Gorillas in den Bäumen

Selbst große Silberrücken-Gorillas verbringen einen Großteil ihrer Zeit in Bäumen

Auf den Punkt gebracht

  • Die arboreale Lebensweise von Gorillas variiert: Die Berggorillas im Bwindi-Nationalpark in Uganda und die Westlichen Flachlandgorillas in Gabun verbringen deutlich mehr Zeit auf Bäumen als die überwiegend terrestrisch lebenden Virunga-Berggorillas.
  • Selbst die größten Gorillas verbringen einen Teil ihres Lebens in Bäumen: Entgegen bisheriger Auffassungen beruht diese Lebensweise nicht allein darauf, wie häufig die Tiere Früchte fressen, und sie ist auch nicht durch die große Körpergröße der Tiere eingeschränkt. Selbst große Silberrücken verbringen viel Zeit in den Bäumen und ernähren sich dort nicht nur von Früchten, sondern auch von Blättern.
  • Die Evolution von Menschenaffen und Menschen: Die neue Erkenntnis, wie wichtig der Lebensraum Baum für Gorillas ist, hat wichtige Auswirkungen auf unser Verständnis ihrer Anatomie, ihrer Ökologie sowie der aus gorillaähnlichen Fossilienfunden gezogenen evolutionären Schlussfolgerungen.

Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der Rocky Vista University (USA) haben herausgefunden, dass Gorillas deutlich mehr Zeit in Bäumen verbringen als bisher angenommen. Aufgrund ihrer Größe – Männchen wiegen im Durchschnitt bis zu 170 Kilogramm – und ihrer hauptsächlich aus bodennaher Vegetation bestehenden Ernährung galten Gorillas bisher als am stärksten an ein Leben auf dem Land angepasste Menschenaffenart. Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass einige Gorillapopulationen genauso viel Zeit in Bäumen verbringen wie einige Schimpansenpopulationen. Selbst große, erwachsene Tiere suchen demnach 20 bis 30 Prozent ihrer Zeit in Bäumen nach Blättern und Früchten. Ein tieferes Verständnis des Gorillaverhaltens hat wichtige Auswirkungen darauf, wie die Anatomie, adaptive Ökologie und gorillaähnlichen Merkmale unserer nächsten Verwandten, der Menschenaffen und früheren Menschenarten, interpretiert werden.

Seit der Entdeckung von „Lucy” im Jahr 1974 in Äthiopien und der Feststellung, dass sie zweibeinig war, aber menschenaffenähnliche Arme hatte, wird darüber diskutiert, wie wichtig das Klettern auf Bäumen für die menschliche Evolution war. Weitere Fossilienfunde der letzten Jahrzehnte haben große Unterschiede in der Körpergröße, der Ernährung und den paläoökologischen Bedingungen, unter denen unsere fossilen menschlichen Verwandten lebten, zutage gefördert. Daher ist es für die Interpretation der Bedeutung der Arborealität (das Leben in Bäumen) für unsere fossilen Vorfahren entscheidend, die Motive für die arboreale Lebensweise bei heutigen Menschenaffen zu verstehen.

Gorillas gelten als die am besten an das Leben am Boden angepassten Menschenaffen. In den Medien werden sie oft als auf dem Waldboden sitzende Tiere dargestellt, die sich von Blattwerk ernähren. Ausgewachsene Weibchen wiegen zwischen 70 und 100 Kilogramm, während ausgewachsene Männchen, die sogenannten Silberrücken, mit 160 bis 170 Kilogramm fast doppelt so schwer sein können. Obwohl alle Gorillas bei Bedarf noch sehr gut auf Bäume klettern können – beispielsweise, um Nester für die Nacht zu bauen oder an Früchte zu gelangen –, halten wir sie aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts für zu schwerfällig, um sich in den Bäumen so zu bewegen, wie es die kleineren, agileren Schimpansen und Bonobos tun. Die Vorstellung, dass Gorillas hauptsächlich landlebende Tiere sind, stammt unter anderem aus den bahnbrechenden Studien über die Virunga-Berggorillas von Dian Fossey. Diese Gorillas leben in hochgelegenen Bergwäldern, in denen nur wenig Obst wächst. Sie verbringen tatsächlich bis zu 98 Prozent ihrer Zeit am Boden.

