„Frauen in der Forschung ziehen andere Frauen nach“  
 

Flore Kunst, Leiterin einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts in Erlangen, über die Frauenrechtlerin und Ärztin Aletta Jacobs, die eine führende Rolle in der niederländischen und internationalen Frauenrechtsbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts spielte.
 

Sie war die erste niederländische Frau, die ein Hochschulstudium absolvierte, die erste weibliche promovierte Ärztin der Niederlande und gilt noch heute als eine der bedeutendesten niederländischen Feministinnen: Aletta Henriette Jacobs (1854-1929) hinterlässt ein bemerkenswertes Vermächtnis. Die Feministin, Frauenrechtlerin, Pazifistin und Ärztin setzte sich Zeit ihres Lebens für Frauenrechte ein, besonders für bessere Bedingungen in Gesundheit und das Recht auf Geburtenkontrolle.

Aletta Jacobs wurde am 9. Februar 1854 in dem kleinen Dorf Sappemeer in den Niederlanden als achtes von zwölf Kindern geboren. Bereits im Alter von sechs Jahren wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte, genau wie ihr Vater. Aber im 19. Jahrhundert waren Frauen in den Niederlanden von der Bildung ausgeschlossen. Nur mit einer Ausnahmegenehmigung der niederländischen Regierung durfte sie sich an der Universität Groningen einschreiben.  

Nachdem sie das medizinische Examen bestanden und ihrer Promotion abgelegt hatte, begann sie 1879, in Amsterdam als Ärztin zu arbeiten. Sie bot kostenlose Sprechstunden an, in denen sie mittellose Frauen zu den Themen Verhütung, persönliche Hygiene, Kinderbetreuung und Mutterschaft beriet. Zudem propagierte sie Geburtenkontrolle und „freiwillige Mutterschaft“ durch die Verschreibung von Pessaren als Verhütungsmitteln. 

Neben ihrer Arbeit als Ärztin kämpfte sie für das Frauenwahlrecht auf nationaler wie internationaler Ebene. 1903 wurde sie  Jacobs Vorsitzende des Vereins für das Frauenwahlrecht in den Niederlanden. 1919, im selben Jahr, als das Frauenwahlrecht vom Parlament verabschiedet wurde, trat sie von diesem Amt zurück. Während des ersten Weltkriegs war sie war eine der Organisatorinnen des Internationalen Frauenfriedenskongresses im Mai 1915 in Den Haag. Nach 1919 reiste sie weiter durch die Welt, um für Frauenrechte zu werben und veröffentlichte Schriften über Verhütung und internationale frauenpolitische Themen. Jacobs starb am 10. August 1929 im Alter von 75 Jahren.

Flore Kunst, was fasziniert Sie an Aletta Jacobs?

Aletta Jacobs lebte in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts. Damals gab es fast keine Frauenrechte. Jacobs hat eine der ersten Kliniken weltweit für Geburtenkontrolle gegründet. Sie war eine bedeutende Figur der ersten Welle der Frauenbewegung und kämpfte für das Frauenwahlrecht. Dadurch spielte sie eine wichtige Rolle für die Frauenrechtsbewegung in den Niederlanden, die bis heute ihre Spuren hinterlässt. Ich kann nur hoffen, dass ich genauso mutig gewesen wäre, wenn ich zu der Zeit gelebt hätte!

Jacobs wurde 1854 geboren, als es für Frauen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft viele Beschränkungen gab. Wie hat sie diese Hindernisse überwunden?

Jacobs wollte Ärztin werden, weil sie es ungerecht fand, dass Frauen nicht Ärztin werden durften. Sie musste den Ministerpräsidenten um Erlaubnis fragen, um studieren zu dürfen. Dieser schrieb an Jacobs Vater und erteilte die Erlaubnis. Ursprünglich galt diese nur auf Probe und nur für ein Jahr. Auf seinem Sterbebett erteilt der Ministerpräsident ihr dann seine Zustimmung, dass sie auch Prüfungen ablegen durfte. Dies hat es ihr ermöglicht, ihr Studium abzuschließen.

Aletta Jacobs war 1871 die erste Frau in den Niederlanden, die sich als reguläre Studentin an einer Universität eingeschrieben hat, und die erste Frau in den Niederlanden, die einen Abschluss in Medizin erworben hat. Wie wichtig war das Ihrer Meinung nach für die Stellung der Frauen in der Wissenschaft in den Niederlanden?

