Die Macht der Unschärfe

Was muss die Politik über die Welt wissen, um sie richtig regieren zu können? Wer kann und soll es ihr sagen? Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Doch während Erklärungen vergangener Ereignisse für die Politik eher uninteressant erscheinen, sind Prognosen kaum zu treffen. Dennoch: Einfluss und Nutzen der Sozialwissenschaften lassen sich nicht bestreiten.

von Wolfgang Streeck; in: MaxPlanckForschung 3/10

Ehrgeizigstes Ziel der modernen Sozialwissenschaften ist die Entwicklung von Theorien, die beobachtete Tatsachen als Wirkungen ihrer Ursachen erklären. Woran liegt es, dass die Geburtenrate seit Jahrzehnten zurückgeht, die Wahlbeteiligung überall in Europa sinkt und große Teile Afrikas sich nicht entwickeln? Politiker, als Menschen der Tat, interessieren sich für Erklärungen allerdings nur dann, wenn das, was sie erklären, für sie von praktischer Bedeutung ist und die von der Theorie behaupteten Ursachen mit politischen Mitteln so beeinflusst werden können, dass sich ihre Wirkungen in eine gewollte Richtung verändern.

Eine Theorie, die abnehmende Schulleistungen auf beschleunigte biologische Entwicklungsprozesse im Jugendalter zurückführt, mag wahr oder falsch sein, ist aber politisch uninteressant (außer dass sie dazu verwendet werden könnte, die Regierung von Verantwortung freizusprechen). Anders wäre das bei einer Erklärung durch gestiegene Klassengrößen oder, sagen wir, die Abschaffung der Kopfnoten: Hier kann die ermittelte Ursache als Hebel genutzt werden – durch die Regierung, um die Leistungen der Schüler zu verbessern, oder durch die Opposition, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Viele Forscher halten die Fähigkeit zur Prognose für das Merkmal einer guten Theorie

Anders als für Erklärungen interessieren sich Politiker fast immer für Vorhersagen. Auch diese beruhen auf Theorien und sind im Prinzip ebenfalls Erklärungen, allerdings zukünftiger statt gegenwärtiger oder vergangener Zustände. Viele Forscher, einschließlich einiger Sozialwissenschaftler, halten die Fähigkeit zur Prognose für das eigentliche Merkmal einer guten Theorie. Da Politiker ständig Wetten auf die Zukunft eingehen müssen, sehen sie das ähnlich.

Wer deshalb als Wissenschaftler Auskunft darüber verspricht, um wie viel die Wirtschaft im nächsten Jahr wachsen oder schrumpfen wird, was in den nächsten zehn Jahren die Berufe mit den höchsten Zuwachsraten sein werden, wie viele zusätzliche Geburten ein weiteres Elterngeld bewirken wird und welcher neue Spitzenkandidat seine Partei nach vorne bringen könnte – der kann sich nicht nur aufmerksamer Zuwendung, sondern auch umfangreicher Zuwendungen von Regierungen und Parteien sicher sein.

Jedoch gibt es gute Gründe zu vermuten, dass es mit der Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften nicht nur gegenwärtig und zufällig, sondern auch grundsätzlich nicht weit her ist. „Why did no one see this coming?“, fragte die Queen im November 2008 bei einem Besuch der London School of Economics und bezog sich dabei auf die weltweite Finanzkrise. Die Antwort der Wissenschaftler als Interessenvertreter ihrer selbst hätte lauten können: Weil nicht genug in die Forschung investiert wurde. Aber so hartgesotten waren selbst die Ökonomen damals nicht; der Schock war wohl zu groß.

Noch Anfang 2008 sagten die sechs größten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute für 2009 im Durchschnitt ein Wachstum der Volkswirtschaft um 1,6 Prozent voraus. Im April 2009 hatten sie ihre Prognosen auf durchschnittlich minus 4,1 Prozent korrigiert, mit Extremwerten von „deutlich mehr als minus 3,0“ bis minus 5,0 Prozent. Eine Katastrophe? Mittlerweile werden wieder munter Prognosen in die Welt gesetzt – wie immer auf Zehntelprozente genau. Und die Politik nimmt sie gerne entgegen und zitiert sie, als sei nichts gewesen. Eine bessere Antwort auf die Frage der Queen hätte gelautet: Einige haben es kommen sehen, schon weil jedes Ereignis immer von einigen vorhergesagt wird, wenn die Zahl der Vorhersager nur groß genug ist. Sogar beim Lotto gewinnt ja in der Regel jemand, und zwar zweimal pro Woche. Hier wie da kann man recht haben, ohne irgendetwas gewusst zu haben.

