Ein Kopierer fürs Erbgut

Mit einem unverständlichen Code kann niemand etwas anfangen – auch eine Zelle nicht. Patrick Cramer erforscht das Enzym, das den DNA-Code umschreibt, sodass aus einem Gen ein Protein entstehen kann. Dabei setzt er auf scharfe Mikroskope und auf künstliche Intelligenz.

Text: Andreas Lorenz-Meyer

Film ab! Es geht mitten hinein in den Zellkern. Wie das Gewinde einer Schraube bohrt sich die DNA-Doppelhelix in das aktive Zentrum der RNA-Polymerase. „Dort drinnen wird sie entwunden, und einer der beiden DNA-Stränge dient dann als Vorlage für das zu bildende Boten-RNA-Molekül“, erklärt Patrick Cramer, Direktor am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen. Auf Cramers Bildschirm erscheint die RNA als ein einzelner Strang, der sich aus dem Körper des Polymerase-Enzyms herausschlängelt. Er dient als Bauanleitung für ein neues Protein.

In der Fachsprache wird dieser Vorgang der Umschreibung von DNA in RNA als Transkription bezeichnet. „Sie ist der Prozess, der unser Erbgut zum Leben erweckt“, sagt Cramer. Kein Wunder, dass eine ganze Menge unserer Gene und Proteine nur dazu dient, Boten-RNA herzustellen – alles in ­allem rund 1800. Ein Akteur stellt alle anderen in den Schatten: das Enzym RNA-Polymerase II, das für die Produktion der Boten-RNA zuständig ist. „Unsere zentrale Kopiermaschine“, so nennt Cramer dieses aus mehreren Untereinheiten bestehende Enzym. Wenn er erzählt, dass das Enzym eine Kraft von 20 billionstel Newton entwickelt und 3000 Bausteine pro Minute in die RNA einbaut, ist dem 54-jährigen Chemiker und Strukturbiologen seine Bewunderung für die Leistungen des Moleküls anzumerken. Auch nach jahrelanger Forschung hat er nichts von seiner Begeisterung für die faszinierenden Vorgänge im Zellinnern verloren.

Die wissenschaftliche Laufbahn führte ihn von 1999 bis 2001 als Postdoc an die kalifornische Stanford University. Roger Kornberg, der später den Chemie-Nobelpreis erhielt, war dort sein Mentor. Cramer gelang es in dieser Zeit als Erstem, die komplizierte räumliche Struktur der RNA-Polymerase II zu entschlüsseln. Damit konnten die Forschenden zum ersten Mal einen Blick in das Innere dieser molekularen Maschine werfen. In Cramers Büro am Göttinger Faßberg steht ein Modell des Enzyms, das an eine bunte Koralle erinnert. Es zeigt unter anderem den Spalt im Molekül, in dem die DNA in RNA umgeschrieben wird.

Die Aufklärung der 3D-Struktur damals in Stanford war der Startpunkt für die Entschlüsselung der Transkription: Viele Fragen ließen sich nun beantworten. Zum Beispiel, wie die RNA-Polymerase an die Start­stelle eines Gens dirigiert wird. Oder warum das Enzym beim Entlang­gleiten an der DNA ständig Pausen einlegt: „Die sind nötig, weil manchmal Sand im Transkriptionsgetriebe ist. Dann eilen Helfermoleküle herbei, sogenannte Elongationsfaktoren. Sie beseitigen die Hürden – und die Transkription kann weitergehen“, erklärt Cramer. Um den Prozess immer weiter zu entschlüsseln, mussten die Forschenden im Lauf der Jahre wieder und wieder neue experimentelle und computerbasierte Methoden entwickeln.

