Das Paradigma "Wir gegen die Anderen" überwinden
Kooperation oder Antagonismus zwischen Gruppen können durch wirtschaftliche Bedürfnisse und frühere Handlungen beeinflusst werden
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben den Einfluss von Gruppenidentität und wirtschaftlicher Bedürftigkeit auf Kooperation und Konflikt in zwei kolumbianischen Gemeinden untersucht. Ihre Ergebnisse stellen die weit verbreitete Annahme in Frage, dass Menschen von Natur aus Mitglieder der eigenen Gruppe bevorzugen, und zeigen, dass wirtschaftliche Bedürfnisse die Kooperation zwischen Gruppen beeinflussen können. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, bei der Erforschung unterschiedlicher Gemeinschaften diese verschiedenen Faktoren zu berücksichtigen.

Wenn Menschen nicht kooperieren oder einander ablehnend gegenüberstehen, greifen Forschende und andere Personen häufig zu einer beliebten Erklärung: Die Gruppenidentität ist schuld. Manchmal wird auf eine vermeintlich universelle „Wir gegen die Anderen“-Psychologie verwiesen, nach der Gruppenmitglieder miteinander kooperieren, während sie im Wettbewerb mit anderen Gruppen stehen. Manchmal wird angenommen, dass soziale Diversität, einschließlich religiöser, politischer oder ethnischer Vielfalt, genau aus diesem Grund zu sozialem Unfrieden führt. Ist das eine vernünftige Schlussfolgerung? Inwieweit beeinflusst die Gruppenidentität Kooperation und Ablehnung und macht es einen Unterschied, ob man in einer Region mit mehr oder weniger stark ausgeprägten sozialen Ungleichheiten lebt?
In einer neuen Studie haben Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Penn State University in den USA die Beziehungen zwischen afrokolumbianischen Gruppen und indigenen Emberá-Gruppen in zwei Gemeinden im ländlichen Kolumbien untersucht. Die eine Gemeinde liegt an der ethnischen Grenze zwischen den großen Siedlungsgebieten der beiden Gruppen, die andere weit von der Grenze entfernt an der Küste, wo die Afrokolumbianer eine viel größere Bevölkerungsgruppe bilden und die Emberá als kleine Gruppe gelten, die unter schwierigeren wirtschaftlichen Bedingungen lebt. „Wir haben den Teilnehmenden Bilder von anderen Menschen aus ihrer Gemeinschaft gezeigt und sie erzählten, mit wem sie befreundet sind, wem sie helfen und wer ihnen hilft“, erklärt Anne Pisor, Direktorin des Human Sociality Lab an der Penn State University.
„Alle Teilnehmenden erhielten von uns einen kleinen Geldbetrag, den sie behalten oder anonym mit anderen teilen konnten“, ergänzt Cody Ross, Wissenschaftler in der Abteilung für Verhalten, Ökologie und Kultur des Menschen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Zusätzlich konnten sie auch ihr Geld ausgeben, um anderen Schaden zuzufügen, indem sie deren Geldmenge reduzieren. Wir untersuchten, inwieweit die eigene Gruppenidentität diese ökonomischen Entscheidungen beeinflusste.“
Wirtschaftliche Bedürfnisse als Triebfeder für Kooperation

Sowohl die afrokolumbianischen als auch die Emberá-Teilnehmenden waren eher mit Personen ihrer eigenen ethnischen Gruppe befreundet und halfen ihnen, was im Rahmen des Experiments auch Geldgeschenke beinhaltete. Es gab jedoch keine Anzeichen dafür, dass die Gruppenidentität einen Einfluss darauf hatte, ob Beträge reduziert wurden oder nicht. In der Gemeinschaft, die am weitesten von der ethnischen Grenze entfernt war - der Küstengemeinschaft - war es sogar weniger wahrscheinlich, dass Afrokolumbianer Geld von Emberá wegnahmen als von anderen Afrokolumbianern. Warum bekamen die Emberá mehr, sowohl von Mitgliedern der eigenen Gruppe als auch, entfernt der ethnischen Grenze, von Mitgliedern der fremden Gruppe?
In beiden Gemeinden sind die Emberá wirtschaftlich „bedürftiger“ als die Afrokolumbianer. An der ethnischen Grenze jedoch empfanden viele Afrokolumbianer die Emberá als bessergestellt, da sie dort einen höheren Status hatten. Mit anderen Worten: Die Wahrnehmung von Reichtum zählt manchmal mehr als der tatsächliche Reichtum. An der Küste sahen die Afrokolumbianer die Emberá aber zu Recht als wirtschaftlich benachteiligt an. Diese unterschiedliche Wahrnehmung der legitimen Bedürfnisse beeinflusste das Verhalten im ökonomischen Experiment und reduzierte den Gruppenidentitätsbonus im Küstengebiet. „Die Probandinnen und Probanden zeigten kein rein automatisches Verhalten von Kooperation mit Mitgliedern der eigenen Gruppe und Ablehnung gegenüber Mitgliedern der anderen Gruppe. Stattdessen achteten sie auf die Bedürfnisse und das frühere Verhalten anderer und nutzten die ethnische Zugehörigkeit (manchmal nicht ganz korrekt) als Indikator dafür, wer am bedürftigsten war“, fasst Ross zusammen.
Mehrere Faktoren bestimmen Kooperation und Antagonismus
Traditionell werden Hilfsbereitschaft innerhalb der eigenen Gruppe und Ablehnung gegenüber anderen Gruppen oft als Teil der „menschlichen Natur“ dargestellt. Das Verhalten von Menschen gegenüber anderen in und außerhalb ihrer eigenen Gruppe ist jedoch sehr flexibel. „Es sollte uns nicht überraschen, dass Dinge wie wirtschaftliche Bedürftigkeit und die Wahrnehmung von vergangenem Verhalten beeinflussen, ob wir mit jemandem kooperieren oder ihm ablehnend gegenüberstehen“, sagt Pisor. „Die Wahrnehmung anderer Gruppen als kooperativ oder nicht kooperativ, als wohlhabend oder nicht wohlhabend kann die Dynamik zwischen Gruppen in Gesellschaften mit religiöser, politischer oder ethnischer Vielfalt beeinflussen. Es ist also nicht zwingend ‚Wir gegen die Anderen‘ – und wir sollten uns davor hüten, dies im öffentlichen Diskurs zu suggerieren.“
In Übereinstimmung mit aktuellen Forschungsergebnissen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und darüber hinaus betont diese Studie, dass Gruppenzugehörigkeit nur einer der Faktoren ist, die das kooperative Verhalten von Menschen beeinflussen können. Forschende sollten mehrere Erklärungen für Kooperation und Konflikt in Betracht ziehen, nicht nur die Gruppenzugehörigkeit, und bedenken, dass wir manchmal verschiedene Arten von Daten benötigen – einschließlich dessen, was Menschen in der Vergangenheit getan haben, was sie jetzt tun und warum sie sagen, dass sie es tun – um die gesamte Dynamik des Verhaltens innerhalb und zwischen sozialen Gruppen zu verstehen.