Das nächstgelegene schwarze Loch

Forschende entdecken mit einer neuen Methode eine kosmische Schwerkraftfalle in knapp 1600 Lichtjahren Entfernung

Mit Daten des ESA-Astrometriesatelliten Gaia haben Forschende das erdnächste bekannte schwarze Loch gefunden – weniger als 1600 Lichtjahre von uns entfernt. Es umkreist einen Stern, der unserer Sonne ähnelt. Winzige Positionsverschiebungen jenes Sterns verrieten die Anwesenheit des Begleitobjekts. Mit derselben Methode sollten sich noch zahlreiche weitere schwarze Löcher entdecken lassen. Die Eigenschaften des Doppelsternsystems sind unerwartet und weisen auf eine Lücke im Verständnis darüber hin, wie solche Systeme überhaupt entstehen.

Schwarze Löcher sind per Definition schwer zu beobachten: Ihre Masse ist in einer Region mit extrem kleinem Durchmesser konzentriert, aus welcher die resultierende extrem starke Schwerkraft nichts entweichen lässt, nicht einmal Licht. Dennoch sind diese ungewöhnlichen Objekte seit Jahrzehnten ein wichtiger Teil unseres Bildes vom Universum. Das gilt insbesondere für sogenannte stellare schwarze Löcher mit einigen Sonnenmassen, die als Endzustand von sehr massereichen Sternen auftreten.

Nun hat eine Gruppe von Astronomen und Astronominnen unter der Leitung von Kareem El-Badry (Max-Planck-Institut für Astronomie und Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics) mit einer neuartigen Methode ein schwarzes Loch entdeckt, das der Erde so nahe ist wie kein anderes bislang bekanntes. Die Entdeckung zeigt allerdings auch Lücken im derzeitigen astronomischen Wissen auf, nämlich dort, wo es um die Entstehung von Doppelsternsystemen geht.

In unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, gibt es schätzungsweise hundert Millionen stellare schwarze Löcher. Aufgrund der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Beobachtung dieser Objekte konnte allerdings nur ein geringer Teil davon bisher nachgewiesen werden.  Einige wurden von Gravitationswellendetektoren aufgespürt, die fast hundert Verschmelzungen stellarer schwarzer Löcher gemessen haben, Angaben über die Massen jener Objekte inklusive. Hinzu kommen einige Dutzend durch Teleskopbeobachtungen nachgewiesene stellare schwarze Löcher. Die meisten davon umkreisen einen Begleitstern, der nahe genug ist, dass die Schwerkraft des Massemonsters Wasserstoffgas aus dem Begleitstern in eine Akkretionsscheibe ziehen kann, die das schwarze Loch umgibt. Das Gas wird dabei heiß genug, um beträchtliche Mengen an Röntgenstrahlung zu emittieren. Bisher sind 20 Röntgendoppelsterne dieser Art und weitere 50 Kandidaten bekannt.

Spektren liefern nicht alle Informationen

Es gab mehrere Versuche, zusätzlich auch „stille“ schwarze Löcher in Doppelsternsystemen zu finden („quiescent black holes“), also schwarze Löcher ohne solche hellen Akkretionsscheiben. Das Mittel der Wahl waren dabei Sternspektren - die regenbogenartige Zerlegung des Sternenlichts. Solche Spektren enthalten nämlich Informationen über die Bewegung eines Sterns relativ zu uns. Wir kennen das aus dem Alltag vom Dopplereffekt für Schall: Das Martinshorn eines Rettungsfahrzeugs klingt für uns höher, wenn das Fahrzeug auf uns zukommt, und tiefer, nachdem es an uns vorbeigefahren ist. Analog gibt uns das Licht in Form von Sternenspektren Auskunft darüber, ob und wie schnell sich ein Stern direkt auf uns zu oder von uns wegbewegt.

In den letzten Jahren wurden mehrfach Fachartikel veröffentlicht, in denen die Entdeckung ruhender schwarzer Löcher vermeldet wurde. Das waren jeweils Versuche, die Umlaufbahn eines Doppelsterns und die Masse eines unsichtbaren Begleiters ausschließlich auf Basis der Sternspektren abzuleiten. Bis auf eine Ausnahme (die Entdeckung des Doppelsternsystems VFTS 243 im Juni 2022, an der El-Badry als Mitautor beteiligt war) wurden jedoch alle diese Behauptungen durch Folgestudien relativiert oder sogar widerlegt. Spektren liefern eben nur einen Teil der Informationen über die Sternbewegung und damit über die Umlaufbahn und die Masse des Begleiters. Die fehlende Information ist dabei eine entscheidende Unsicherheitsquelle – und genau dort verspricht die Gaia-Mission der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA Abhilfe.

