Forschungsbericht 2024 - Max-Planck-Institut für Geoanthropologie
Koevolutionäre Modellierung von Meeresspiegelanstieg und gesellschaftlichem Wandel
Meeresspiegelanstieg aufgrund nichtlinearer Veränderungen
Mit steigenden Treibhausgasemissionen und globaler Erwärmung verlieren die polaren Eisschilde zunehmend an Masse, und die Gefahr nichtlinearer und irreversibler Veränderungen nimmt zu. Dies liegt auch an selbstverstärkenden Rückkopplungen der Eisschilde in Wechselwirkung mit dem Ozean und der Atmosphäre: Wenn durch die Erwärmung mehr Eis an der Oberfläche schmilzt, sinkt diese in niedrigere Lagen ab, wo die umliegenden Temperaturen typischerweise wärmer sind, was wiederum zu verstärktem Schmelzen führen kann. Wird dabei eine kritische Temperatur überschritten, kann dies zu langfristigem, weitreichendem Eisverlust führen.
Laut dem jüngsten Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC, ist es nahezu sicher, dass der globale Meeresspiegel weit über das 21. Jahrhundert hinaus weiter ansteigen wird. Je nach Emissionsszenario wird geschätzt, dass er im Mittel bis zum Jahr 2300 um 0,3 bis 6,8 m steigen könnte. Dies stellt ein hohes Risiko für die Küstenregionen dar: Rund 40 % der Weltbevölkerung leben derzeit in Küstennähe, und bereits heute sind in vielen Regionen eine Zunahme an Sturmfluten, Überschwemmungen, Versalzung des Grundwassers und Auswirkungen auf die marinen Ökosysteme zu verzeichnen.
Gesellschaftlicher Wandel hin zu effektivem Klimaschutz
Wirksamer Klimaschutz erfordert rasche Emissionsreduktionen auf allen Ebenen. Hierfür sind politische Rahmenbedingungen ebenso notwendig wie individuelle Verhaltensänderungen. Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass individuelles Engagement für Klimaschutz wesentlich von der eigenen Besorgnis um den Klimawandel und der wahrgenommenen direkten Betroffenheit abhängt, wobei weitere Faktoren wie Kosten, Vertrauen in Institutionen und empfundene Selbstwirksamkeit die Dynamik beeinflussen. Besorgnis um den Klimawandel gilt als notwendige Voraussetzung, ist aber nicht immer hinreichend für nachhaltige Verhaltensänderungen. Strukturelle Umbrüche werden durch positive Rückkopplungsmechanismen begünstigt, beispielsweise durch soziales Lernen von nachhaltigen Ernährungsgewohnheiten. In manchen Fällen können hierbei abrupte, selbstverstärkende Transformationen entstehen, sogenannte soziale Kippdynamiken. Wie wahrscheinlich solche selbstverstärkenden Dynamiken sind, hängt von den Ausgangsbedingungen auf biogeophysikalischer, gesellschaftlicher oder individueller Ebene ab. Die Zunahme von Extremereignissen wie Überschwemmungen oder Hitzewellen haben das Potenzial, unsere individuellen und kollektiven Einstellung und Verhaltensweisen zu verändern und damit transformative Veränderungsprozesse anzustoßen oder zu verstärken.
Einfluss der Antizipation langfristiger Folgen des Meeresspiegelanstiegs
Auch im Hinblick auf den Meeresspiegelanstieg sind sofortige Klimaschutzmaßnahmen essenziell, da bereits wenige Jahre Verzögerung langfristig einen deutlich stärkeren Meeresspiegelanstieg zur Folge haben könnten. Dabei werden die gravierendsten Auswirkungen erst ab dem 22. Jahrhundert auftreten und damit vor allem künftige Generationen betreffen.
