Die Macht der Unschärfe

Was muss die Politik über die Welt wissen, um sie richtig regieren zu können? Wer kann und soll es ihr sagen? Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Doch während Erklärungen vergangener Ereignisse für die Politik eher uninteressant erscheinen, sind Prognosen kaum zu treffen. Dennoch: Einfluss und Nutzen der Sozialwissenschaften lassen sich nicht bestreiten.

Für jeden gegenwärtigen Zustand gibt es mehr als eine gültige Erklärung

Nicht, dass wirkliches Wissen geschadet hätte, etwa ein funktionierendes historisches Kurzzeitgedächtnis, in dem die LTCM-Krise, das Platzen der Technologieblase, die Asienkrise und ähnliche Ereignisse der Zeit nach 1972 noch präsent gewesen wären. Dem Forscher, dem nur modelltheoretisches, nicht aber historisches Wissen als solches gilt, war der Zugang hierzu freilich erschwert. Versperrt war er allerdings nicht: Seine Modelle hätten nur die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen dürfen, dass Märkte auch einmal nicht effizient sein können. Im groupthink der Disziplin hätte ihn das zum Außenseiter gemacht – von denen es, dem unter Ökonomen starken Konformitätsdruck zum Trotz, tatsächlich immer noch ein paar gibt. Sie kannten gute Gründe für die Vermutung, dass es irgendwann und bald wieder einen Crash geben würde, weil es einen Kapitalismus ohne Crash (noch?) nicht gibt. Aber welche Gestalt der Crash annehmen, wo er beginnen und wie oder ob er enden würde, konnten auch sie nicht wissen.

Dass sie dies nicht wissen konnten, liegt nun nicht an mangelnder Forschung, sondern im Wesen der Sache: in der Natur der sozialen Welt und der Art des Wissens, das wir bestenfalls über sie erwerben können. Mittlerweile spricht sich herum, dass die Sozialwissenschaften außerstande sind, sogenannte point predictions – Vorhersagen über einzelne Fälle – zu machen. Tatsächlich aber dürften point predictions die einzigen Vorhersagen sein, an denen die Politik interessiert sein könnte.

So mag es gut sein zu wissen, dass wirtschaftliches Wachstum zur Entstehung stabiler Demokratien beiträgt. Was man als politischer Praktiker aber vor allem wissen müsste, wäre, ob das etwa auch für China oder die Philippinen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gilt. Darüber aber kann die Wissenschaft nichts sagen. Alles, was sie liefern kann, sind Wahrscheinlichkeitsaussagen ohne Einzelfallgarantie, für Demokratisierung ebenso wie für Wahlausgänge und Militärputsche oder den Ausbruch und Ausgang von Kriegen und – natürlich – Finanzkrisen.

Dass die Sozialwissenschaften nichts über einzelne Fälle sagen können, hat solide logische Gründe und ist auch durch noch so ingeniöse Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Werkzeugkastens nicht zu ändern. Jede Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse hat es mit Fallzahlen zu tun, die niedriger sind als die Zahl der Faktoren, die als Erklärung in Frage kommen. Damit aber gibt es für jeden gegenwärtigen Zustand unvermeidlich mehr als eine gültige Erklärung. Und jeder zukünftige Zustand entsteht als einmaliges Resultat eines einmaligen Zusammenwirkens vieler Faktoren – als Unikat, für das es keine Normalverteilung gibt und dessen Besonderheiten sich daher nicht aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten herleiten lassen.

Man kann das auch noch weiter zuspitzen: In der Unmöglichkeit, sich eine von Zufällen bereinigte Zukunft vorzustellen, erweist sich die wesentliche Geschichtlichkeit der sozialen Welt. Geschichte vollzieht sich durch Ereignisse, die auch hätten ausbleiben können und dann eine andere Geschichte zugelassen hätten. Ohne den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution, die nicht hätten stattfinden müssen, wäre das 20. Jahrhundert anders verlaufen und hätte sich der moderne Kapitalismus anders entwickelt; wie anders, kann aber niemand wissen. Ohne die Vernichtung der Dinosaurier durch den Einschlag eines Meteoriten gäbe es keine Säugetiere und damit keine Menschen. Das kann man wissen, ohne dass man wissen könnte, was aus den Dinosauriern geworden wäre, wenn sie hätten weitermachen dürfen (ob etwa ihre gegenwärtigen Nachkommen mit Messer und Gabel oder mit Stäbchen essen würden).

Historische Ereignisse wie der Zusammenbruch des Kommunismus 1989, die Wiedervereinigung oder die gegenwärtige Finanzkrise können nachträglich als wahrscheinlich rekonstruiert oder gar für unvermeidlich erklärt werden; solange sie aber noch nicht eingetreten sind, können andere Ereignisse sie verhindern, aufschieben oder modifizieren, ohne dass jemand jemals wissen könnte, dass sie gerade im Begriff waren, einzutreten.

Noch lieber als Vorhersagen wären der Politik sozialtechnische Handlungsanweisungen zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung. Politiker stellen sich die Gesellschaft gerne als Maschine mit Stellschrauben vor: Man dreht an der richtigen Schraube, und die Welt funktioniert nach Wunsch. Aufgabe der Wissenschaft ist, die Stellschrauben lesbar zu beschriften.

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