Aggressor vor Gericht: Was darf das geplante Sondertribunal entscheiden?
Ende Juni hat das geplante Sondertribunal für die Ukraine eine wichtige Hürde genommen. Völkerrechtler Robert Stendel erklärt die Hintergründe
Seit 2022 laufen die Planungen zur Errichtung eines Sondertribunals, das den Angriff Russlands auf die Ukraine strafrechtlich untersuchen soll. Grund ist eine Lücke im Völkerstrafrecht, wonach der russische Angriffskrieg sonst nicht geahndet werden könnte. In einem FAQ beantwortet Robert Stendel vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht wichtige Fragen zum juristischen Novum, das am 25. Juni 2025 eine wichtige Hürde nahm.
Was ist ein Sondertribunal?
Anders als ständige Strafgerichte werden Sondertribunale ad hoc zur Aburteilung von Straftaten in einem bestimmten Gebiet und Raum eingerichtet. Solche Tribunale sollen in der Regel über die Kernverbrechen des Völkerrechts urteilen, also Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Bekannte Beispiele für solche Gerichte im Rahmen der Vereinten Nationen sind die Sondertribunale zur Verfolgung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993), in Ruanda (1994) und in Kambodscha (2003).
Was soll das Sondertribunal für die Ukraine untersuchen?
Es soll das „Verbrechen der Aggression“, also die Planung oder Ausführung des Angriffskrieges untersuchen und ahnden. Der Vorwurf richtet sich die ranghöchsten russischen Amtsträger: gegen Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin und Außenminister Sergej Lawrow sowie weitere Personen aus dem Kreml sowie dem russischen Militär.
Warum ist nicht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig?
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) darf nicht über das Verbrechen des Angriffskrieges in der Ukraine entscheiden. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs basiert auf dem Römischen Statut, einem völkerrechtlichen Vertrag. Für den Vorwurf des Angriffskrieges unterliegt die Zuständigkeit des IStGH besonderen Grenzen. So muss nicht nur der angegriffene Staat Vertragspartei sein, sondern auch der Staat, dessen Angehörigen die Aggression vorgeworfen wird. Die Russische Föderation aber hat das römische Statut nicht ratifiziert und ist damit keine Vertragspartei.
Gibt es bereits Verfahren gegen die russische Führung?
Der IStGH hatte im März 2023 wegen des Vorwurfs von Kriegsverbrechen durch Zwangsdeportation ukrainischer Kinder im Zuge der russischen Offensive einen Haftbefehl unter anderem gegen Präsident Putin ausgestellt. Für dieses Verfahren ist der IStGH zuständig, weil es bei solchen Vorwürfen genügt, wenn die Tat auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen wurde. Seit Januar 2025 ist die Ukraine Vertragspartei. Vorher fußte die Zuständigkeit auf einer Erklärung der Ukraine, welche die Strafgewalt des Internationalen Strafgerichtshofs für alle Taten auf ihrem Staatsgebiet seit 2014 anerkennt.
Wann begannen die Vorbereitungen für das Sondertribunal?
Bereits 2022 begannen Beratungen von Politik- und Rechtsexpertinnen und -experten, über die Frage, wie der russische Angriff auf die Ukrainestrafrechtlich geahndet werden kann. 2023 bildete sich eine so genannte „Core Group“ (Kerngruppe) aus hochrangigen Rechtsexpertinnen und -experten aus knapp 40 Ländern. Das Ziel war es, gemeinsam mit der Ukraine ein völkerrechtlich tragfähiges Modell für ein Tribunal zu entwickeln. Zu den Unterstützerstaaten gehören neben EU-Mitgliedern etwa auch Australien, Costa Rica, Großbritannien, Guatemala, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Die USA, die die Errichtung eines Sondertribunals unter der Regierung Biden noch stark befürwortet hatten, zogen sich im Januar 2025 aus der Gruppe zurück. Am 9. Mai 2025 einigten sich Mitglieder der Core Group auf wichtige Details. Am 25. Juni 2025 unterzeichneten der Präsident der Ukraine und der Generalsekretär des Europarates in Straßburg das entscheidende Abkommen.
