Türme aus Würmern
Fadenwürmer können turmartige Strukturen bilden und sich kollektiv von Insekten verbreiten lassen

- „Lebende Türme“ in der Natur: Wissenschaftler haben dieses Verhalten erstmals in der Natur beobachtet – auf verrottenden Äpfeln und Birnen in Obstgärten.
- Funktion der Türme: Die Türme nehmen Berührungen wahr, lösen sich von Oberflächen und haften sich an vorbeifliegende Insekten.
- Aufgabenteilung: Noch ist nicht klar, ob alle Individuen eines Turms dieselbe Funktion haben oder ob sie unterschiedliche Aufgaben besitzen.
Nematoden gehören zu den häufigsten Tieren auf der Erde. Für die kleinen Würmer ist es jedoch schwer, sich aus dem Staub zu machen. Deshalb setzen sie auf Masse: Wenn die Nahrung knapp wird und die Konkurrenz zunimmt, klettern sie auf- und übereinander, bis ihre Körper einen Turm formen. So versuchen sie, eine Mitfahrgelegenheit in Form eines vorbeifliegenden Insekts zu erhaschen.
Zumindest war das die Annahme der Wissenschaftler. Jahrzehntelang waren diese Wurmstrukturen mehr Mythos als Realität. Ansammlungen, in denen Tiere ihre Körper als Einheit fortbewegen, sind in der Natur eher selten. Nur Schleimpilze, Feuerameisen und Spinnmilben sind dafür bekannt, sich auf diese Weise fortzubewegen. Im Fall der Nematoden hatte noch niemand diese Ansammlungen außerhalb der künstlichen Umgebungen von Laboren und Wachstumskammern beobachtet.
Feldforschung mit Experimenten im Labor

Forschende in Konstanz haben jetzt jedoch Videoaufnahmen von sich auftürmenden Würmen auf heruntergefallenen Äpfeln und Birnen aufgenommen. Das Team vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und der Universität Konstanz hat Feldforschung mit Experimenten im Labor verknüpft und so den ersten direkten Beleg dafür geliefert, dass sich die Tiere auch in der Natur so verhalten und sich kollektiv fortbewegen. „Ich war begeistert, als ich diese natürlich vorkommenden Türme zum ersten Mal gesehen habe“, sagt die leitende Autorin Serena Ding, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. „Lange Zeit haben in der Natur vorkommende Türme in unserer Vorstellung existiert. Aber mit der richtigen Ausrüstung und großer Neugierde haben wir gesehen, dass sie sich direkt vor unserer Nase befinden.“
Mit dem Mikroskop in Obstgärten

Greenway, ein technischer Assistant am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, hat sich monatelang mit einem digitalen Mikroskop durch verrottendes Obst in Obstgärten nahe der Universität Konstanz gearbeitet, um das natürliche Auftreten und das Verhalten der Wurmtürme aufzunehmen. Einige Türme nahm er mit ins Labor. Obwohl das Obst von unterschiedlichsten Nematodenarten besiedelt war, bestanden die Türme immer nur aus einer einzigen Art. Die Individuen befanden sich alle in einem widerstandsfähigen Larvenstadium, bekannt als „Dauerlarve“. „Ein Nematodenturm ist nicht nur ein Haufen Würmer“, sagt Erstautorin Daniela Perez, eine Postdoktorandin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. „Es ist eine koordinierte Struktur, ein Superorganismus in Bewegung.“
Das Team hat beobachtet, wie sich die Türme in einer einheitlichen Welle bewegen, ähnlich wie einzelne Würmer es tun, indem sie sich aufrichten und sich an vorbeikommendes Tier anheften. Ihre Entdeckungen haben gezeigt, dass die Türme auf Berührungen reagieren, sich von Oberflächen ablösen und zusammen an Insekten wie Fruchtfliegen anheften – als Gemeinschaft per Anhalter zu neuen Umgebungen.
Türme nehmen Reize wahr
Um die Strukturen noch genauer untersuchen zu können, hat Perez einen Turm aus Laborkulturen von C. elegans konstruiert. Als sie auf nahrungsfreiem Agar mit einem kleinen, senkrechten Mast – der Borste einer Zahnbürste – platziert wurden, begannen die hungrigen Würmer sich zusammenzufügen. Innerhalb von zwei Stunden entstanden lebendige Türme, die für mehr als zwölf Stunden bestanden und „Arme“ in die Umgebung ausstreckten. Einige haben sogar Brücken gebildet, um neue Oberflächen zu erreichen. „Die Türme können wachsen und Objekte wahrnehmen“, sagt Perez. „Als wir sie berührt haben, sind sie dem Reiz sofort entgegen gewachsen und haben sich an ihn angeheftet.“
Wie sich herausstellte, ist dieses Verhalten nicht beschränkt auf das sogenannte „Dauerlarven“-Stadium. Erwachsene C. elegans und alle Larvenstadien im Labor bilden ebenfalls Türme. Dies lässt vermuten, dass das Auftürmen eine generelle Strategie zur Gruppenbewegung sein könnte.
Unterschiedliche Rollen im Turm?
Trotz der baulichen Komplexität dieser Türme zeigten die Würmer im Inneren keine offensichtliche Differenzierung ihrer Rollen. Individuen von der Basis und der Spitze waren gleich beweglich, fruchtbar und stark, ein Hinweis auf eine Form von gleichberechtigter Zusammenarbeit – bis jetzt allerdings nur unter den kontrollierten Bedingungen im Labor. „Unserer Würmer stammen aus einer geklonten Kultur. Daher ergibt es Sinn, dass es keine Differenzierung innerhalb des Turms gibt. In Türmen in der Natur könnte es dagegen genetische Unterschiede zwischen Tieren mit unterschiedlichen Aufgaben geben. Möglicherweise arbeiten manche Individuen am Turmbau mit, andere agieren als Trittbrettfahrer, die von der Arbeit der anderen profitieren, ohne sich selbst daran zu beteiligen.“
Die mikroskopisch kleinen Wurmtürme könnten die Frage beantworten helfen, wie sich Gruppenverhalten im Tierreich entwickelt hat. „Wir können die Würmer zum Beispiel genetisch verändern und so die Ökologie und Evolution kollektiver Bewegungen untersuchen“, sagt Ding, die ein Forschungsprogramm zu Nematodenverhalten und Genetik leitet.