Für jeden gegenwärtigen Zustand gibt es mehr als eine gültige Erklärung

Nicht, dass wirkliches Wissen geschadet hätte, etwa ein funktionierendes historisches Kurzzeitgedächtnis, in dem die LTCM-Krise, das Platzen der Technologieblase, die Asienkrise und ähnliche Ereignisse der Zeit nach 1972 noch präsent gewesen wären. Dem Forscher, dem nur modelltheoretisches, nicht aber historisches Wissen als solches gilt, war der Zugang hierzu freilich erschwert. Versperrt war er allerdings nicht: Seine Modelle hätten nur die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen dürfen, dass Märkte auch einmal nicht effizient sein können. Im groupthink der Disziplin hätte ihn das zum Außenseiter gemacht – von denen es, dem unter Ökonomen starken Konformitätsdruck zum Trotz, tatsächlich immer noch ein paar gibt. Sie kannten gute Gründe für die Vermutung, dass es irgendwann und bald wieder einen Crash geben würde, weil es einen Kapitalismus ohne Crash (noch?) nicht gibt. Aber welche Gestalt der Crash annehmen, wo er beginnen und wie oder ob er enden würde, konnten auch sie nicht wissen.

Dass sie dies nicht wissen konnten, liegt nun nicht an mangelnder Forschung, sondern im Wesen der Sache: in der Natur der sozialen Welt und der Art des Wissens, das wir bestenfalls über sie erwerben können. Mittlerweile spricht sich herum, dass die Sozialwissenschaften außerstande sind, sogenannte point predictions – Vorhersagen über einzelne Fälle – zu machen. Tatsächlich aber dürften point predictions die einzigen Vorhersagen sein, an denen die Politik interessiert sein könnte.

So mag es gut sein zu wissen, dass wirtschaftliches Wachstum zur Entstehung stabiler Demokratien beiträgt. Was man als politischer Praktiker aber vor allem wissen müsste, wäre, ob das etwa auch für China oder die Philippinen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gilt. Darüber aber kann die Wissenschaft nichts sagen. Alles, was sie liefern kann, sind Wahrscheinlichkeitsaussagen ohne Einzelfallgarantie, für Demokratisierung ebenso wie für Wahlausgänge und Militärputsche oder den Ausbruch und Ausgang von Kriegen und – natürlich – Finanzkrisen.

Dass die Sozialwissenschaften nichts über einzelne Fälle sagen können, hat solide logische Gründe und ist auch durch noch so ingeniöse Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Werkzeugkastens nicht zu ändern. Jede Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse hat es mit Fallzahlen zu tun, die niedriger sind als die Zahl der Faktoren, die als Erklärung in Frage kommen. Damit aber gibt es für jeden gegenwärtigen Zustand unvermeidlich mehr als eine gültige Erklärung. Und jeder zukünftige Zustand entsteht als einmaliges Resultat eines einmaligen Zusammenwirkens vieler Faktoren – als Unikat, für das es keine Normalverteilung gibt und dessen Besonderheiten sich daher nicht aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten herleiten lassen.

Man kann das auch noch weiter zuspitzen: In der Unmöglichkeit, sich eine von Zufällen bereinigte Zukunft vorzustellen, erweist sich die wesentliche Geschichtlichkeit der sozialen Welt. Geschichte vollzieht sich durch Ereignisse, die auch hätten ausbleiben können und dann eine andere Geschichte zugelassen hätten. Ohne den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution, die nicht hätten stattfinden müssen, wäre das 20. Jahrhundert anders verlaufen und hätte sich der moderne Kapitalismus anders entwickelt; wie anders, kann aber niemand wissen. Ohne die Vernichtung der Dinosaurier durch den Einschlag eines Meteoriten gäbe es keine Säugetiere und damit keine Menschen. Das kann man wissen, ohne dass man wissen könnte, was aus den Dinosauriern geworden wäre, wenn sie hätten weitermachen dürfen (ob etwa ihre gegenwärtigen Nachkommen mit Messer und Gabel oder mit Stäbchen essen würden).

Historische Ereignisse wie der Zusammenbruch des Kommunismus 1989, die Wiedervereinigung oder die gegenwärtige Finanzkrise können nachträglich als wahrscheinlich rekonstruiert oder gar für unvermeidlich erklärt werden; solange sie aber noch nicht eingetreten sind, können andere Ereignisse sie verhindern, aufschieben oder modifizieren, ohne dass jemand jemals wissen könnte, dass sie gerade im Begriff waren, einzutreten.