Wie wird ein Sondertribunal errichtet?
Ein Gericht, das verbindlich Recht sprechen soll, bedarf einer rechtlichen Grundlage. Frühere Sondertribunale basierten auf Resolutionen des Sicherheitsrates oder auf Vereinbarungen zwischen der UN und den jeweiligen Staaten. Das Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression in der Ukraine wird auf einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Ukraine und dem Europarat beruhen. Mit diesem Vertrag wird das Tribunal errichtet. Zusätzlich bedarf es weiterer Instrumente, um Geschäftsordnung und Verfahren zu regeln sowie für die Unterstützung des Tribunals durch weitere Staaten. Zu diesen Zwecken entstanden Entwürfe völkerrechtlich verbindlicher Dokumente. Im Wesentlichen umfassen die Entwürfe drei Texte:
1. ein Vertrag zwischen dem Europarat und der Ukraine, mit dem die Ukraine ihre Strafgewalt über das Verbrechen des Angriffskriegs auf das Tribunal überträgt (unterzeichnet am 25. Juni 2025),
2. ein Statut des Sondertribunals zu Verfahren und anwendbarem Recht als Annex zum Vertrag unter 1.;
3. ein Abkommen zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern des Europarats insbesondere zur finanziellen Unterstützung des Sondertribunals (noch nicht abgeschlossen).
Alle diese Texte sind noch nicht in Kraft. Erst mit der Ratifizierung des ersten Vertrages durch die Ukraine und Abschluss des Unterstützungsabkommen werden der Vertrag zwischen Ukraine und Europarat (1.) und das Statut in Kraft treten. Zusätzlich bedarf es eines Vertrages mit dem Staat, in dem das Tribunal seinen Sitz haben wird.
Wo wird der Gerichtshof seinen Sitz haben?
Der Sitz ist derzeit noch offen, wird sich allerdings auf dem Gebiet einer Partei des Unterstützungsabkommens befinden.
Warum ist der Europarat involviert?
Der Europarat wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem zum Schutz der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegründet. Er sitzt in Straßburg und umfasst 46 Länder. Er wird leicht mit dem Europäischen Rat verwechselt, der ein Organ der EU ist. Bis 2022 war auch Russland Mitglied des Europarates.
Der Europarat war bisher nicht an der Errichtung von Völkerstrafgerichtshöfen beteiligt. Allerdings haben Forschende seit Kriegsausbruch dafür geworben, den Europarat in ein Sondertribunal einzubeziehen. Hierfür sprach, dass die Errichtung eines Tribunals im Rahmen der UN früh als unwahrscheinlich galt. Zugleich kann eine Europaratslösung eine besondere Legitimität für sich beanspruchen: Das Völkerstrafrecht sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, mit zweierlei Maß zu messen („double standards“). Warum soll Präsident Putin strafrechtlich verfolgt werden, wenn Präsident George W. Bush für den Irakkrieg nicht zur Verantwortung gezogen worden ist? Solche Vorwürfe können ein Sondertribunal in Europa mit Beteiligung der Ukraine und des Europarates nicht treffen: Da hier der Vorwurf einer Angriffs gegen ein Mitglied des Europarats, begangen durch ein (ehemaliges) Mitglied des Europarates erhoben wird und der Krieg in Europa stattfindet, übt die Ukraine eine territorial begründete Strafgewalt aus und handelt der Europarat im Rahmen seiner Kompetenzen –einen Krieg weit außerhalb Europas könnte weder die Ukraine noch der Europarat ahnden.
Kann die Ukraine Präsident Putin und andere Verantwortliche für den russische Angriffskrieg auch vor ukrainischen Gerichten zur Verantwortung ziehen?
Theoretisch besteht diese Möglichkeit. Die Ukraine stellt in ihrem eigenen Strafrecht den Angriffskrieg unter Strafe. Weil der Angriffskrieg auf ihrem Staatsgebiet stattfindet, dürfte sie gemäß Völkerrecht über die Verantwortlichen für die Aggression richten. Dabei wäre allerdings die persönliche Immunität von Staatsoberhaupt, Ministerpräsident und Außenminister zu beachten. Solange sie im Amt sind, sind diese Personen vor Strafverfolgung durch die rein innerstaatlichen Gerichte anderer Staaten geschützt.