Ich denke, es war sehr wegweisend. Sie war natürlich eine Ausnahme, aber sie hat etwas in Bewegung gesetzt. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass ihr Beitrag zur Frauenrechtsbewegung großen Einfluss darauf hatte, die Stellung der Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Wissenschaft im Besonderen voranzubringen.

Jacobs war auch als eifrige Verfechterin der sozialen Gerechtigkeit und Frauenrechte aktiv. Was finden Sie daran bemerkenswert?

Ich finde es bemerkenswert, dass viele der Ideen und Überzeugungen, für die Jacobs stand, sogar heute noch progressiv sind. Sie war ihrer Zeit in vielen Dingen weit voraus und spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Frauen- und Menschenrechte insgesamt. Es ist aber auch traurig, dass wir heute für viele Dinge, für die sie damals gekämpft hat, immer noch kämpfen müssen. Einerseits sind wir weit gekommen und sicherlich nicht mehr in derselben Situation, wie Aletta Jacobs es war. Andererseits gibt es nach wie vor viel zu tun, um eine Gleichstellung aller Geschlechter zu erreichen.

Warum sind Sie Wissenschaftlerin geworden?

Es war nicht von Anfang an klar, dass ich Wissenschaftlerin werden wollte. Ich war ziemlich gut in der Schule und habe gerne neue Sachen gelernt, also vielleicht ist es insofern nicht so überraschend, dass ich heute da bin, wo ich bin.  Aber für mich hat sich immer die Frage gestellt, was ich als Nächstes mache. Zum Beispiel habe ich erst während meiner Masterarbeit beschlossen, dass ich promovieren möchte, da ich gemerkt habe, wieviel Spaß mir die Forschung macht. Ähnlich war es am Ende meiner Doktorarbeit, als ich entschied, meinen Postdoc zu machen. Und am Ende meiner Postdoc-Phase war mir dann klar, dass ich eine Forschungsgruppe leiten möchte. Bei jedem dieser Schritte habe ich mich selbst gefragt: Was mache ich gerne? Worin bin ich gut? Wo sehe ich mich als Nächstes?

Was gefällt Ihnen am besten daran, Wissenschaftlerin zu sein?

Ich mag es, mit anderen über Physik zu diskutieren und von ihnen etwas Neues zu lernen. Ich bin überzeugt von Teamarbeit und lasse mich gerne inspirieren, wenn ich mit anderen über neue Ergebnisse, neue Ideen oder neue Forschungsrichtungen spreche. Auch der internationale Charakter der Wissenschaft gefällt mir gut. Er führt dazu, dass man neues Wissen erwirbt, und mit anderen Kulturen in Kontakt zu kommen, eröffnet neue Blickwinkel. Ich finde es immer spannend, wenn wir bei Projekten Fortschritte machen oder es neue, unerwartete Ergebnisse gibt. Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, etwas zu verstehen, was man vorher nicht verstanden hat.

Welche Themen müssen Ihrer Meinung nach noch angegangen werden, um mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen?

Wir müssen mit einigen Themen direkt nach der Geburt anfangen, um mehr Gleichbehandlung zu erreichen. Es gibt so viele Vorurteile in der Gesellschaft, wie Männer und Frauen sich verhalten sollten, wie sie ihr Leben gestalten sollten usw. Diese Vorurteile beeinflussen schon Kinder, bestimmen, welche Fächer sie in der Schule wählen und letztlich auch, welchen Studiengang sie dann später ergreifen. Es ärgert mich, dass Männer oft als der Standard und Frauen als Ausnahme gelten. Ein Beispiel: Wenn Symptome für einen Herzinfarkt aufgezählt werden, klingt das meistens so: Die Symptome für einen Herzinfarkt sind dies, das und das, aber bei Frauen sind sie tatsächlich dies, das und das. Warum heißt es bei Frauen „aber“? Warum sind Frauen die Ausnahme? Auch Autos wurden für den männlichen Körper entworfen. Das bedeutet, dass Frauen bei Autounfällen meistens schwerer verletzt werden als Männer. Es wäre echt schon viel gewonnen, wenn wir dies einfach ändern würden.