Bereits seit einigen Jahren hegen Astronomen und Astronominnen die Hoffnung, dass Gaia einen neuen Weg zur Entdeckung und Charakterisierung von schwarzen Löchern in Doppelsternsystemen eröffnen könnte: indem sie Informationen liefert, die die anhand der Spektren von Sternen gewonnenen Daten ergänzen. Gaia ist für hochpräzise Messungen von Sternpositionen ausgelegt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Bewegung eines sichtbaren Sterns am Himmel zu dokumentieren, und daraus wiederum lässt sich auf die Anwesenheit eines unsichtbaren Begleiters schließen. Binärsysteme, bei denen einer der Partner ein schwarzes Loch ist, sind allerdings im Vergleich zur Gesamtanzahl von Doppel- oder Mehrfachsystemen sehr selten. Daher ist die Reichweite von Gaia für die Suche ebenso wichtig wie die Genauigkeit: Hochwertige Daten für mehr als hunderttausend Doppelsternsysteme bieten eine gute Chance, die Nadel im Heuhaufen zu finden – sprich, das schwarze Loch unter den vielen normalen Doppelsternsystemen.

Als Mitte Juni 2022 der Gaia-Datensatz 3 (Gaia DR3) veröffentlicht wurde, der erstmals die Bahndaten der mit Gaia entdeckten Doppelsternsysteme enthält, machten sich Kareem El-Badry, Max-Planck-Direktor Hans-Walter Rix und seine Kollegen direkt daran, die Daten nach möglichen Kandidaten zu durchsuchen. Wo zwei Objekte einander als Doppelsternsystem umkreisen, beschreibt jedes davon in der Regel eine kleine Ellipse am Himmel. Gaia DR3 enthält Daten für 168.065 solcher winzigen Ellipsen oder Teile davon.

Sechs Kandidaten auf dem Prüfstand

Anhand von Auswahlkriterien, die besonders geeignet waren, Systeme zu finden, in dem sich ein leuchtender Stern sowie ein massereicher unsichtbarer Begleiter umkreisen, konnten die Forscher sechs vielversprechende Kandidaten ausfindig machen. Alle waren es wert, genauer betrachtet zu werden. Dies geschah mithilfe der Radialgeschwindigkeitsmessungen, die aus dem Spektrum des Sterns abgeleitet wurden und die Aufschluss geben über die Bewegung des Sterns direkt auf uns zu oder von uns weg. Damit ließ sich schließlich die komplette, dreidimensionale Bewegung des Sterns im Weltall dokumentieren.

Eine Reihe von Angaben zu Radialgeschwindigkeiten erhielten die Forschenden bereits in Form von in astronomischen Archiven vorhandenen Spektraldaten. Und weil Radialgeschwindigkeiten und Himmelspositions-Verschiebungen sozusagen zwei Seiten derselben Medaille sind, konnten sie die von Gaia rekonstruierten Sternumlaufbahnen mithilfe der Radialgeschwindigkeits-Werte bereits auf die Probe stellen. Drei Kandidaten, bei denen die verfügbaren Radialgeschwindigkeitsdaten der Gaia-Rekonstruktion der Doppelsterne widersprachen, waren damit aus dem Rennen. Ein weiterer Kandidat fiel heraus, weil die beste rekonstruierte Umlaufbahn nur sehr schlecht zu den Gaia-Daten passte – und einer Umlaufzeit entsprochen hätte, die so lang ist, dass Gaia sie gar nicht erst hätte messen können sollen. Ein fünfter Kandidat ist derzeit noch im Rennen, es fehlen aber noch ergänzende Spektralmessungen.

Bei dem verbleibenden Kandidatenobjekt, Gaia DR3 4373465352415301632, das die Forscher „Gaia BH1“ tauften, passte dagegen alles zusammen: Alle verfügbaren Daten waren wechselseitig stimmig. Um zusätzliche Gewissheit zu erlangen, führten die Astronomen weitere gezielte Beobachtungen von Gaia BH1 durch: mit dem 6,5-Meter-Magellan-Clay-Teleskop, dem 8,1-Meter-Gemini-Nord-Teleskop, dem 10-Meter-Keck-I-Teleskop und – für den Löwenanteil der neuen Datenpunkte – mit dem 2,2-Meter-ESO/MPG-Teleskop, welches das MPIA am La Silla-Observatorium der ESO betreibt.

Alle möglichen Methoden ausprobiert

Alles spricht dafür: Gaia BH1 ist ein System mit einem unsichtbaren Objekt von rund zehn Sonnenmassen, welches einen sonnenähnlichen Stern mit einer Umlaufzeit von 185,6 Tagen umkreist. Der Abstand zwischen Stern und Begleiter entspricht in etwa dem durchschnittlichen Abstand zwischen Erde und Sonne. Würde es sich bei dem Zehn-Sonnenmassen-Objekt um einen anderen Stern handeln, wäre dieser zwangsläufig viel heller als sein Begleiter. Stattdessen zeigen weder die Gaia-Daten noch Folgebeobachtungen Licht eines solchen zweiten Sterns. Damit ist Gaia BH1 ein hervorragender Kandidat für ein schwarzes Loch – und zwar mit einer Entfernung von rund 1560 Lichtjahren von der Erde. BH1 ist damit das bei Weitem erdnächste schwarze Loch, das bisher gefunden haben – weniger als halb so weit entfernt wie der bisherige Rekordhalter.