Direkte Erfahrungen von Klimafolgen spielen eine wichtige Rolle bei der Änderung kollektiven Verhaltens. Im Falle der Meeresspiegelanstiegs erscheinen die Folgen jedoch – trotz bereits beobachtbarer Veränderungen – oft in ferner Zukunft, und direkte Erfahrungen reichen wohl nicht aus, um rechtzeitig gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Stattdessen ist die Antizipation zukünftiger Auswirkungen entscheidend, um generationsübergreifende Verantwortung zu fördern und das Engagement für den Klimaschutz zu erhöhen. Aktuelle repräsentative Studien zeigen, dass die Sorge um den künftigen Meeresspiegelanstieg die Unterstützung für Klimapolitik und nachhaltiges Verhalten signifikant steigert. Neue Modellstudien belegen zudem, dass vorausschauendes Denken soziale Transformationen zur Nachhaltigkeit fördern kann.
In einer Studie hat das MPI-GEA gemeinsam mit der ETH Zürich und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung Meeresspiegelprojektionen mit einem Simulationsmodell sozialer Netzwerkprozesse kombiniert, um die Rolle der Antizipation und Klimabesorgnis für die Bereitschaft zum Handeln für den Klimaschutz zu untersuchen. Das Modell erweitert bisherige theoretische und experimentelle Ansätze und bringt erstmals empirische Daten zum Meeresspiegelanstieg, der Bevölkerungsverteilung und Umfragedaten zur Klimabesorgnis aus mehr als 60 Ländern zusammen. Die Analyse zeigt, dass erhöhte Klimabesorgnis, längere Antizipationszeiträume und größere, künftig direkt vom Meeresspiegelanstieg betroffene Bevölkerungsanteile die Schwelle für soziale Transformationsprozesse deutlich senken können. Die Kombination dieser Faktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch langfristige Folgen des anthropogenen Klimawandels in die heutigen Entscheidungsprozesse einfließen und Klimaschutzmaßnahmen zur sozialen Norm werden können.
Diese erste Monte-Carlo-Analyse beruht zunächst ausschließlich auf der Antizipation des mittleren Meeresspiegelanstiegs und berücksichtigt noch keine weiteren Folgen wie die Zunahme von Sturmfluten. Dadurch fallen die Ergebnisse eher konservativ aus, und es zeigen sich starke regionale Unterschiede: Das Potenzial sozialer Ansteckung und Aktivierung variiert abhängig von der Netzwerkkomplexität, der geografischen Distanz und sozialer und demografischer Faktoren. Die Bereitschaft zur Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen ist von komplexen internen und externen Faktoren sowie kontextspezifischen Hindernissen abhängig. Unser Modellansatz veranschaulicht, dass mehrere miteinander verflochtene soziale Faktoren transformative Entwicklungen in Energie-, Finanz- und soziopolitischen Systemen fördern können.
Mithilfe der koevolutionären Modellierung und Analyse wollen wir nicht nur das Verständnis von Rückkopplungen im System Mensch-Erde vertiefen, sondern auch die Grundlage schaffen, um notwendige Maßnahmen im Hinblick auf die Herausforderungen des Anthropozäns zu identifizieren und die Entscheidungsfindung unter tiefen Unsicherheiten zu erleichtern.
![Abb. 1: : Prognostizierter Anstieg des mittleren globalen Meeresspiegels unter verschiedenen Emissionsszenarien und betroffene Regionen in den Ländern mit den derzeit höchsten Treibhausgasemissionen[1] Diagramme zeigen prognostizierte Meeresspiegeländerungen unter verschiedenen Emissionsszenarien und die betroffenen Bevölkerungsanteile in Russland, China, USA, Indien und Japan bis 2300.](/24872802/original-1749970294.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6ODQ4LCJmaWxlX2V4dGVuc2lvbiI6ImpwZyIsIm9ial9pZCI6MjQ4NzI4MDJ9--c7bf38286d9d4d8c964b76989b2524152893bbe5)
![Abb. 2: Erhöhtes Potential für gesellschaftlichen Wanden und soziale Kippdynamiken hin zu mehr Klimaschutzmaßnahmen, verstärkt durch die Antizipation langfristiger Folgen des Meeresspiegelanstiegs[1] Drei Weltkarten zeigen Bevölkerung, Kipppotential und Bifurkations-Kipppotential in Prozent.](/24872856/original-1749970294.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MzQxLCJmaWxlX2V4dGVuc2lvbiI6ImpwZyIsIm9ial9pZCI6MjQ4NzI4NTZ9--7096333502f7b9bddf6b2f97851e035017f01b28)