Unabhängig davon wäre ein solches Verfahren dem Verdacht von Willkür und fehlender Unabhängigkeit ausgesetzt. Deshalb sprechen rechtsstaatliche Erwägungen dafür, internationale Elemente einzubeziehen, die Verfahren nicht in der Ukraine stattfinden zu lassen, um dem Anschein einer Siegerjustiz zu begegnen. Um die Legitimität solcher Verfahren zu erhöhen, zieht auch die Ukraine ein internationalisiertes Verfahren vor.
Wann soll das Sondertribunal seine Arbeit aufnehmen?
Die beteiligten Staaten streben an, dass das Sondertribunal seine Arbeit bald aufnimmt. Zuvor müssen alle Abkommen in Kraft treten und eine ausreichende finanzielle Unterstützung sichergestellt sein.
Können Präsident Putin und andere Verantwortliche bereits während ihrer Amtszeit vor dem Sondertribunal angeklagt werden?
Staatsoberhäupter genießen persönliche Immunität. Das heißt insbesondere, dass die Strafgerichte anderer Staaten nicht über sie zu Gericht sitzen dürfen, weil dies die Staatengleichheit verletzen und die internationalen Beziehungen stören würde.
Diese Erwägung gilt nach verbreiteter Auffassung nicht für internationale Strafgerichte, weil sie die Strafgewalt der internationalen Gemeinschaft ausüben. Aus diesem Grund konnte der IStGH gegen Präsident Putin einen Haftbefehl erlassen. Auf diese Erwägung kann sich das Sondertribunal allerdings eindeutig nicht berufen. Es übt die Strafgewalt der Ukraine aus, allerdings ergänzt um internationale Elemente. Wegen dieser Schwäche wollte die Ukraine lange Zeit kein regionales Sondertribunal mit Beteiligung des Europarats, sondern bevorzugte eine internationale Lösung unter Beteiligung der UN. Dieses Ziel musste die Ukraine aufgrund der politischen Realitäten aufgeben: Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ist durch ein russisches Veto ausgeschlossen und eine Mehrheit in der UN-Generalversammlung für ein UN-Tribunal ist unwahrscheinlich.
Was könnte das Tribunal trotz der Immunität Präsident Putins bewirken?
Das geplante Sondertribunal soll bis zur Anklageerhebung arbeiten können, aber keine weiteren Schritte, wie etwa den Erlass von Haftbefehlen, unternehmen dürfen (vgl. Artikel 23 Absatz 5 Statut). Solche vorbereitenden Handlungen verletzen die persönliche Immunität (noch) nicht.
Amtsträger außerhalb der Troika aus Präsident, Ministerpräsident und Außenminister genießen keine umfassende persönliche Immunität, sondern nur eine sogenannte funktionale Immunität vor anderen Gerichten für Verhalten in ihrer Amtseigenschaft. Jedoch deckt diese funktionale Immunität nach verbreiteter Meinung nicht die Begehung schwerer Verbrechen. Darunter fällt wohl auch der Angriffskrieg (dies ist jedoch umstritten). Nach dieser Ansicht genießen andere russische Amtsträger keine Immunität vor dem Sondertribunal. Dieser Auffassung folgt das Statut (vgl. Artikel 23 Absatz 4 Statut).
Kann ein Staatsoberhaupt wie Präsident Putin von verschiedenen Gerichten – vom IStGH und dem Sondertribunal - verurteilt werden?
Eine Verurteilung durch beide Gerichte für Kriegsverbrechen einerseits und das Verbrechen der Aggression andererseits ist denkbar: Beide haben unterschiedliche Zuständigkeiten und bestehen nebeneinander. Ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag soll die Beziehung beider Institutionen zueinander regeln. Das im Juni 2025 unterzeichnete Statut verpflichtet das Sondertribunal jedenfalls zur Kooperation mit dem IStGH.
Text: Robert Stendel, Mitarbeit: Michaela Hutterer