Zwanzig Jahre später tritt die Transkriptionsforschung jetzt in ihre nächste Phase. „Bisher haben wir den Umschreibevorgang außerhalb der Zelle im Reagenzglas nachgestellt und untersucht. Nun wollen wir den Vorgang in seiner natürlichen Um­gebung analysieren“, so Cramer. „Wir möchten der RNA-Polymerase direkt bei der Arbeit zuschauen.“ Noch ist unklar, ob dies gelingt, denn auch dazu müssen wieder neue Methoden entwickelt werden. Zur Demonstration zukünftiger Arbeiten zeigt Patrick Cramer die elektronenmikroskopische Aufnahme von Teilen eines Zellkerns. Die DNA und ihre Begleitproteine erscheinen als körnige Masse. Aber von der Polymerase keine Spur! Noch, denn Cramers Abteilung testet gerade einen neuen Ansatz: eine Kombination aus Kryoelektronenmikroskopie und -tomografie. Bei der Kryoelektronentomografie bilden die Forschenden die körnige Masse aus unterschiedlichen Blickwinkeln ab. „Es wird schwer werden, die RNA-­Polymerase direkt zu sehen“, erklärt Cramer. „Deshalb wollen wir bekannte Strukturen wie Puzzleteile in die niedriger aufgelösten Tomografie-­bilder einpassen. Mithilfe künstlicher Intelligenz werden nun nicht nur die Bilder schärfer, sondern wir können auch die Struktur der Puzzleteile vorhersagen. So hoffen wir bald zu sehen, wie ein Gen während der Transkription aussieht.“ In der Forschung weiterzukommen ist das eine. Cramer versucht aber auch, neues Wissen einem größeren Publikum näherzubringen. Er schreibt allgemein verständliche Texte, hält öffentliche Vorträge und twittert. „Mir liegt am Herzen zu erklären, was wir tun und warum wir Grundlagenforschung brauchen.“ Wie dringend notwendig sie ist, dürfte in den vergangenen zwei­einhalb Jahren der Coronapandemie klar geworden sein.

Seit Ausbruch der Pandemie stehen Forschende wie nie zuvor im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Doch wie sich positionieren in solch unruhigen Zeiten, in denen Fake News und Verschwörungstheorien die öffentliche Diskussion und die Demokratie gefährden? Patrick Cramer sieht die Wissenschaft als Anwältin der Vernunft und als Ausgangspunkt einer faktenbasierten Politik. „Gerade bei Themen, die für die Menschen unmittelbar relevant sind, müssen wir Stellung beziehen. Wir müssen klar sagen, was wir wissen, aber auch, was nicht.“

Blockierte Polymerase soll Virus stoppen

Auch in seinem Forscheralltag ist das ­Virus angekommen, denn Sars-CoV-2 besitzt ebenfalls eine RNA-Polymerase. Wer sie blockieren kann, kann vielleicht auch die Vermehrung des Virus stoppen. Cramer erinnert sich nur allzu gut an den Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020: „Wir wussten, dass wir keinen Wirkstoff her­beizaubern können. Aber mit Polymerasen kannten wir uns aus – also legten wir los.“ Ein halbes Dutzend Mitarbeitende kehrte sofort aus dem Home­office ins Labor zurück – unter den geltenden Sicherheitsauflagen natürlich. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann – und gegen Forschungsgruppen aus China. Die hatten ein wenig früher angefangen, aber Patrick Cramers Team konnte den Rückstand aufholen. Euphorische Momente und Rückschläge wechselten sich ab. Anfang April 2020 – also nur sechs Wochen nachdem Corona Europa erreicht hatte – war es so weit: Nahezu zeitgleich veröffentlichten die Teams aus Deutschland und China die Struktur der Viruspolymerase. Anders als die Daten aus Fernost zeigten die Göttinger Analysen auch neuartige Molekülhäkchen der Coronapolymerase. Mit diesen Häkchen kann sich die Polymerase am Erbgut festklammern, bis sie es kopiert hat. Das ist ­gerade für das Coronavirus wichtig, denn sein Genom besteht aus rund 30 000 Bausteinen und ist damit besonders lang, das Kopieren also eine echte Mammutaufgabe.

In den folgenden Monaten untersuchte Cramers Team auch die Wirkweise antiviraler Medikamente. Die Forschenden konnten zeigen, warum der antivirale Wirkstoff Remdesivir, der 2020 als erstes Covid-19-Medikament zugelassen worden war, bei Covid-19 eher schwach wirkt. „Remdesivir behindert zwar die Polymerase in ihrer Arbeit, tut dies allerdings erst mit einiger Verzögerung. Und das Medikament stoppt das Enzym auch nicht vollständig“, erklärt Patrick Cramer.

Im Unterschied dazu wirkt Molnupiravir – eine Verbindung, die ursprünglich als Grippemedikament entwickelt wurde, ganz anders gegen Sars-CoV-2. Wie die Göttinger Forschenden im Detail zeigten, beeinträchtigt Molnupiravir die Funktion der Kopiermaschine nicht wie Remdesivir direkt. Stattdessen sorgt der Wirkstoff dafür, dass es bei der Vervielfältigung des Viruserbguts zu Mutationen kommt. Das Virus kann sich dadurch nicht mehr vermehren. Seit Anfang 2022 kann das Medikament in verschiedenen Ländern zur Behandlung von Covid-19 eingesetzt werden.