Gorillas verbringen mehr Zeit in Bäumen als gedacht

Es gibt zwei Gorillaarten: die westlichen Gorillas (mit den Unterarten westliche Flachlandgorillas und Cross-River-Gorillas) und die östlichen Gorillas (mit den Unterarten Berggorillas und Grauer-Gorillas). Sie leben in verschiedenen Lebensräumen in Zentralafrika. Sind angesichts dieser Vielfalt die Verhaltensweisen der Virunga-Berggorillas repräsentativ für alle Gorillas? Um dies zu klären, haben Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie unter der Leitung von Erstautorin Martha Robbins Langzeitdaten aus zwei Gorilla-Forschungsgebieten ausgewertet: aus dem nur etwa 30 Kilometer von der Virunga-Berggorillapopulation entfernten Bwindi Impenetrable National Park in Uganda und aus dem Loango-Nationalpark in Gabun, in dem Westliche Flachlandgorillas leben.

Anhand der Analyse von Beobachtungsdaten, die in den letzten zehn Jahren zu mehreren Individuen und Gruppen von Gorillas gesammelt wurden, stellte das Team fest, dass sowohl die Berggorillas in Bwindi als auch die Flachlandgorillas in Loango täglich deutlich mehr Zeit in den Bäumen verbrachten als die Virunga-Gorillas. Obwohl Jungtiere mehr Zeit in den Bäumen verbrachten als größere, ältere Tiere, hielten sich selbst die riesigen Silberrücken zu einem erheblichen Teil in den Bäumen auf. „Erwachsene Weibchen verbrachten 20 bis 30 Prozent ihrer Zeit in den Bäumen, Silberrücken 18 bis 20 Prozent. Das ist deutlich mehr als die zuvor bei den Virunga-Berggorillas beobachteten zwei bis sieben Prozent”, sagt Robbins. „Dies zeigt, dass die Größe der Gorillas nicht unbedingt ein limitierender Faktor für das Klettern auf Bäumen ist und dass Gorillas genauso arboreal sein können wie einige Schimpansenpopulationen”, so Co-Autorin Rhianna Drummond-Clarke.

Anatomie und adaptive Ökologie von Gorillas neu interpretiert

Noch überraschender war für das Autorenteam, dass die Aufenthaltshäufigkeit in Bäumen nicht allein durch die Notwendigkeit bestimmt wurde, dort an Früchte zu gelangen – entgegen früheren Annahmen. „Tatsächlich fand fast die Hälfte des Fruchtkonsums der Loango-Gorillas am Boden statt, nachdem die Früchte vom Baum gefallen waren. Dieses Verhalten bedarf weiterer Untersuchungen“, so Robbins. Stattdessen beschäftigten sich sowohl die Bwindi- als auch die Loango-Gorillas während ihres Aufenthalts in den Bäumen hauptsächlich mit dem Verzehr von Blattwerk.

Obwohl bekannt ist, dass Gorillas geschickte Baumkletterer sind, wird ihr Verhalten und ihre Anatomie oft im Kontext ihres Lebens auf dem Boden interpretiert – insbesondere, was den Knöchelgang (Knuckle-Walking) betrifft. „Dass einige Gorillas einen Großteil ihres Lebens in Bäumen verbringen und ihre Körpergröße dabei kein Hindernis darstellt, hat wichtige Auswirkungen auf die Interpretation ihrer Anatomie. Außerdem ist diese Studie für die Interpretation fossiler Funde mit einer gorillaähnlichen Morphologie oder Hinweisen auf eine hohe Körpergröße von entscheidender Bedeutung. Denn diese Merkmale können auch auf eine häufige Arborealität hindeuten und nicht ausschließlich auf eine terrestrische Lebensweise“, sagt die leitende Autorin Tracy Kivell. Diese Ergebnisse werden unser Wissen über die Evolution von Menschenaffen und Menschen maßgeblich erweitern.
 

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht