Forschungsbericht 2024 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Martinsried)
Stabilität und Volatilität von Sinneseindrücken im Gehirn
Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Martinsried), Martinsried
In jeder Sekunde verarbeitet unser Gehirn eine Vielzahl von Signalen aus den Sinnesorganen. Neurone auf den ersten Stufen der sensorischen Verarbeitung, reagieren nur auf ganz bestimmte, einfache Reize: Erscheint der für eine Zelle "richtige" Reiz, "feuert" das Neuron. Um eine stabile Wahrnehmung unserer Umgebung zu gewährleisten müsste die Präferenz der Nervenzellen für "ihren" bevorzugten Sinnesreiz immer gleich bleiben. Aber ist dies wirklich so?
Neurone im visuellen Cortex zeigen Drift
Um dieser Frage nachzugehen, nahmen wir am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz in Martinsried den visuellen Cortex der Maus genauer unter die Lupe. Die Nervenzellen in diesem Teil des Gehirns antworten auf einfache Lichtreize, wie etwa hell-dunkel-Kanten oder Linien. Dabei ist die Orientierung der Kante im Raum entscheidend: manche Zellen feuern stark, wenn die Maus vertikale Linien sieht, während andere horizontale Linien oder solche in einem 45-Grad-Winkel bevorzugen. Diese als "Orientierungspräferenz" bekannte Eigenschaft prägt grundlegend, wie das Gehirn visuelle Informationen interpretiert und hilft dabei, Objekte in der Umgebung zu erkennen.

Um die Aktivität von Neuronen im visuellen Cortex über mehrere Wochen hinweg zu beobachten, brachten wir zunächst mit Hilfe eines (harmlosen) Virus den genetischen Bauplan für ein Calcium-sensitives, fluoreszierendes Protein in die Zellen ein (Abb. 1). Jedes Feuern eines Neurons führt so zu einem kleinen Lichtsignal, das mit einem sogenannten Zwei-Photonen-Mikroskop sichtbar gemacht werden kann. Durch das Präsentieren verschiedener visueller Reize, etwa Linienmuster unterschiedlicher Orientierungen, können wir feststellen, wie einzelne Nervenzellen auf diese Reize reagieren, das heißt, welche Orientierungspräferenz ein Neuron zeigt.
Bemerkenswerterweise verschoben sich die Orientierungspräferenzen der meisten Neurone langsam über die Zeit [1]. Ein Neuron, das etwa anfangs auf vertikale Linien reagierte, antwortete nach mehreren Wochen auf leicht geneigte Linien. Die Verschiebung war in den meisten Fällen nicht sehr groß, aber doch deutlich messbar. Das bedeutet, dass die neuronale Repräsentation selbst grundlegender Eigenschaften visueller Reize nicht völlig stabil bleibt, sondern"Drift" zeigt. Ähnliche Beobachtungen wurden auch in anderen Teilen des Gehirns gemacht. Es stellte sich die Frage, wie es dem Gehirn dennoch gelingt, aus den sich verändernden Signalen eindeutige und stabile sensorische Informationen über seine Umwelt zu gewinnen – genauer gesagt: welche Mechanismen sorgen dafür, dass diese Drift nicht zu groß wird?
Wie verhindert das Gehirn zu starke Drift?

Einen Hinweis darauf, welche Mechanismen Drift begrenzen könnten, lieferten kürzlich Experimente im Riechkolben der Maus, wo die Antworten auf bestimmte Geruchsreize ebenfalls Drift zeigten [2]. In diesem Fall hing die Stärke der Drift davon ab, wie häufig die Tiere zwischen den Messungen bestimmten Düften ausgesetzt waren: Hatten die Mäuse häufig Gelegenheit, die Düfte zu riechen, zeigte sich kaum Drift. Waren sie hingegen den Düften nicht ausgesetzt, war die Drift stärker. Offenbar erhöht die wiederholte Aktivierung der neuronalen Netzwerke durch sensorische Erfahrungen deren Stabilität und verhindert Drift. Aber ist dies auch im visuellen Cortex so? Und wie könnte man dies untersuchen?
Wir führten ein Experiment durch, bei dem wir die visuelle Erfahrung der Mäuse für einige Wochen mithilfe spezieller Brillen auf bestimmte Orientierungen beschränkten [3]. Die starken Zylinderlinsen in diesen Brillen bewirkten, dass alle Orientierungen bis auf eine herausgefiltert wurden (Abb. 2). Tatsächlich änderte sich die Orientierungspräferenz der Neurone: sie verschob sich in Richtung der Orientierung, der die Mäuse durch die Brillen ausgesetzt waren. Diese Beobachtung demonstriert, dass sensorische Erfahrungen die Richtung der Drift lenken können, indem sie neuronale Antworten an häufig auftretende Reize anpassen. Bemerkenswerterweise blieb die Stärke der Drift – also die Rate, mit der diese Veränderungen in der Orientierungspräferenz auftraten – konstant. Dies deutet darauf hin, dass im visuellen Cortex sensorische Erfahrungen zwar die Richtung der Drift beeinflussen können, nicht aber ihre Stärke, im Gegensatz zu der oben beschriebenen Situation im Riechkolben.
Welche Ursachen hat die Drift?
Die Daten unserer Studie ermöglichen auch einen genaueren Blick darauf, was eigentlich der Drift zu Grunde liegt. Generell wird angenommen, dass Drift durch Änderungen an den Synapsen, den Verbindungen zwischen Neuronen, verursacht wird. Wir vermuten, dass dabei zwei Komponenten eine Rolle spielen: zum einen die erfahrungsabhängige, synaptische Plastizität. Hierbei werden die Synapsen durch wiederholte Aktivierung mit spezifischen sensorischen Eingängen verstärkt. Zum anderen könnte ein weniger gut verstandener Prozess, die synaptische Volatilität, eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich um zufällige, erfahrungsunabhängige Veränderungen der synaptischen Stärke, ähnlich einem Wackelkontakt.
Das Zusammenspiel zwischen erfahrungsabhängiger Plastizität und synaptischer Volatilität ermöglicht es dem Gehirn, sowohl flexibel als auch stabil zu bleiben. Während synaptische Volatilität zufällige Veränderungen verursacht, die potenziell zu Destabilisierung führen könnten, lenkt die erfahrungsabhängige Plastizität die Drift in eine sinnvolle Richtung. Dieses Gleichgewicht stellt sicher, dass das Gehirn sich an neue sensorische Erfahrungen anpassen kann und gleichzeitig konstante Repräsentationen der Umwelt beibehält.
Zur Untermauerung dieser Hypothese entwickelten wir ein computergestütztes Netzwerkmodell, das diese neuronalen Prozesse simuliert. Unser Modell zeigte, dass die Kombination von erfahrungsabhängiger Plastizität und synaptischer Volatilität die in den Experimenten beobachteten Muster der Drift gut reproduzieren kann. Es prognostizierte auch, dass die Störung dieses Gleichgewichts – etwa durch Blockieren der erfahrungsabhängigen Plastizität – zu einer beschleunigten Drift führen würde. Diese Voraussage testen wir derzeit im Experiment.
Zusammenfassend zeigt unsere Studie, wie das Gehirn trotz ständiger Veränderungen auf synaptischer Ebene eine weitgehend stabile Wahrnehmung aufrechterhalten kann. Dabei spielt die permanente Erfahrung möglichst vieler unterschiedlicher Sinnesreize eine wichtige Rolle.