In der Klimakrise sind alle Nachbarn
Niederlage und Sieg zugleich: Hintergründe zum Klimaurteil gegen den Energiekonzern RWE
Ende Mai wurde die Klage eines peruanischen Bauern gegen den Energiekonzern RWE abgewiesen. Dennoch ist das Urteil des OLG Hamm ein Erfolg für den Klimaschutz. Klimarechtsexpertin Jannika Jahn erklärt die Hintergründe.

Text: Nina Schick
Saúl Luciano Lliuya ist der einzige, der an diesem 28. Mai 2025 ein bisschen enttäuscht ist. Für den peruanischen Bauern und Bergführer, der mit Unterstützung von NGOs seit 2015 den Energiekonzern RWE darauf verklagte, sich anteilig an Schutzmaßnahmen für seine Heimatstadt unterhalb eines schmelzenden Gletschers zu beteiligen, ist das Urteil aus Hamm zu abstrakt. Seine Anwältin Roda Verheyen und Saúls weitere Unterstützer dagegen haben mit der erwarteten Klageabweisung mehr bekommen, als sie sich erhofft hatten. Für sie ist das Urteil ein „bahnbrechender Präzedenzfall“.
Das Oberlandesgericht Hamm hat in seiner Berufungsentscheidung dem Kläger keinen Schadenersatz zugesprochen. Es hatte eine konkrete Gefahr für das Grundstück von Lliuya durch den Gletschersee verneint und aufgrund dieser Bewertung der Tatsachen die Klage abgewiesen. Eindeutig bejaht hat es jedoch die rechtliche Frage, ob Lliuya wegen der Emissionen des Energiegiganten einen Anspruch haben könnte. Für die Begründung dieser Frage nahm sich das Gericht viel Zeit. Mehr als eine Stunde lang erklärte der Vorsitzende Richter, warum das Gericht die vom Konzern vorgebrachten Argumente ablehnt.
Nachbarschaftsrecht global angewendet
Das Gericht bestätigte, dass Lliuya sich auf Paragraf 1004 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs berufen kann. Dieser besagt, dass ein Eigentümer vom Störer die Beseitigung einer Beeinträchtigung verlangen kann. Die Vorschrift ist Teil des sogenannten Nachbarschaftsrechts. Was nach räumlicher Nähe klingt, war noch nie auf unmittelbare Anlieger beschränkt. Mit dem Urteil ist die Nachbarschaft global geworden. „Dass das Gericht den Anspruch aus Paragraf 1004 BGB global anwendet, ist wirklich bahnbrechend“, sagt Jannika Jahn, Klimarechtsexpertin und Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Sie beobachtet die internationale Klimarechtsprechung in ihrer Forschung und weiß: In der Klimakrise hängt alles mit allem zusammen. In der Urteilsverkündung hatte der Richter laut Beteiligten das Bild eines Flusses verwendet, in den ein Anwohner weiter oben etwas hineinwirft, was einen Anwohner weiter unten am Flusslauf schädigt.
Die Behauptung, dass nun wahllos „jeder gegen jeden“ klagen könnte, erklärte das Gericht für haltlos. Es werde weiterhin unterschieden zwischen erheblichen und nicht erheblichen Beiträgen der beklagten Emittenten. Nur bei erheblichen Beiträgen könne geklagt werden. Den jährlichen CO2-Emissionen von 164 Millionen Tonnen von RWE setzte es in Verhältnis zum durchschnittlichen CO2-Ausstoß pro Bürger von 10,3 Tonnen – es errechnete einen Quotienten von 0,0000000628. Die Emissionen von RWE sind relevant, die eines Einzelbürgers nicht.
Ein weiteres Argument, das das Gericht vom Tisch wischte: Der Versorgungsauftrag, dem RWE als Energieerzeuger nachkam, rechtfertige nicht die Beeinträchtigung von Lliuyas Eigentum. „Dieser Aspekt ist neu und aus Rechtsstaatlichkeitserwägungen nicht unproblematisch“, sagt Klimarechtlerin Jahn, die sich eingehend mit den Pflichten von Emittenten auseinandergesetzt hat. „Der Betrieb der Kraftwerke ist schließlich vom Staat genehmigt worden, damit RWE im Sinne der staatlichen Daseinsfürsorge die Bevölkerung mit Energie versorgt.“ RWE habe demnach rechtmäßig gehandelt und werde dafür nun zivilrechtlich belangt. Diese Ansicht bedarf weiterer Klärung, ist die Juristin überzeugt.
