Zwischen Stadt und Savanne

Nie lange an einem Ort – so war seit jeher der Alltag der Wodaabe, einer traditionell nomadischen Bevölkerungsgruppe in Niger. Doch seit den 1980er-Jahren lassen sich immer mehr von ihnen in den Städten nieder, um dort zu arbeiten. Florian Köhler, Wissenschaftler am Max-Planck-­Institut für ethnologische Forschung in Halle, hat beobachtet, wie sich dadurch das Leben der Wodaabe verändert.

Text: Mechthild Zimmermann

Nano, Taafa and Maalam Buuyo sind Brüder. Und obwohl alle drei unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben, verfolgen sie doch ein gemeinsames Ziel. Sie gehören den Wodaabe an, einer traditionell nomadischen Gemeinschaft. Die Brüder sind in der Savanne aufgewachsen, sind von Weide zu Weide gezogen mit ihren Herden von Zeburindern, genüg­samen Tieren mit langen, geschwungenen Hörnern. Was die Gruppe sonst besaß, hatte auf wenigen Eseln Platz. Das Leben war bestimmt vom Rhythmus der Jahreszeiten, von der Suche nach Wasser und Weidegründen, vom Wohl der Tiere. Als Buben haben die drei zusammen Ziegen gehütet und später, als Jugendliche, mit ­den Altersgenossen bei Clanfesten den Geere­wol getanzt – eine Tradition, für welche die Wodaabe auch außerhalb Afrikas bekannt geworden sind.

Seither hat sich das Leben der drei Brüder ganz unterschiedlich entwickelt. Maalam, der Jüngste, lebt weiter als Hirte in der Region Damergou und versorgt die Herden der Familie. Die beiden anderen sind zum Arbeiten in die Stadt gezogen: Nano wohnt rund 150 Kilo­meter entfernt von Maalam, in Zinder, der zweitgrößten nigrischen Stadt, und kehrt sehr häufig aufs Land zurück. Taafa hingegen lebt in Nigers äußerstem Südosten, in der Stadt Diffa, mehr als 600 Kilometer entfernt von den Verwandten. Trotzdem pflegt auch er enge Kontakte zur Familie. „So verschieden die Biografien der drei wirken – sie ergänzen einander“, sagt Florian Köhler, Wissenschaftler am Max-Planck-In­stitut für ethnologische Forschung. „Wirtschaftlich betrachtet, ist das eine Strategie der Diversifizierung: Die beiden Brüder in der Stadt erschließen neue Einkommensquellen, um die finanziellen Risiken zu streuen und die Einkünfte der Familie aufzubessern, während sich der dritte um die Herden kümmert.“

Taafa Buuyo war der Erste aus der Ethnie der Wodaabe, den Köhler kennenlernte – und das rein zufällig. Als Entwicklungshelfer war der Forscher 2004 ins nigrische Diffa gekommen. Für das Haus, das er mietete, beschäftigte er einen Wachmann: Taafa Buuyo, der mit Frau und Kindern in einem kleinen Haus auf dem Grundstück wohnte. „Die Sicherheitslage in Diffa war damals recht entspannt“, erklärt Köhler, „aber es war einfach üblich, dass Ausländer aus dem Westen Wachleute einstellten.“ So lernte er die Wodaabe-Familie bald näher kennen. Nach drei Jahren in Diffa arbeitete Köhler in einem weiteren Entwicklungsprojekt, diesmal in der Stadt Zinder. Und wieder gab es einen Wodaabe-Wachmann – Baji Buuyo, ein Halbbruder von Taafa. Mit der Zeit wuchs Köhlers wissenschaftliches Interesse an den Nomaden und ihrem Leben zwischen Stadt und Savanne. Im Jahr 2010 entschied sich der Ethnologe, die Veränderungen in der Gesellschaft der Wodaabe systematisch zu erforschen. Eine zentrale Frage war: Wie verändern sich die Zugehörigkeit und der soziale Zusammenhalt, die Mobilität sowie das Verhältnis zu anderen Ethnien, wenn sich ein Teil der Gruppe längerfristig in Städten ansiedelt?

