Forschungsbericht 2024 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Die Plastizität von Gehirn und Verhalten: Eine integrative Forschungsperspektive

Autoren
Hille, Maike
Abteilungen
Forschungsbereich Entwicklungspsychologie und Forschungsbereich Umweltneurowissenschaften, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
 
Zusammenfassung
Mit Plastizität bezeichnen wir die Fähigkeit von Organismen, neuronale Strukturen in Reaktion auf Anforderungen der Umwelt dauerhaft und verhaltensrelevant zu verändern. Unsere Forschung verbindet Tiermodelle mit Untersuchungen im Humanbereich, um die Mechanismen der Plastizität beim Menschen besser zu verstehen. Unser Tiermodell vereint makroskopische und mikroskopische Methoden und erhöht damit die Interpretierbarkeit der auch beim Menschen anwendbaren makroskopischen Methoden. Langfristig kann dieser integrative Ansatz gezieltere Therapien bei neurologischen Erkrankungen ermöglichen.

Neuronale Plastizität 

Haben Sie sich jemals gefragt, was in Ihrem Gehirn geschieht, wenn Sie eine Fertigkeit neu erlernen? Die entsprechenden Veränderungen des Gehirns sind Beleg für seine Plastizität. Damit bezeichnen wir die Fähigkeit von Organismen, neuronale Strukturen in Reaktion auf Anforderungen der Umwelt dauerhaft und verhaltensrelevant zu verändern. Ein besseres Verständnis der Mechanismen, die Plastizität ermöglichen, kann langfristig dazu beitragen, Therapien für neurologische Erkrankungen oder für Rehabilitationsmaßnahmen nach Verletzungen gezielt zu verbessern.

Vor einigen Jahren machten Forscher am MPI für Bildungsforschung eine interessante Entdeckung. Im Rahmen eines mehrwöchigen Trainingsprogramms lernten junge, erwachsene Rechtshänder, mit ihrer linken Hand zu schreiben und zu zeichnen. Während des Trainings wurden die Gehirne der Probanden regelmäßig mit einem Magnetresonanztomographen (MRT) untersucht. Analysen der Gehirnbilder zeigten Veränderungen im Volumen der grauen Substanz in den primären motorischen Arealen. Vor allem im rechten motorischen Kortex dehnte sich die graue Substanz anfangs aus und ging danach wieder zurück – trotz Weiterführung des Trainings und fortgesetzter Leistungssteigerung. Die strukturellen Gehirnveränderungen in der grauen Substanz nahmen also einen nichtlinearen, umgekehrt U-förmigen Verlauf.[1]

Diskrepanz zwischen humaner Forschung und Tiermodellen 

Doch was genau hat ein solcher Verlauf zu bedeuten? Welche Mechanismen könnten ihm zugrunde liegen? Aufgrund technischer Einschränkungen und ethischer Grundsätze ist es in der Regel nicht möglich, die entsprechenden Mechanismen auf molekularer Ebene am Menschen zu untersuchen. Tierstudien hingegen erlauben detaillierte Einblicke in die Dynamik und Mechanismen der neuronalen Plastizität. Zum Beispiel kann das Entstehen und Vergehen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Laufe des Fertigkeitserwerbs mit mikroskopischen Methoden beobachtet werden.

Neuronale Plastizität wird in Tiermodellen und in der Humanforschung intensiv untersucht. Die Forschungsbemühungen werden aber nur selten mit dem Ziel koordiniert, die Interpretierbarkeit der Beobachtungen am Menschen zu erhöhen: Zum einen unterscheiden sich die Aufgaben und Umweltbedingungen in den Experimenten häufig erheblich voneinander und sind somit nicht gut vergleichbar, zum anderen werden unterschiedliche Untersuchungsmethoden verwendet. Während Tiermodelle detaillierte Einblicke auf zellulärer Ebene ermöglichen, liefern die nicht-invasiven Techniken der Humanforschung nur recht grobe „makroskopische“ Daten (zum Beispiel Veränderungen im Volumen der grauen Substanz). Derartige makroskopische Veränderungen können Ausdruck einer Vielzahl mikroskopischer Veränderungen sein. Erforderlich ist deswegen ein dezidiert integrativer Forschungsansatz, der Tiermodell und Humanforschung miteinander verbindet.[2]