Neue Rechtsgedanken
Für Kläger-Anwältin Roda Verheyen ist das Urteil in rechtlicher Hinsicht ein „Sieg auf ganzer Linie“. Verloren habe man nur aufgrund der tatsächlichen Frage, ob die Gefährdung groß genug sei. Das ist zugleich der Aspekt, der das Urteil aus Sicht der Klimaschützer so wertvoll macht: Eine Revision ist ausgeschlossen. Sie wäre nur auf der Basis von Rechts-, nicht aber von Tatsachenfragen möglich. Damit ist das Urteil letztinstanzlich und kann zum Präzedenzfall werden – sowohl national als auch international. „Zum ersten Mal hat ein Gericht die Verantwortlichkeit von Unternehmen für Klimaschäden anerkannt“, sagte der Jurist Noah Walker-Crawford, der die Klägerseite unterstützt, nach der Urteilsverkündung. Das sei für ähnlich gelagerte Verfahren, von denen weltweit Dutzende anhängig seien, relevant. Der juristische Ansatz könne übertragen werden.
„Es ist richtig, dass Gerichte in Klimafällen auch auf Entscheidungen in anderen Ländern schauen“, sagt Juristin Jahn. Gerade die Prinzipien des Deliktsrechts stimmten in vielen Ländern grundsätzlich überein. Dennoch bremst Jahn die Euphorie etwas. Es handle sich eben doch nur um die Entscheidung eines Oberlandesgerichts. „Der Bundesgerichtshof sieht Dinge oft auch anders.“ Am Ende eines anderen Falles, der bis vor den BGH geht, könnte also durchaus ein anderes Urteil stehen.
Fragen für die Zuordnungsforschung
Die Alternative zur Klageabweisung an dieser Stelle des Verfahrens war nicht ein Urteil zugunsten von Lliuya. Stattdessen wäre die Beweisaufnahme weitergegangen. Man hätte vertieft in Fragen der Zuordnungsforschung einsteigen müssen. Die Zuordnungsforschung ist eine noch recht junge wissenschaftlichen Disziplin, die einzelne Beiträge zu Klimaveränderungen und -ereignissen untersucht. „Ich finde es etwas viel, das Urteil als den großen Wurf zu bezeichnen“, sagt Jahn. Das Problem bei Klimafällen sei gerade, dass sich der Eintritt von Umweltkatastrophen wie eine vom Gletschersee ausgehende Flutwelle selten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt. „Zudem ist ein wesentlicher Teil der Beweisführung in diesem Verfahren gar nicht erfolgt.“ Der Knackpunkt bei Klimaklagen liege aber im Nachweis von Ursache und Wirkung: In welchem Umfang lässt sich das Risiko einer potenziell gefährlichen Umweltveränderung auf den Klimawandel und auf konkrete Verursachungsbeiträge eines Unternehmens zurückführen? Hierzu wird weitere Forschung nötig sein.
Was nicht mehr schwer nachzuweisen ist: Die tatsächlichen Veränderungen, die in der Klimakrise stattfinden. Saúl Luciano Lliuya gab sich in einer Video-Konferenz nach dem Urteil vor der Presse sichtlich Mühe, den Erfolg seiner Klage zu betonen. Als erstes sagte er jedoch den nüchternen Satz: „Die Gletscher schmelzen weiter.“
Klagewelle bleibt abzuwarten
Ob sich mit dieser Rechtsauffassung weitere Klagen begründen lassen, bleibt abzuwarten. Die Rechtsanwältin der Klägerseite habe bereits weitere Verfahren in Planung, heißt es. Dass sie wieder in Deutschland, wieder gegen einen Energiekonzern stattfinden werden, ist nicht unwahrscheinlich. „Wo geklagt werden muss, der Gerichtsstand, richtet sich nach dem Sitz des beklagten Emittenten und dem Ausstoß der CO2 Emissionen“, erklärt Juristin Jahn. Das muss nicht wieder RWE sein. „In den Niederlanden steht Shell vor Gericht.“ Dieses Verfahren beobachten Klimajuristen ebenfalls sehr genau.