Die Gaia-Daten waren entscheidend für die neue Entdeckung. El-Badry sagt: „Hunderte von Forschern haben an der Erstellung der Datenprodukte gearbeitet, mit deren Hilfe wir das schwarze Loch Gaia BH1 gefunden haben. Diese Entdeckung gehört nicht nur uns, sondern auch der gesamten Gaia-Kollaboration.“

Statistisch gesehen ist der Umstand, dass dieses schwarze Loch uns so nahe ist, ein starkes Indiz dafür, dass es in der gesamten Galaxie zahlreiche ähnliche Systeme geben sollte. Was „zahlreich“ genau bedeutet, ist allerdings nicht so einfach zu sagen. Das Team um El-Badry schätzt jedoch, dass die nächste große Gaia-Datenveröffentlichung, DR4, die nicht vor Ende 2025 erwartet wird, die Entdeckung von Dutzenden ähnlicher Systeme ermöglichen sollte.

Rückblickend kommentiert Kareem El-Badry die Entdeckung so: „Ich habe in den letzten vier Jahren nach einem System wie Gaia BH1 gesucht und dabei alle möglichen Methoden ausprobiert – aber keine davon hat funktioniert. Umso mehr freue ich mich, dass diese Suche jetzt endlich erfolgreich war.“ Und er fügt hinzu: „Dieses Projekt ist auch deshalb so aufregend, weil unser Erfolgschancen zunächst völlig unklar waren. Die theoretischen Abschätzungen dafür, wie viele Objekte wir mit Gaia würden finden können, unterschieden sich um viele Größenordnungen.“ Ein einziges Objekt analysieren zu können, sei schon einmal ein großer Fortschritt.

Rätselhafte Entstehung

Gaia BH1 ist ein spektakulärer, aber gleichzeitig rätselhafter Fund. Es ist alles andere als einfach zu erklären, wie ein solches System überhaupt entstehen konnte. Der Vorgängerstern, der später zum schwarzen Loch wurde, müsste eine Masse von mindestens 20 Sonnenmassen gehabt haben. Daraus folgt zwingend, dass seine Lebensdauer sehr kurz gewesen sein muss, in der Größenordnung von wenigen Millionen Jahren. Wären beide Sterne gleichzeitig entstanden, hätte sich dieser massereiche Stern in einen Überriesen verwandelt, der sich aufbläht und sich bis weit über die gemeinsame Umlaufbahn der Sterne hinaus ins All erstreckt, bevor der andere Stern überhaupt die Zeit gehabt hätte, ein richtiger („Hauptreihen“-)Stern mit Wasserstoff-Kernfusion im Kern zu werden.

Es ist keineswegs klar, wie der masseärmere Stern diese Episode in einer Weise überlebt haben könnte, dass er am Ende trotzdem noch so normal aussieht, wie es die Beobachtungen des Systems zeigen. Alle theoretischen Modelle, die ein Überleben zulassen, sagen voraus, dass der masseärmere Stern auf einer viel engeren Umlaufbahn hätte landen müssen, als dies tatsächlich beobachtet wird.

Damit bleiben noch eher ungewöhnliche Entstehungsszenarien übrig. Die beiden ursprünglichen Sterne könnten sich beispielsweise als Teil eines Sternhaufens gebildet haben. Zu Beginn wären sie in diesem Szenario wesentlich weiter voneinander entfernt gewesen, sodass die Überriesenphase des massereichen Sterns die Entwicklung des zweiten Sterns nicht gestört hätte. Enge Begegnungen des Systems mit weiteren Sternen des Haufens könnten die Umlaufbahn dann später auf ihre heutige, viel kleinere Größe verändert haben.

Alternativ ist möglich, dass das System gar nicht aus zwei, sondern aus drei Komponenten besteht: Zwei massereiche Sterne anstelle von einem, die eng umeinander laufen, und zusätzlich noch der Stern mit einer einzigen Sonnenmasse, der das massereiche Paar in einem größeren Abstand umkreist. Die beiden massereichen Sterne könnten sich in solch einer Situation gegenseitig daran hindern, zu Überriesen zu werden. Das Zehn-Sonnenmassen-Objekt wäre dann nicht ein einzelnes schwarzes Loch, sondern ein Paar sich eng umkreisender schwarzer Löcher. Da die Gravitation eines solchen doppelten schwarzen Lochs etwas anders auf den masseärmeren Stern wirken würde als bei einem einzelnen schwarzen Loch, könnten zukünftige genauere Beobachtungen diese Möglichkeit bestätigen oder ausschließen.

Alles in allem ist Gaia BH1 mindestens drei Dinge in einem: Es ist die Entdeckung des uns nächsten bekannten schwarzen Lochs. Es verspricht viele ähnliche Entdeckungen in den nächsten Jahren. Es zeigt uns aber auch die Grenzen des astronomischen Wissens über die Entstehung von Doppel- oder Mehrfachsternsystemen auf.

MP / MN / HOR

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