Verstreute Gruppen, vielfältig vernetzt

Den Wodaabe gehören nach Schätzungen aus den 1990er-­Jahren rund 100 000 Menschen an, die sich in fünfzehn Clans unterteilen. In der Savanne leben diese Clans jeweils verstreut in kleinen Gemeinschaften, die aber untereinander vielfältig vernetzt sind. Als zwischen 1983 und 1985 eine verheerende Dürre die Sahelzone heimsuchte, mussten viele Nomaden ihr bisheriges Leben aufgeben. Zahllose Tiere starben, ihre Besitzer ließen sich am Rande größerer Siedlungen nieder – auch weil Hilfsgüter vom Staat und von internationalen Organisationen damals nur in Städten und Dörfern ausgegeben wurden.

Inzwischen haben einige Wodaabe wieder Herden aufgebaut. Andere sind in den Städten geblieben. Auch auf dem Land hat sich vieles verändert. Die Bevölkerung in Niger ist seit Mitte der 1980er-Jahre von knapp sieben Millionen auf mehr als fünfundzwanzig Millionen gewachsen. Der Bevölkerungsdruck führt dazu, dass immer mehr Flächen landwirtschaftlich genutzt werden. Wo einstmals offenes Weideland war, gibt es heute Äcker. Für die Hirten wird es eng. Diese Veränderungen gefährden die Existenz der Wodaabe, sagt Florian Köhler: „Insofern sichert das Einkommen in der Stadt das Überleben auch auf dem Land.“ Köhler war es jedoch wichtig, in seiner Forschung nicht die Probleme in den Vordergrund zu stellen, sondern den aktiven Umgang der Menschen damit, ihre Strategien und Lösungsansätze.

Für seine Untersuchung hat der Wissenschaftler fünfzehn Monate mit einer Wodaabe-Gruppe gelebt. Das entspricht dem Ideal der ethnologischen Forschung, wonach Forschende möglichst für mindestens einen Jahreszyklus am sozialen und kulturellen Leben der untersuchten Gemeinschaft teilnehmen sollen. Ziel ist, ein möglichst tiefes Verständnis von den gemeinschaftlichen Strukturen, den Denk- und Handlungsweisen zu bekommen – jedoch ohne diese zu bewerten. Für Florian Köhler hieß das: Er lernte Fulfulde, die Sprache der Wodaabe, er wohnte in einfachen Verhältnissen mit ihnen in der Stadt ebenso wie in der Savanne, und er reiste gemeinsam mit ihnen auf offenen Lastwagen, auf Motorrädern, Kamelen, in Buschtaxis und zu Fuß.

In Zinder, einem der Hauptorte von Köhlers Forschung, lebt eine größere Gruppe Wodaabe. Anders als vor der großen Dürre, als Migration in die Städte ein saiso­nales Phänomen war, lassen sich die jungen Männer heute längerfristig in der Stadt nieder. In Florian Köhlers Unter­suchungsgruppe arbeiten die meisten als Wachleute teils bei ausländischen Geschäftsleuten oder Entwicklungshelfern, teils auf Märkten oder in Läden. Viele haben ihre Frauen und Kinder in die Stadt mitgenommen. Die Frauen verdienen ebenfalls Geld: mit Haareflechten oder Hirsestampfen oder als Haushaltshilfen bei wohlhabenderen Familien. Die Lebensverhältnisse sind sehr unterschiedlich: Wer als Wachmann bei Privatleuten arbeitet, kann mit seiner Familie oftmals in einem kleinen Haus auf dem Grundstück wohnen. Für andere ist es schwieriger, eine Bleibe zu finden: Sie campieren auf ungenutzten Freiflächen am Stadtrand oder auf Baustellen, wo der Eigentümer sie duldet, da ihre Anwesenheit das Risiko verringert, dass Baumaterialien gestohlen werden. „Wenn es möglich ist, halten die Wodaabe dort auch ­ein paar Ziegen, sie bauen Hirse oder Bohnen an“, erzählt Florian Köhler, „das ist in nigrischen Städten durchaus üblich.“