Noch lieber als Vorhersagen wären der Politik sozialtechnische Handlungsanweisungen zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung. Politiker stellen sich die Gesellschaft gerne als Maschine mit Stellschrauben vor: Man dreht an der richtigen Schraube, und die Welt funktioniert nach Wunsch. Aufgabe der Wissenschaft ist, die Stellschrauben lesbar zu beschriften.

Es besteht ein Bedürfnis, mit Gründen überzeugt statt mit Reizen gesteuert zu werden

Woher kommen diese mechanistische Weltsicht und die sozialtechnischen Utopien, die sich aus ihr speisen? Offenkundig ist der Traum von wissenschaftlichen Techniken zur Verhaltenssteuerung noch nicht ausgeträumt – von Techniken, die keinen Widerstand auslösen, weil die Betroffenen ihren Einsatz gar nicht bemerken. Viele glauben, dass deren Entwicklung die eigentliche Aufgabe einer wirklich wissenschaftlichen Sozialwissenschaft sei. So wird man als Sozialwissenschaftler immer wieder von Kollegen aus den Naturwissenschaften nach Maßnahmen gefragt, mit denen man die „Technikfeindlichkeit“ der Öffentlichkeit ausschalten könnte; schließlich sei das doch das Gebiet, auf dem man sich auskenne.

Anders als in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften besteht aber der Objektbereich der Sozialwissenschaften selbst aus beobachtungs- und handlungsfähigen Subjekten, denen keineswegs gleichgültig ist, was die Wissenschaft über sie behauptet und wozu ihre Erkenntnisse von der Politik verwendet werden. Menschen erkennen Versuche, ihr Handeln zu steuern, und ordnen ihnen Intentionen zu, auf die sie wiederum mit eigenen Intentionen reagieren. Zu diesen gehört ein elementares Bedürfnis, mit Gründen überzeugt statt mit Reizen gesteuert zu werden.

Alle demokratischen Gesellschaften – also Gesellschaften, deren Mitglieder etwas zu sagen haben – unterwerfen deshalb den Einsatz verhaltenssteuernder Techniken strengen Regeln. So wäre, selbst wenn die Forschung über „Neuro-Marketing“ hielte, was ihre Betreiber der Welt versprechen, damit zu rechnen, dass die Anwendung ihrer Ergebnisse rechtlich eng begrenzt würde.

Ebenso wie die Sozialwissenschaften die Zukunft nicht vorherzusagen vermögen, bleiben die Reaktionen handelnder Subjekte auf wissenschaftliche Steuerungsversuche unberechenbar. Sozialwissenschaftliche Theorien lassen sich nicht geheim halten. Ihr Einsatz zur Verhaltenskontrolle wird über kurz oder lang bemerkt, auf seine Absichten hin untersucht und absichtsvoll beantwortet. So wollten die Forscher bei den berühmten Hawthorne-Experimenten (1924 bis 1932) herausgefunden haben, dass Arbeiterinnen auch ohne Lohnerhöhung schneller und besser arbeiten, wenn man freundlich zu ihnen ist und die Wände ihrer Werkstatt gelb anstreicht. Aber nachdem sich unter den Beschäftigten herumgesprochen hatte, dass das Management mit seinen guten Worten und der gelben Farbe lediglich Geld sparen wollte, kam es zu Lohnforderungen und einem Streik.

Ein ähnliches Schicksal traf postum John Maynard Keynes, der doch besser als alle anderen Ökonomen seiner Zeit verstanden hatte, wie wichtig Erwartungen für das Verhalten sind. Als in den 1970er-Jahren die Keynesianische Globalsteuerung der Wirtschaft mittels Geld- und Fiskalpolitik zur etablierten Praxis geworden war, reagierten Unternehmen und Konsumenten immer zögerlicher auf sinkende Zinsen; sie glaubten nämlich, bei anhaltender Stagnation mit weiteren Zinssenkungen rechnen zu können. Am Ende funktionierte die Theorie nicht mehr, weil sie allgemein bekannt und zur Grundlage eigensinnigen strategischen Handelns ihrer Objekte geworden war.

