Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Ein Blick auf Gravitationswellen durch Einsteins Lupe
Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, Potsdam-Golm
Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Gravitation. Neben vielen bemerkenswerten Konsequenzen wurden zwei der von ihr vorhergesagten Phänomene später für die Erforschung des Kosmos unentbehrlich: Gravitationswellen und Gravitationslinsen. Beide Phänomene galten zunächst als Kuriositäten. Ihre Beobachtung erforderte jahrzehntelange Forschung und immense technische Fortschritte.
Gravitationswellen sind Störungen in der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) sagte sie bereits 1916 vorher; erstmals ließen sie sich 2015 mit den LIGO-Detektoren beobachten. 2017 wurde diese Entdeckung mit dem Nobelpreis für Physik gewürdigt. Gravitationswellen offenbaren einige der gewaltigsten Ereignisse im Universum: Verschmelzende Schwarze Löcher und Neutronensterne. Dank der wachsenden Zahl beobachteter Signale erfahren wir immer mehr über diese faszinierenden Objekte und ihren Ursprung.
Der Gravitationslinseneffekt, ebenfalls eine Konsequenz der ART, ist die Ablenkung von Lichtstrahlen durch Gravitationsfelder. Dabei wird das Abbild einer entfernten Lichtquelle verzerrt und vergrößert, und manchmal sogar in mehrere Bilder zerlegt (siehe Abb. 1). Dieses Phänomen wurde erstmals 1979 bei Mehrfachbildern des fernen Zwillingsquasars Q0957+561 beobachtet [1]. Gravitationslinsen fungieren als Lupe, mit der wir tiefer in das Universum blicken können. Noch wichtiger ist, dass diese Linseneffekte zahlreiche verschiedene Anwendungen finden, etwa bei der Suche nach Exoplaneten, der Interpretation von Bildern extrem massereicher Schwarzer Löcher oder der Kartierung der Verteilung Dunkler Materie.
In Zukunft wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beide Phänomene in ihrer Kombination beobachten: durch Gravitationslinsen abgelenkte Gravitationswellen. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten das Universum zu erforschen, aber auch Herausforderungen an die Charakterisierung und den Nachweis dieser Signale.
Abgelenkte Gravitationswellen: Neue Chancen für Entdeckungen
Im Labor und auch im Alltag können wir Beugungsphänomene beobachten: Etwa wenn Licht durch einen schmalen Spalt fällt oder wenn Wasserwellen um einen Steg herumlaufen. Beugung tritt auf, wenn die Wellenlänge mit der Größe des Hindernisses vergleichbar ist. Ein ähnliches Phänomen kann auch bei Gravitaitonswellen auftreten. Da diese aber nicht direkt mit Materie wechselwirken, kann diese Beugung nur im Gravitationsfeld der Linse entstehen. Um die Beugung von Licht durch Gravitationslinsen beobachten zu können, müssen die Gravitationslinsen eine der kurzen Lichtwellenlänge entsprechende extrem geringe Masse besitzen; das wiederum erschwerte ihre Beobachtung sehr. Bei langwelligeren Gravitationswellen dagegen lässt sich die gravitative Beugung an der Gravitaitonslinse beobachten.
Seit 20 Jahren ist bekannt, dass sich aus der Beugung abgelenkter Gravitationswellen die Eigenschaften des beugenden Objekts rekonstruieren lassen, einschließlich seiner Masse und dem Winkelabstand zur Gravitationswellenquelle [2]. Zusammen mit Kollegen in den USA haben wir dieses Konzept kürzlich erweitert: Mithilfe von abgelenkten Gravitationswellen lässt sich zusätzlich die Materieverteilung in der Linse herleiten [3].
Eine Gravitationswellenquelle hinter einer massereichen Linse, etwa einer Galaxie, kann in mehrere Signale aufgespalten werden. Diese Situation entspricht jener von Zwillingsquasaren, die Doppelbilder liefern. In jüngster Zeit haben wir jedoch Beugungssignaturen von Einzelbildern untersucht,wie sie häufiger vorkommen als jene von Mehrfachbildern, da sie eine weniger exakte Ausrichtung von Linse und Quelle entlang einer Linie erfordert [4]. In diesem Fall führt die Beugung zu einer Verzerrung des Signals. Daraus ergibt sich eine neue Methode gebeugte Gravitationswellen zu erkennen. In unserer Arbeit stellen wir einen Formalismus zur Untersuchung der Beugung an komplexen Gravitationslinsen vor, die realistischer sind als frühere Berechnungen. Wir zeigen auch, wie wir aus den Daten auf spezifische Eigenschaften schließen können (siehe Abb. 2).
Mit Linsenbeugung das Universum erforschen
Die Beugungsmuster in einem Gravitationswellensignal enthalten Informationen über Objekte entlang des Weges von der Gravitationswellenquelle zum Detektor. Da die Beugung sowohl von der Wellenlänge des Signals als auch von der Masse der Linse (also der Größe des Hindernisses) abhängt, lassen sich verschiedene Objekte mit unterschiedlichen Quellen untersuchen. Bodengestützte Detektoren wie LIGO, Virgo und das geplante Einstein-Teleskop können Linsen mit Massen im Bereich von ~ 1-1000 Sonnenmassen, so etwa Sternhaufen, aufspüren. Niederfrequenzdetektoren im Weltraum, wie die geplante LISA-Mission, werden in der Lage sein, die Beugung zu messen, die von sonst schwer zugänglichen Strukturen mittlerer Masse (etwa 106 bis 109 Sonnenmassen) verursacht wird, die wir in den äußeren Bereichen von Galaxien vermuten.
Strukturen mittlerer Masse bestehen hauptsächlich aus Dunkler Materie, der unbekannten Substanz, die 85 Prozent der Materie im Universum ausmacht. (Der Rest sind gewöhnliche Materie bestehend aus Atomen, Photonen und Neutrinos) [5]. Da sie fast keine Sterne oder Gas enthalten, sind diese Strukturen sehr schwierig zu untersuchen, aber auch sehr interessant: Die Kenntnis über ihre Häufigkeit und Gestalt helfen uns, Dunkle Materie zu verstehen. Dank ihrer hohen Empfindlichkeit können die LISA-Beobachtungen der Gravitationslinsenbeugung einen Katalog von Strukturen mittlerer Masse liefern und dazu beitragen, das Geheimnis der Dunklen Materie zu lüften - ein immer noch ungelöstes Rätsel der Physik.