen Sitz in Costa Rica hat, ein Rechtsgutachten über klimarechliche Verpflichtungen. Dem gingen drei Anhörungen in Barbados, Manaus (Brasilien) und Brasilia (Brasilien) voraus; mehr als 260 schriftliche Beiträge wurden eingereicht, das abschließende Gutachten ist mit 234 Seiten das längste in der Geschichte des IAGMR. Der Aufwand war also groß – die Begeisterung über das Ergebnis unter Menschenrechtlern und Klimaschützern auch. Das Gutachten wird als bahnbrechend gefeiert. Das hat mehrere Gründe. Zum einen betrachtet der IAGMR wie der EGMR im Fall der Klimaseniorinnen Klimaschutzfragen als Menschenrechtsfragen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass das Menschenrecht auf ein gesundes Klima zwingendes Recht (völkerrechtlich: „ius cogens“) ist, von dem keine Ausnahmen gemacht werden können. Insbesondere erklärt der IAGMR alle Staaten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) für gebunden und damit auch die USA und Kanada, die zwar Mitglied der OAS sind, sich aber nicht dem IAGMR unterworfen haben.

Auch ein eigenes Recht der Natur im Sinne der „Rights of Nature“-Bewegung erkennt der IAGMR an. Außerdem verlangt er von den Staaten, besonders vulnerable Gruppen wie Kinder, Indigene, Menschen in armen Regionen besonders zu schützen und sieht eine generationenübergreifende Verantwortung. Das Gericht sieht auch eine Pflicht der Staaten, zum Zweck des Klimaschutzes zu handeln, insbesondere auch ausdrücklich Unternehmen zu regulieren. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kommen in der Klimakrise eine besondere Rolle zu: Das Gutachten betont die Notwendigkeit von Zugang zu Information, Beteiligung und der Offenheit der Rechtswege für alle. Ausführlich widmet sich der IAGMR auch der von der Klimakrise ausgelösten Migration und fordert beispielsweise die Staaten auf, Verfahren für Vertriebene zu entwickeln.

So bahnbrechend und fortschrittlich es auch ist – das Gutachten hat keine Gesetzeskraft. Es könnte jedoch Gerichtsentscheidungen und klimapolitische Verhandlungen beeinflussen.

Die Gerichtsbarkeit kann nur Anstöße geben. Die Justiz ist dazu da, den rechtlichen Rahmen vorzugeben – die Politik muss ihn ausfüllen.
Jannika Jahn, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Laufende Verfahren weltweit

Weltweit sind zahlreiche Klimaklagen noch nicht entschieden. Die Columbia Law School in New York führt eine Datenbank zur weltweiten „climate change litigation“. Im Juni 2025 enthielt sie mehr als 3.000 Fälle, sowohl schon entschiedene als auch noch laufende. Wie der RWE-Fall richtet sich der Shell-Fall gegen ein Unternehmen. „In Deutschland sind bisher alle Unternehmensklagen gescheitert. Im Allgemeinen haben Klagen gegen Staaten höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten als solche gegen Unternehmen“, sagt Jahn. Allerdings merkt sie auch an: „Momentan ist die Euphorie, die unmittelbar nach dem deutschen Klimabeschluss herrschte, etwas verebbt.“ Das Scheitern der Tempolimit-Beschwerde zeigte, dass Klimaklagen nicht dazu geeignet sind, konkrete politische Maßnahmen zu erzwingen.

Derweil schreitet der Klimawandel weiter voran. Schäden und Gefahren werden konkreter, die Spielräume, um festgesetzte Klimaziele zu erreichen, kleiner. „Gerichte spielen eine bedeutende Rolle“, sagt Jahn. „Auch wenn sie keine politische Gestaltungsmacht besitzen, kommt ihnen in einem demokratischen Rechtsstaat eine wichtige Kontrollfunktion zu: Unterbleibt ihre Intervention vollständig, bleibt die Einhaltung verbindlicher Emissionsminderungsziele unbeaufsichtigt – und damit für die Bürgerinnen und Bürger nicht überprüfbar. Doch gerade weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mögliche Menschenrechtsverletzungen im Raum stehen, ist eine Rechenschaftspflicht der politischen Entscheidungsträger beim Klimaschutz unverzichtbar.“

Anm. d. Red.: Der Artikel ist am 22.7.25 erschienen und wurde mit Verkündung des IGH-Gutachtens am 23.7.25 im Einstieg aktualisiert.

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