Studie: Feinmotorisches Lernen bei Mäusen und Menschen 

Ein Beispiel für diese integrative Herangehensweise ist eine Untersuchung, in deren Verlauf Mäuse und Menschen eine feinmotorische Fertigkeit erlernen. Die Mäuse trainieren über mehrere Tage hinweg die sogenannte Single-Pellet-Reaching-Aufgabe. Dabei greifen sie mit ihrer bevorzugten Pfote ein kleines Futterstück durch einen schmalen Schlitz in einer Plexiglaswand. Für die menschlichen Teilnehmenden haben wir die Aufgabe angepasst: Sie sollen mit Essstäbchen mit Schokolade ummantelte Erdnüsse durch einen engen Spalt führen und in kleines Schälchen legen. Die Ähnlichkeit der motorischen Anforderungen an Maus und Mensch ermöglicht eine vergleichende Analyse der verhaltensbezogenen Lernkurven und der damit verknüpften plastischen Veränderungen des Gehirns (Abbildung 1).

Kombination der Methoden: Die Brücke vom Tiermodell zum Menschen 

Der zentrale Gedanke dieses Ansatzes ist also die Kombination von makroskopischen Methoden, die im Humanbereich weit verbreitet sind, mit mikroskopischen Verfahren, die im Tiermodell Anwendung finden können (Abbildung 2). Sowohl beim Menschen als auch bei den Mäusen werden mehrere MRT-Messungen über den Trainingsverlauf hinweg durchgeführt, sodass wir bei beiden Spezies Veränderungen der Gehirnstruktur auf makroskopischer Ebene über die Zeit beobachten können. Zusätzlich wird bei den Mäusen die Zwei-Photonen-Mikroskopie verwendet, die Erkenntnisse über Prozesse auf zellulärer Ebene erlaubt. Die Kombination makroskopischer und mikroskopischer Methoden am selben Tier kann Hinweise darauf liefern, wie grobe Veränderungen der Gehirnstruktur (wie Volumenänderung der grauen Substanz) mit feinen strukturellen Veränderungen auf Zellebene (wie Veränderung der Zellstruktur oder Neubildung von Synapsen) zusammenhängen. Da beim Menschen Verfahren wie die Zwei-Photonen-Mikroskopie nicht zur Anwendung kommen können, makroskopische Verfahren jedoch schon, ermöglicht dieser integrative Forschungsansatz neue Erkenntnisse über die Mechanismen der Plastizität des menschlichen Gehirns.

Langfristig kann dies die gezieltere Behandlung neurologischer Erkrankungen ermöglichen, bei denen die Plastizität des Gehirns eine wichtige Rolle spielt (beispielsweise bei der Rehabilitation nach Schlaganfall).

Beteiligte Institute 

Forschung zur Plastizität des Gehirns von Mensch und Tier findet zumeist an verschiedenen Institutionen, Abteilungen und Laboren statt. Unser hier beschriebener Forschungsansatz erfordert deshalb die enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Laboren. Während die Daten für den Erwerb der motorischen Fertigkeit beim Menschen am MPI für Bildungsforschung erhoben wurden, waren an der Datenerhebung im Tierbereich das MPI für Biologische Intelligenz in Martinsried sowie das MPI für Psychiatrie in München beteiligt. Zu den beteiligten Forschenden gehören unter anderem Tobias Bonhoeffer, Simone Kühn und Ulman Lindenberger.

Literaturhinweise

Wenger, E.; Kühn, S.; Verrel, J.; Mårtensson, J.; Bodammer, N. C.; Lindenberger, U.; Lövdén, M.
Repeated structural imaging reveals nonlinear progression of experience-dependent volume changes in human motor cortex.
Cerebral Cortex 27(5), 2911-2925 (2017)
Hille, M.; Kühn, S.; Kempermann, G.; Bonhoeffer, T.; Lindenberger, U.
From animal models to human individuality: Integrative approaches to the study of brain plasticity.
Neuron 112(21), 3522-3541 (2024)

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