Im dritten Jahr nach Ausbruch der Pandemie wird es nun erneut spannend in Göttingen: Cramers Team will einen Wirkstoff finden, der die Polymerase des Virus stark blockiert und so die Vermehrung des Erregers noch besser hemmt. Dafür arbeiten die Forschenden mit Kolleginnen und Kollegen am Dortmunder Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie zusammen. Gemeinsam haben sie mehr als 300 000 Substanzen auf potenzielle Wirkstoffe hin untersucht, welche die Viruspolymerase hemmen.

Damit stehen die Forschenden aber erst am Anfang: Das ebenfalls in Dortmund ansässige Lead Discovery Center soll jetzt dabei helfen, den unter Pharmaforschenden berüchtigten Graben zwischen Wirkstoff- und Medikamentkandidaten zu überbrücken und die Entwicklung neuer Medikamente zu erleichtern. „Der Markenkern der Max-­Planck-Gesellschaft ­ist die Grundlagenforschung. Gleichzeitig sollten wir jedoch dafür sorgen, neues Wissen mit potenziellem Nutzen für die Menschen auch zur Anwendung zu bringen“, betont Cramer.

Die Förderung innovativer Forschung wird Cramer in den nächsten Jahren noch intensiver beschäftigen – dann jedoch weniger als Institutsdirektor, sondern als Präsidenten der Max-­Planck-Gesellschaft. Im Juni hat ihn der Senat der Forschungsorganisation zu Martin Stratmanns Nachfolger gewählt. Im Juni 2023 wird Cramer das Amt übernehmen.

Welche Grundsätze hat er für seine Amtszeit? „Zum Beispiel, dass Exzellenz mehr bedeutet als herausragende Forschungsergebnisse. Unser Anspruch muss höher liegen, denn nicht alles, was man messen kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann man messen. Exzellenz erfordert es, Forschungsneuland zu betreten, etwas ­zu wagen. Wir haben das Privileg, dass wir selbst festlegen, wohin wir gehen.“ Genauso wichtig ist für den designierten Präsidenten die Pflege der ­Arbeitskultur: „Als Max-Planck-Gesellschaft sind wir nur so gut, wie wir unsere Mitarbeitenden behandeln. Die Förderung von Nachwuchs und Diversität hat zentrale Bedeutung.“

Bekenntnis zu den eigenen Werten

Auch der Umgang mit nicht demokratischen Staaten wird den zukünftigen Präsidenten fordern. Er ist ein Spagat, wie Cramer aus eigener Erfahrung weiß. „Wir sollten Wege finden, die Forschung, die für die Zukunft der Menschen wichtig ist, gemeinsam voranzubringen. Aber wir müssen auch klar benennen, was nicht mit unseren Werten vereinbar ist. Wenn Doktoranden und Postdocs aus dem Ausland zu uns kommen, dann lernen sie auch etwas über unsere Kultur. Das prägt die jungen Menschen und trägt zur Verständigung bei.“ Und Russland? Cramer findet es richtig, dass die Allianz der Wissenschaftsorganisationen nach dem Angriff auf die Ukraine alle Kooperationen mit russischen Instituten ausgesetzt hat. Aber es gibt da nicht nur die politische Ebene, sondern auch die persönliche: An Cramers ­In­stitut sind 27 russische und zehn ukrainische Mitarbeitende beschäftigt. Bei Kriegsbeginn reagierte Cramer sofort. Er schrieb den russischen Mitarbeitenden, dass sie weiter willkommen sind. Und den ukrainischen bot er Hilfe an. Mehrere Verwandte aus der Ukraine sind danach in Göttingen untergekommen.

Die Forschung zur Transkription wird inzwischen auch durch viele ehemalige Mitarbeitende von Cramer in deren eigenen Labors in verschiedenen Ländern vorangetrieben. So kann Patrick Cramer sich auf das neue Amt vorbereiten: Er reist zu den 85 Max-­Planck-Instituten. „Ich möchte beides wissen: welche Sorgen bestehen und welche Ideen und Träume es gibt.“ Corona, der Angriffskrieg Russlands, steigen­de Bau- und Energiepreise – das alles geht auch an der Max-Planck-Gesellschaft nicht spurlos vorbei. „Aber gerade deswegen müssen wir dazu beitragen, positive Zukunftsbilder zu entwickeln und neue Handlungsoptionen aufzuzeigen. Wer, wenn nicht wir?“

Auf den Punkt gebracht

  • Das Enzym RNA-Polymerase II ist das zentrale Enzym der Transkription, bei der ein Genabschnitt auf der DNA in ein RNA-Molekül umgeschrieben wird. Die Entschlüsselung der räumlichen Struktur der Polymerase und der Transkription ist ein Meilenstein in der Molekularbiologie.

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