WHO-Pandemieabkommen: Neue Regeln für das Krisenmanagement
Wie es mit dem geplanten Abkommen der Weltgesundheitsorganisation weitergeht
Mitte April meldet die Weltgesundheitsorganisation den Durchbruch: Nach mehr als drei Jahren harter Verhandlungsarbeit steht ein Vorschlag, den die 194 Mitglieder der WHO noch im Mai unterzeichnen sollen. Pedro A. Villlarreal forscht zum globalen Gesundheitsrecht und hat die Verhandlungen und Vorschläge verfolgt. Im Interview erklärt er die Bedeutung des Abkommens für das Handling künftiger Pandemien

Herr Villarreal, Sie haben die zähen Verhandlungen verfolgt. Eine Einigung schien bis zuletzt schwierig. Wie gelang sie letztlich?
Villarreal: Im Großen und Ganzen erklärten sich mehrere Delegationen, die Einwände gegen einige Teile des Abkommens hatten, bereit, einen Kompromiss zu ihren Positionen einzugehen. Dazu zählt die Anerkennung des One Health-Ansatzes, der von Verflechtung von menschlicher, tierischer und umweltbezogener Gesundheit ausgeht. Daneben konnten die genauen Modalitäten eines möglichen Technologietransfers geklärt werden. Zusätzlich wurden die Verhandlungen über einen der komplexesten und umstrittensten Teile des Abkommens, das „Pathogen Access and Benefit Sharing System“, das PABS-System, bis mindestens 2026 verlängert. Damit haben die Delegationen mehr Zeit, um an den sehr schwierigen technischen Details der Funktionsweise dieses Systems zu feilen. Die Kombination dieser Faktoren hat meines Erachtens zu einer Einigung geführt.
Vieles war umstritten. Was ging durch?
Villarreal: Ich möchte die Einigung zu einem One-Health-Ansatz betonen, daneben sind die Stärkung des Gesundheitspersonals als Schlüsselkomponente aller Pläne zu Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung, die Bestätigung der Flexibilitäten im Rahmen der internationalen Regelung für geistiges Eigentum (TRIPS Abkommen), die es den Staaten erlauben, unter anderem Zwangslizenzen für medizinische Produkte zu erteilen und die Möglichkeit, einen Technologietransfer zwischen Staaten durchzuführen, bedeutsam.
Was fehlt?
Villarreal: Zu den wichtigsten Punkten, die meines Erachtens ausgelassen wurden, gehören: stärkere Verpflichtungen zur Transparenz bei der öffentlichen Finanzierung von Forschung und Entwicklung einschließlich der Bedingungen, die in Förderverträgen mit privaten Unternehmen gelten. Auch die Frage, wo öffentliche Mittel zur Entwicklung neuer pandemiebezogener Produkte verwendet werden ebenso die Menschenrechte und ihre Rolle als Leitprinzip des gesamten Abkommens werden kaum erwähnt, und das betrifft auch die Verpflichtungen der Staaten gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und der anderer Länder. Klare Zusagen zur Finanzierung der Umsetzung des Pandemie-Abkommens fehlen auch, da dies größtenteils den Staaten überlassen bleibt.
Was bedeutet die Einigung für Deutschland im Falle künftiger Pandemien?
Villarreal: Wenn das Abkommen in Kraft tritt und Deutschland es ratifiziert, würde es, erstens, einen beschleunigten Zugang zu „Pandemie- Materialien und Sequenzinformationen“ - auf Englisch "Pandemic Materials and Sequence Information", die noch definiert werden müssen – erhalten. Diese sind für Innovationen - nicht nur diejenigen der Pharmaindustrie - notwendig, um neue medizinische Produkte gegen Pandemien zu entwickeln.
Zweitens hätte Deutschland eine direkte Beteiligung bei den künftigen Konferenzen der Parteien (Conference of the Parties), dem Gremium, das für die künftige Umsetzung des Abkommens eingerichtet wird. Dazu wird auch die offizielle Koordinierung mit anderen Mitgliedstaaten bei Aktivitäten im Zusammenhang mit Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung durchgeführt, auch im Rahmen einer One-Health-Perspektive.
Drittens und ganz allgemein könnte eine künftige Ratifizierung des Pandemieabkommens durch Deutschland ein Zeichen des guten Willens sein, das andere Länder zum Beitritt motiviert. Die Beteiligung dieser anderen Länder ist für ein wirksameres System nötig, was auch die Bevölkerung in Deutschland sicherer gegen künftige Pandemien machen würde, indem es mehr Werkzeuge für eine schnellere Reaktion bietet.
Stichwort Ratifizierung: Ab wann entfaltet so ein Abkommen Wirkung für alle Unterzeichnenden? Es heißt, erst in einigen Jahren...
Villarreal: Ja, es wird ein jahrelanger Prozess sein, bis das Abkommen in Kraft treten kann. Wenn die Staaten den aktuellen Text des Pandemieabkommens im Mai genehmigen, müssen sie dennoch dessen Anhang weiter aushandeln, mit dem das PABS-System eingerichtet wird, bevor sie mit der Ratifizierung fortfahren können. Diese Verhandlungen werden bis mindestens 2026 andauern. Wenn dies geschafft ist, müssen die Staaten nationale Ratifizierungsverfahren durchlaufen, an denen häufig die Parlamente beteiligt sind. Das könnte noch mehrere Jahre dauern.