Viele andere Facetten des Verhältnisses zwischen Prognosen über menschliches Handeln und diesem selbst ließen sich noch beschreiben. Für alle gilt: Die Tatsache, dass sozialwissenschaftliche Theorien in der Welt, die sie analysieren, zur Kenntnis genommen werden können, beeinflusst ihre Geltung auf die eine oder andere Weise.

Gesundbeterei kann die soziale Welt tatsächlich heilen

Eine besondere Variante dieses Zusammenhangs ist der Einsatz von Prognosen in der Wirtschaftspolitik. Wenn die Wissenschaft eine günstige Entwicklung vorhersagt, fassen die Wirtschaftssubjekte – zumindest glauben das Wirtschaftswissenschaftler wie Politiker – Mut und investieren oder konsumieren. Sie werden, im Jargon dessen, was Wirtschaftswissenschaftler unter Psychologie verstehen, „optimistisch“. Sind die Vorhersagen dagegen schlecht, breitet sich „Pessimismus“ aus, Investitionen und Konsum gehen zurück.

Nun ist die Wirtschaft ein Handlungssystem. Daher sind – und das hat niemand besser erkannt als Keynes – die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte für das, was in ihr geschieht, von kausaler Bedeutung. Und in der Tat ist Robert K. Mertons Begriff der self-fulfilling prophecy kaum irgendwo so sehr in das Alltagsverständnis eingeflossen wie in der Wirtschaftspolitik.

Denkt man die Sache zu Ende, ergibt sich die paradoxe Möglichkeit, dass eine Vorhersage, die ursprünglich und objektiv falsch war, dadurch richtig werden kann, dass sie bekannt gemacht wird: Wenn eigentlich schlechte Zeiten bevorstehen, kann die falsche Vorhersage guter Zeiten dazu führen, dass die schlechten Zeiten ausbleiben und alles gut ausgehen wird. Politiker, die angesichts einer bevorstehenden Krise nicht mehr weiterwissen, verlegen sich deshalb gerne darauf, die Krise kleinzureden oder zu leugnen, in der Hoffnung, dass sie dann auch klein bleibt. Drücken hingegen andere Mitglieder der politischen Klasse (vor allem solche, die sich gerade in der Opposition befinden) die Befürchtung aus, es könne schlimm werden, beschuldigt man sie, sie wollten die Katastrophe herbeireden – selbst wenn diese nach allen wissenschaftlichen Kriterien objektiv bevorsteht.

Auch Ökonomen können in oder vor einer Krise in diesem Sinne zu Staatsmännern mutieren und sich überreden lassen, ihre Prognosen nach oben zu verschönern, um Panik zu vermeiden und der Wirtschaftspolitik die Arbeit zu erleichtern. Die Verantwortung des Wissenschaftlers bestünde dann nicht mehr in der Berechnung der Welt, sondern vielmehr in ihrer Beeinflussung durch die gezielte Massage von Daten und Methoden.

Im Extremfall, wie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, können dann Elitenkartelle entstehen, deren Mitglieder sich gegenseitig zu ostentativem Optimismus verpflichten, egal in welche Abgründe sie geblickt haben und noch blicken. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn in einer Situation hoher Ungewissheit ohnehin keine geeigneten Instrumente zur Verfügung stehen?

So können sich Politik und Wissenschaft – und gerade deren positivistischste Spielart – in Magie verwandeln: in einen Versuch, das Schreckliche dadurch zu verhindern, dass man seine Benennung verbietet und das Gute beschwört. Politiker als hochtrainierte Spezialisten für Sprachregelungen neigen ohnehin zu einem magischen Weltbild, über das man sich durchaus zu Recht lustig machen kann. Sein rationaler Kern aber ist die besondere Reaktionsfähigkeit der sozialen Welt: dass sie mitunter tatsächlich durch Symbole beeinflusst und durch Gesundbeterei geheilt werden kann. Rechtfertigt das, sie in ihrem unterstellten Interesse zu belügen?

Ich lasse das dahingestellt und merke lediglich an, dass auch hier gilt, dass Steuerung dann scheitern kann, wenn ihre Instrumente als solche durchschaut werden. Positive Prognosen müssen für wissenschaftlich wahr gehalten werden, wenn sie den Optimismus auslösen sollen, den sie auslösen müssen, um wahr werden zu können. Würde bekannt, dass sie um dieses Ergebnisses willen frisiert worden sind, wäre nicht Optimismus die Folge, sondern ein tiefer Verlust von Vertrauen – und ein Absturz, der weit schlimmer sein könnte als alles, was man bis dahin für möglich gehalten hätte.

