Der Sonne entgegen
Dietmar Germerott vom Göttinger Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung war für elf Wochen auf der Ballon- und Raketenbasis Esrange Space Center in Nordschweden, um die Sunrise-III-Mission zu begleiten. Er erzählt, wie er den Start des ballongetragenen Sonnenobservatoriums erlebt hat.

„Na, gehst du wieder auf Klassenfahrt?“, fragte meine Frau, als ich ihr erzählte, dass ich nach Kiruna fliegen würde. Mittlerweile war ich schon so oft auf der nordschwedischen Ballon- und Raketenstartbasis, dass es sich für mich dort ein bisschen so anfühlt wie bei einem Klassentreffen. Viele Forschende und Techniker sind immer wieder vor Ort, und ich begegne jedes Mal alten Bekannten. Das Esrange Space Center liegt in Lappland inmitten der Natur, umgeben von Wäldern. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass auf einmal ein Rentier mitten auf dem Startplatz steht. Die Station bietet Platz für rund hundert Personen. Dieses Mal waren allerdings so viele Teams gleichzeitig da, dass ich vorübergehend in eine 25 Kilometer entfernt gelegene Unterkunft ausweichen musste. Im Sommer wohnt man dort in rustikalen Blockhütten. Im Winter entsteht auf dem Gelände jedes Jahr aufs Neue ein exklusives Eishotel.
Insgesamt verbrachte ich elf Wochen in Kiruna. Langeweile hatte ich nie, und auch vom gefürchteten Lagerkoller bin ich verschont geblieben. Tagsüber habe ich die meiste Zeit am Rechner gearbeitet. Abends bin ich öfters mit Kollegen zum Essen nach Kiruna gefahren. Einmal habe ich gemeinsam mit einem Freund von der Nasa einen Ausflug ins norwegische Narvik gemacht. Das Beste aber war für mich der Fuhrpark: Meine Eltern hatten eine Landwirtschaft, und schon als Kind bin ich Traktor oder Mähdrescher gefahren. Die gab es auf dem Esrange Space Center zwar nicht, dafür Radlader, Walze – und Hercules, ein riesiges Kran- und Startfahrzeug. Mit Radlader und Walze habe ich die Leute von Esrange in meiner Freizeit unterstützt, den Startplatz nach dem Winter zu ebnen und für die Saison vorzubereiten. Als Dank habe ich eine schicke Jacke mit passender Mütze bekommen. Und am Abreisetag gab es noch eine Überraschung: Ich durfte Hercules über den Startplatz lenken!
Sunrise ist das größte Sonnenobservatorium, das je den Erdboden verlassen hat. Der heliumgefüllte Ballon hat einen Durchmesser von 130 Metern. An diesem Ballon steigt die Gondel mit den Messinstrumenten bis in 37 Kilometer Höhe empor – dort sind die Bedingungen für die Sonnenbeobachtung ähnlich gut wie im Weltall. Nach zwei sehr erfolgreichen Sunrise-Missionen in den Jahren 2009 und 2013 sollte Sunrise III 2022 neue Details zur Sonnenatmosphäre liefern; der Flug musste jedoch wegen technischer Probleme kurz nach dem Start abgebrochen werden. Nun also der zweite Versuch.
Der Start von Sunrise ist an ein kurzes Zeitfenster um Mittsommer gebunden, wenn die Sonne nördlich des Polarkreises 24 Stunden am Himmel steht. Nur dann kann das Sonnenteleskop rund um die Uhr Daten sammeln. Doch das Wetter meinte es nicht gut mit uns: Der Juni war verregnet, und weil die empfindlichen Instrumente nicht nass werden dürfen, mussten wir den Start wieder und wieder verschieben. Schließlich hatten wir Anfang Juli, und die Stratosphärenwinde begannen bereits, sich abzuschwächen. Bald würde ihre Kraft nicht mehr ausreichen, um Sunrise westwärts bis nach Kanada zu tragen, wo die Landung geplant war.
Der 9. Juli war der letzte mögliche Starttag. Und tatsächlich: Die Wettervorhersage sah gut aus. Weil nachts die Winde abflauen, begannen wir gegen 21 Uhr mit den Vorbereitungen. Um 22.30 Uhr trat Hercules in Aktion und manövrierte Sunrise von der großen Halle zum Startplatz. Mithilfe eines Tanklastzugs wurde der Ballon mit Helium befüllt. Ganze 500 Kilogramm des Edelgases passen hinein. Allein das Aufpusten dauert gut eine Stunde. Am Schluss der Qualitätscheck: Sind alle Verbindungen okay? Funktioniert die Elektronik? Um etwaige Fehler im Nachhinein nachvollziehen zu können, zeichnen wir diesen letzten Check immer per Video auf. Dann endlich das ersehnte Kommando: „Ready for balloon lift-off“! Die Leine wurde gelöst. Um 6.24 Uhr hob Sunrise ab und stieg empor in den Himmel über Nordschweden.
Ich war unglaublich erleichtert. So richtig euphorisch war ich noch nicht, zu frisch war die Erinnerung an die Mission vor zwei Jahren. Auch nach einem geglückten Start kann ja noch einiges schiefgehen. Erschöpft und mit gemischten Gefühlen ging ich erst einmal frühstücken. Danach legte ich mich schlafen. Als ich am Nachmittag aufwachte und mich versichert hatte, dass weiterhin alles glattlief, fiel auch die letzte Anspannung ab. Sunrise war auf dem Weg!