Die Stadt gilt als dreckig und ungesund

Unabhängig von der konkreten Wohnsituation verbinden die Wodaabe mit der Stadt vor allem negative Eigenschaften. Sie nehmen die städtische Umgebung als dreckig und ungesund wahr und fühlen sich dort eingeengt. Das positive Gegenstück zur Stadt bildet das offene Weideland der Savanne. Damit identifizieren sich die meisten Wodaabe in den Städten weiterhin, selbst wenn sie schon Jahre oder Jahrzehnte nicht mehr dort leben. Die Gemeinschaft das Hirtenlagers, aus dem sie stammen, bleibt für sie „Heimat“ – auch wenn das kein fester Ort ist, sondern eine soziale Gruppe, die ihrerseits mobil ist. Die tiefe Verbundenheit der Herkunftsgemeinschaft bleibt erhalten, unabhängig davon, ob ihre Mitglieder in der Stadt oder auf dem Land leben. Einige städtische Wodaabe besitzen auch selbst Rinder: Sie beauftragen Verwandte, die Tiere zu kaufen und sich um sie zu kümmern. Die Investitionen reichen zwar oft nicht, um größere Herden aufzubauen. Aber für Köhler sind sie Ausdruck der Verbundenheit mit dem Hirtenleben und zugleich eine Unterstützung für die Verwandten, die weiterhin nomadisch leben.

Für den Austausch der verstreut lebenden Gemeinschaften spielen mittlerweile Handys eine wichtige Rolle. Das Mobilfunknetz in Niger wurde in den letzten Jahren immer besser ausgebaut, teilweise auch in eher dünn besiedelten Gegenden. Auf Märkten in ländlichen Regionen sorgen generatorbetriebene Ladegeräte für den nötigen Strom. Handys ermöglichen es den nomadisch lebenden Gruppen, sich gegenseitig über die Situation der Weiden in verschiedenen Gebieten zu informieren, über den Zustand von Wasserstellen oder über Marktpreise für Tiere oder Hirse. Diejenigen, die in der Stadt leben, können dank Mobilfunk quasi jederzeit mit den Verwandten auf dem Land telefonieren. Eine Wodaabe-Frau, die sich mit ihrem Mann in der Stadt niedergelassen hat, erzählte Florian Köhler, Handys hätten für sie eine wichtige Rolle gespielt, ein Leben fern von ihrer Herkunftsgemeinschaft zu akzeptieren. Die Mobiltelefone ersetzen jedoch nicht die häufigen gegenseitigen Besuche von Verwandten in der Stadt und auf dem Land – im Gegenteil, sie werden auch genutzt, um größere Treffen zu organisieren.

Mobil mit Minivans, Unimogs oder Kamelen

Viele Wodaabe sind außerordentlich mobil – obwohl die wenigsten von ihnen einen Führerschein oder gar ein eigenes Auto besitzen. Schon aus der Tradition des nomadischen Lebens heraus sind sie es gewohnt, regelmäßig den Ort zu wechseln. Viele Wodaabe in der Stadt, auch wenn sie schon sehr lange dort leben, versuchen, so häufig wie möglich ins Hirtenlager zurückzukehren – gerne auch für längere Zeiträume. Frauen und Kinder verbringen oft die gesamten Schulferien während der sommerlichen Regenzeit dort. Dann helfen etwa die Buben ihren Cousins beim Ziegenhüten und bleiben auf diese Weise in Kontakt mit dem Nomadenleben. Umgekehrt besuchen die Verwandten vom Land auch oft Familienmitglieder in der Stadt.

Mobilität in Niger funktioniert allerdings etwas anders als in Europa: Es gibt keine Eisenbahn, und der Staat betreibt kaum öffentliche Verkehrsmittel. Von den rund 20 000 Kilometern Straßennetz sind nach Zahlen von 2014 nur 4800 Kilometer geteert. Trotzdem ist die nigrische Bevölkerung insgesamt sehr mobil. Von Kleinunternehmern betriebene Sammeltaxis – je nach Bedarf und Straßenbeschaffenheit Minivans, Land Rover, Lastwagen oder alte Unimogs mit offener Lade­fläche – verbinden Städte und Dörfer untereinander. Auf diese Weise existiert ein funktionierendes Transportsystem für Menschen und Waren – wenn auch meist ein wenig komfortables, wie Florian Köhler am eigenen Leib erfahren hat. Auf dem Land sind nach wie vor auch Kamele, Esel und Ochsenkarren wichtige Verkehrsmittel.