Dass der Sozialwissenschaftler dem erfahrenen Praktiker wirklich viel voraushaben kann, wenn es um die Wahl geeigneter Mittel für gegebene Ziele geht, lässt sich also mit Gründen bezweifeln. Der Abstand zwischen Theorie und Intuition dürfte jedenfalls geringer sein, als viele Sozialwissenschaftler glauben möchten. Das heißt aber nicht, dass die Sozialwissenschaften politisch nutzlos sein müssen – nur, dass es nicht die von den Wissenschaftlern selber so hoch geschätzte theoriebildende Forschung ist, die einen Beitrag dazu leisten kann, die Politik zu verbessern. So mag das Zählen, Messen und Beobachten sozialer Sachverhalte manchem als trivial erscheinen. Aber es ist alles andere als das.

Häufig darf der Staat wichtige Informationen nicht selbst erheben

Der moderne Staat und die demokratische Diskussion hängen auf vielfältige Weise von Informationen über den Zustand der Gesellschaft ab, die nicht ohne Weiteres verfügbar sind und deren Sammlung oft äußerst kompliziert ist und umfangreiche Fachkenntnisse erfordert. Nur ein kleiner Teil der von der Politik benötigten Daten ergibt sich unmittelbar aus der Buchführung des Staates über seine eigenen Verwaltungsakte: etwa die Zahl der Geburten und Ehescheidungen oder der Bezieher von Sozialleistungen aller Art, die Durchschnittsnoten von Abiturienten oder die Altersstruktur der Rentner. Viel häufiger aber darf oder kann der Staat wichtige Informationen nicht selbst erheben – zum Beispiel die Zahl der Neugeborenen mit Migrationshintergrund oder das tatsächliche Ausmaß der Drogenabhängigkeit.

Andere Größen, die dem Laien völlig unproblematisch vorkommen mögen, müssen durch komplexe Schätzoperationen ermittelt werden, die ständiger Weiterentwicklung bedürfen. Hierzu gehören nicht nur das Bruttosozialprodukt, sondern auch die Bevölkerung, deren Zahl seit den letzten Volkszählungen in den Jahren 1981 (DDR) und 1987 (Bundesrepublik) nicht mehr direkt erhoben, sondern nur noch mit komplizierten, mehr oder weniger befriedigenden Methoden fortgeschrieben wird. Und werden muss, weil die Gesellschaft sich dagegen sperrt, gezählt zu werden – ein weiteres Beispiel für die aktive Rolle, die der Gegenstand der Sozialwissenschaft für diese spielt, indem er auf sie reagiert.

Politisch wichtige Sachverhalte wie das wirtschaftliche Wachstum pro Kopf, die Geburten- und Zuwanderungsrate oder die Arbeitslosenquote sind somit weit weniger sicher bekannt, als normalerweise angenommen wird. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass Regierungen jahrelang Probleme zu lösen versucht haben oder für Probleme von den Wählern zur Rechenschaft gezogen wurden, die sich bei späteren Korrekturen der statistischen Daten nachträglich als Scheinprobleme erwiesen haben.

Die einzige Möglichkeit, die Entscheidungen und Interessen sichtbar zu machen, die in die amtlichen Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit eingehen, bietet eine unabhängige Sozialwissenschaft. Nur sie kann den notwendigen Pluralismus gewährleisten, durch den allein politisch unangenehme Sachverhalte ans Licht kommen können oder sich zeigen lässt, wie kleine und kleinste Veränderungen – etwa in der Definition von Arbeitslosigkeit oder in der Klassifizierung von Stellenbewerbern durch die Arbeitsämter – die Arbeitslosenquote senken oder erhöhen können.

Ähnlich verhält es sich bei der Messung von Armut und Ungleichheit, der Ermittlung des Leistungsstandes von Schülern und Schulen oder der Zufriedenheit von Arbeitnehmern mit ihren Arbeitsbedingungen. Kurz: Ohne laufende, methodisch seriöse, kritische Information der Gesellschaft über sich selbst wäre der politische Diskurs noch inhaltsleerer, als er es oft schon ist.

Der Autor
Wolfgang Streeck, Jahrgang 1946, erforscht unter anderem politische Ökonomie und Wirtschaftssoziologie. Ab 1988 lehrte er an der Universität von Wisconsin in Madison und wurde 1993 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Streeck hatte zudem Gastprofessuren an verschiedenen internationalen Universitäten inne, ehe er 1995 zum Direktor an das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung berufen wurde.

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