Wenn das Abkommen gilt: Worauf dürfen Deutschland oder Mitglieder der EU künftig zugreifen?
Villarreal: Obwohl die Definition von PABS-Materialien und Sequenzinformationen noch aussteht, ist zu erwarten, dass zumindest Krankheitserregerproben darunter fallen werden. Wichtig ist: Diese Proben werden, wenn sie auf dem Gebiet eines bestimmten Staates gefunden werden, als biologische Ressourcen betrachtet werden, die gemäß dem Nagoya Protokoll des Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) unter die Souveränität dieser Staaten fallen. Daher kann die Annahme einer allgemeinen Verpflichtung der Staaten, diese Proben unverzüglich an die WHO zu übermitteln, künftige Meinungsverschiedenheiten darüber vermeiden, ob und wann sie dies tun sollten. Danach könnten sowohl Deutschland als auch die EU und deren Mitgliedstaaten einen schnelleren Zugang zu diesen Materialen und Sequenzen haben.
Wie stark sind die Mitglieder an das Abkommen gebunden?
Villarreal: Hier gibt es noch eine Unwägbarkeit, wie ein Blick in die Pressemeldung der WHO zeigt. Wenn das Abkommen unter Artikel 19 der WHO Verfassung verabschiedet wird, müssten die Staaten es ratifizieren, bevor es für sie in Kraft tritt. Wenn dies geschehen wird, werden die Staaten auch auf der nationalen Ebene Umsetzungsmaßnahmen ergreifen.
Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das Abkommen nicht rechtsverbindlich sein würde, sondern lediglich als (unverbindliche) Resolution der WHO im Mai verabschiedet wird. Dies würde bedeuten, dass die Staaten nicht verpflichtet wären, die im Text enthaltenen Artikel einzuhalten – wobei sie gemäß der Verfassung der WHO weiterhin verpflichtet wären, dem WHO-Sekretariat über ihre Maßnahmen Bericht zu erstatten.
Was passiert, wenn sich ein Staat nach seiner Unterschrift nicht an seine Pflichten hält?
Villarreal: Zuerst könnte eine künftige Konferenz der Parteien die anderen Staaten auf diesen möglichen Verstoß aufmerksam machen und zu einer „Kurskorrektur“ aufrufen. Die anderen Staaten können dann beschließen, den mutmaßlich verstoßenden Staat im Rahmen eines Streitbeilegungsverfahrens vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag anzufechten. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der mutmaßlich verstoßenden Staat sich bereit erklärt, die Differenzen einem verbindlichen Schiedsverfahren zu unterwerfen.
Darüber hinaus müssen mehrere Staaten nationale Reformen durchführen, um das Pandemie-Abkommen in ihre Rechtssysteme zu integrieren. Dies könnte die Einführung nationaler Mechanismen zur Überwachung der Einhaltung ermöglichen, die jedoch von Staat zu Staat unterschiedlich ausfallen.
Was gilt, wenn nicht alle 194 Staaten im Mai unterschreiben?
Villarreal: Gemäß Artikel 60 der WHO Verfassung können Resolutionen der Weltgesundheitsversammlung zur Annahme eines neuen Abkommens mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden. Normalerweise versucht die WHO, alle Resolutionen unter Konsens zu verabschieden, also ohne den deutlichen Einwand von manchen Staaten. Sollten sich einige Staaten gegen diese Resolution aussprechen, könnte dies die politische Legitimität des Abkommens beeinträchtigen. Andererseits müssen die Staaten das Abkommen ohnehin ratifizieren, damit es in Kraft treten kann. Dies bliebe auch für diejenigen Staaten offen, die sich zunächst gegen seine Annahme in der Weltgesundheitsversammlung ausgesprochen hatten.
Wie wahrscheinlich ist es, dass alle 194 Staaten im Mai unterschreiben?
Villarreal: Höchstwahrscheinlich werden nicht alle 194 WHO-Mitgliedstaaten das Abkommen unterzeichnen. Die USA und Argentinien haben bereits ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht. Dennoch steht allen Staaten die Möglichkeit offen, den Vertrag in Zukunft anzunehmen.
Die USA als auch Argentinien haben Anfang des Jahres ihren Austritt aus der WHO erklärt, dieser Austritt wird Anfang 2026 wirksam. Was bedeutet das für das neue Abkommen?
Villarreal: Für das Pandemieabkommen ist dies nicht von großer unmittelbarer Bedeutung, da es auch Nichtmitgliedern der WHO, darunter beispielsweise der Europäischen Union, offen stehen wird. Diese potentiellen Rückzüge, insbesondere der der USA, könnten allerdings die finanzielle Kapazität der WHO zur künftigen Umsetzung des Abkommens beeinträchtigen – wenn nicht bald eine Finanzierung gefunden wird.
Das Interview führte Michaela Hutterer