Neue Kontakte zu anderen Ethnien

 Auch wenn die Bindung der städtischen Wodaabe an ihre Herkunftsgemeinschaft eng ist, bringt das dauerhafte enge Zusammenleben in der Stadt neue Kontakte zu Angehörigen anderer Ethnien mit sich. Aus europäischer Sicht mag es erstaunlich sein, dass verschiedene ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen dauerhaft auf ein und demselben Gebiet leben. In Europa hat die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert zu kulturell und sprachlich weitgehend einheitlichen Staaten geführt. Auf anderen Kontinenten, insbesondere in Afrika, ist das Neben- und Mit­einander verschiedener Ethnien hingegen selbstverständlich. Und anders als man es bei uns oft wahrnimmt, funktioniert das Zusammenleben häufig weitgehend friedlich. Trotz der engen Nachbarschaft vermischen sich die Gruppen kaum. Das hat laut Florian Köhler verschiedene Gründe: „Der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft spielt eine Rolle, aber auch die Bindung an die eigene Kultur und eigene Regeln – besonders Heiratsregeln, die Ehen innerhalb der eigenen Ethnie vorgeben.“ Das alles sorgt dafür, dass sich die Gruppen voneinander abgrenzen. Zugleich besetzen die unterschiedlichen Ethnien wirtschaftlich und gesellschaftlich unterschiedliche Nischen.

In Niger halten beispielsweise die Wodaabe traditionell vor allem Rinder, daneben gibt es andere nomadisch lebende Ethnien, die Kamele oder Schafe züchten, sowie sesshafte Ethnien, die überwiegend Ackerbau oder Handel treiben. „Die Komplementarität hilft, Streit zu vermeiden und zugleich die Ethnien durch Tausch oder Handel in Kontakt zu halten“, sagt Köhler. Allerdings gibt es auch hier Konflikte, insbesondere zwischen Ackerbauern und Viehhaltern. So kommt es immer wieder vor, dass Tiere in die Felder eindringen und die angebauten Pflanzen fressen oder zertrampeln.

Begegnungen in spöttisch- scherzender Weise

Eine regionale Besonderheit in den Beziehungen unterschiedlicher Ethnien in Niger sind die sogenannten joking relationships. Sie wurden sogar 2014 von der Unesco als immaterielles Kulturerbe geschützt. So begegnen sich etwa die Kanuri, eine ethnische Gruppe, die vorwiegend Ackerbau betreibt, und die Wodaabe generell in dieser spöttisch-scherzenden Weise. Alle Mitglieder der jeweiligen Ethnien, selbst wenn sie einander fremd sind, tauschen Provokationen und Frotzeleien aus, wenn sie sich treffen. Dabei spielen sie auf Klischees über die jeweils anderen an. Für Köhler hat das gemeinsame Scherzen eine Doppelfunktion: „Einerseits  setzt man sich damit von den anderen ab, indem man bestimmte Charakteristika von ihnen witzig und pointiert betont. Andererseits stellt genau das eine Beziehung her, weil der Spott reziprok ist und der gemeinsame Humor verbindet.“ In den Städten, wo die Wodaabe in fester Nachbarschaft zu anderen Gruppen leben, verändern sich auch die Beziehungen. Vor allem die Frauen knüpfen Netzwerke in der direkten Umgebung. So ist es beispielsweise üblich, Essen mit Nachbarn und Bekannten zu teilen, wie der Max-Planck-Forscher berichtet.

Die Kinder integrieren sich naturgemäß am stärksten. In der Schule entstehen fast zwangsläufig Freundschaften zwischen verschiedenen Ethnien. Auf diese Weise lernen sich auch die Eltern besser kennen. Die Nähe beeinflusst jedoch auch die Kultur. In der Schule sprechen Wodaabe-­Kinder zumeist die Mehrheitssprache Hausa, und viele geben ethnische Besonderheiten auf, etwa die traditionellen Frisuren: Um dem Spott ihrer Mitschüler zu entgehen, verzichten die Mädchen auf den charakteristischen Haarknoten an der Stirn, und die Buben schneiden sich die traditionellen Zöpfe ab, manchmal auch ohne Zustimmung ihrer Eltern. Die Frisur ist allerdings fester Bestandteil des Wodaabe-­Schönheitsideals und damit wichtig, um an kulturellen Ereignissen wie den Geerewol-Tanzwettbewerben teilzunehmen. Köhler hat jedoch beobachtet, dass die jungen Männer das Problem pragmatisch lösen, indem sie aus ihren abgeschnittenen Zöpfen Haarteile fertigen und damit bei den Tänzen mitmachen.

Größerer Einfluss der islamischen Religion

Allerdings lassen sich nicht alle Widersprüche zwischen Stadt und Land so leicht überbrücken. Je länger die Wodaabe in den Städten leben, desto stärker wird der Einfluss der städtischen Mehrheitsgesellschaft: Wodaabe passen sich nicht nur äußerlich zunehmend an, auch die Einstellung gegenüber bestimmten moralischen Fragen ändert sich. „Eine besondere Rolle spielt dabei die islamische Religion“, sagt Florian Köhler. „Zwar gehören fast alle Wodaabe nominell dem Islam an, doch auf dem Land sind die Regeln etwa zu Eheschließungen oder Geschlechtsverkehr vor der Ehe meist noch eher von der eigenen Tradition bestimmt.“ Der städtische Einfluss führt zum Beispiel dazu, dass junge Frauen dazu angehalten werden, einen Schleier zu tragen und nachts nicht mehr aus dem Haus zu gehen.

„Inzwischen“, sagt Florian Köhler, „ist die Identität der Wodaabe als Ethnie gleichermaßen vom Leben in der Savanne wie von dem in der Stadt geprägt. Vor allem junge Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, bewegen sich dort ebenso selbstverständlich wie im ländlichen Hirtenlager und schaffen durch beständige Mobilität, durch Kommunikation und Austausch komplexe Verbindungen zwischen diesen beiden Sphären.“ Der Ethnologe spricht in diesem Kontext von der translokalen Dimension der städtischen Migration. Translokalität ist ein sozialwissenschaftliches Konzept, das seit einigen Jahren an Bedeutung gewinnt. Demnach sind soziale Bindungen zwischen Menschen nicht zwangsläufig an einen Ort gebunden, sondern bestehen gerade dank moderner Kommunikations- und Transportmittel auch über größere Entfernungen hinweg. Damit unterscheiden sich translokale Beziehungen von der klassischen Dorfgemeinschaft, deren Mitglieder zugleich an den Heimatort und an die dort ansässigen Menschen gebunden sind. Eine Besonderheit bei den Wodaabe ist, dass sie als nomadische Ethnie von jeher eine translokale Gemeinschaft bilden. Soziale Verbindung über eine gewisse Entfernung hinweg aufrecht­zuerhalten, ist daher nichts Neues für sie – so Köhlers Beobachtung: Dass die Wodaabe mit Mobilität und der zeitweisen Trennung der sozialen Gruppe kulturell vertraut sind, hilft ihnen, die Verbundenheit der Gemeinschaft auch zwischen Stadt und Savanne zu bewahren.

Das Beispiel der Wodaabe kann auch für uns in Europa neue Perspektiven auf das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Ländern oder Kulturen geben. So halten viele Migrantinnen und Migranten hier ebenfalls Kontakt zu ihrer Herkunftsgemeinschaft, zu ihrer Sprache und Kultur. Gleichzeitig sind sie ein aktiver Teil unserer Gesellschaft – beides zugleich ist möglich. Darüber hinaus zeigt sich: Auch bei Menschen, die nicht migriert sind, dehnt sich inzwischen der Freundes- und Verwandtenkreis über weitere Entfernungen hinweg aus. Translokalität wird für viele von uns immer alltäglicher. Vielleicht kann uns diese Gemeinsamkeit helfen, mehr Verständnis für Menschen mit Migrationsgeschichte zu entwickeln und den Begriff von Heimat etwas groß­zügiger zu fassen.

Auf den Punkt gebracht

  • Seit den 1980er-Jahren siedeln Angehörige der Wodaabe, einer traditionell nomadischen Ethnie, zunehmend in Städten und finanzieren auf diese Weise das nomadische Leben in der Savanne mit.

  • In der Stadt gibt es eine stärkere Annäherung an andere Ethnien und eine teilweise Angleichung an die Mehrheitskultur.

  • Zugleich stehen die Migranten in engem Kontakt mit den Verwandten auf dem Land und pflegen dadurch auch Traditionen weiter.

 

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