 Männer gelten oft als der Standard, Frauen als Ausnahme

Frauen sind in der Wissenschaft immer noch unterrepräsentiert, vor allem in den MINT-Fächern. Weltweit liegt der Anteil von Frauen in der Wissenschaft bei nur 30 Prozent. Welche Faktoren tragen Ihrer Ansicht nach zu dieser Diskrepanz bei?

Ich bin der festen Überzeugung, dass gesellschaftliche Stereotype ein Grund für den Mangel an Frauen im MINT-Bereich sind. Es existieren aber noch weitere Gründe. Es gibt Länder in der Welt, in denen die Frauenrechte nicht so fortgeschritten sind wie im Westen, in denen aber viele Frauen Physik oder Mathematik studieren. Ich denke, dass in der Gesellschaft immer noch die Meinung vorherrscht, dass Männer besser in MINT-Fächern sind, obwohl bekannt ist, dass dies nicht der Fall ist. Außerdem ist es nicht einfach, eine von wenigen Frauen in einer Gruppe von Männern zu sein. Das macht die Sache nicht leichter.

Selbst wenn viele Frauen ein bestimmtes Fach studieren, ist es auffällig, dass die Anzahl der Frauen, die bis zur Promotion weitermachen, etwas niedriger ist und dann weiter drastisch abfällt, wenn es darum geht, bis zum Postdoc weiterzumachen. Das ist der leaky Pipeline-Effekt, der zeigt, dass es hier wirklich ein Problem gibt.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit mehr junge Mädchen und Frauen sich für MINT-Fächern interessieren und eine Karriere in diesem Bereich anstreben? Denken Sie, dass wir mehr Frauen als Vorbilder im MINT-Bereich brauchen?

Ich halte Vorbilder für absolut wichtig! Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass ich von ungefähr gleich vielen Frauen und Männern angesprochen werde, die nach Stellen in meiner Gruppe fragen. Dies spiegelt sicherlich nicht das Verhältnis der Geschlechter in der Physik wider und ist ein Beispiel dafür, dass Frauen in der Forschung andere Frauen nachziehen. Ich merke das auch bei mir selber. Ich habe zum Beispiel meine Masterarbeit bei Cristiane Morais Smith, der einzigen Professorin im Fachbereich Physik an der Universität Utrecht, geschrieben. Das Projekt hat mich interessiert, ich habe sie aber auch ausgewählt, weil ich mit ihr zusammenarbeiten wollte. Es ist wichtig, dass es nicht nur in Führungspositionen Vorbilder gibt. Es sollte auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter Frauen als Vorbilder geben. Ich möchte hinzufügen, dass ich auch männliche Vorbilder habe und auch Männer sehr wichtig sind, um mehr Frauen in die Wissenschaft zu bringen. Ich kenne einige Männer in der Wissenschaft, die viel Energie und Mühe darin investieren, für mehr Frauen in der Forschung zu kämpfen, und das finde ich sehr inspirierend.

Es sollte auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter Frauen als Vorbilder geben

Brauchen wir einen Strukturwandel in der Wissenschaft und an Hochschulen, um den Anteil an Frauen zu steigern?

Ja, auf jeden Fall! Ich bin der Meinung, dass die Arbeitskultur sich auf Teamarbeit konzentrieren sollte und nicht auf Konkurrenz. Das ist auch die Art, wie ich arbeite. Und ich kenne viele Wissenschaftler, die ebenfalls so arbeiten – nicht nur Frauen. Der häufige Arbeitsplatzwechsel bei einer Karriere in der Wissenschaft ist für Frauen nicht sehr günstig. Es ist nach wie vor so, dass viele Frauen ihren Ehemännern oder Partnern rund um die Welt folgen, während es nicht viele Männer gibt, die für ihre Frauen dasselbe tun würden. Es wäre besser, wenn der Zeitraum zwischen der Promotion und einer Festanstellung kürzer wäre und wenn die Erwartungen, an vielen verschiedenen Orten gearbeitet zu haben, nicht so hoch wären.

Natürlich ist es auch eine Herausforderung, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Ich habe selbst ein kleines Kind und weiß, wie schwierig das ist. Es hängt auch sehr vom Arbeitgeber ab, und ich habe das Glück, in einem familienfreundlichen Umfeld arbeiten zu können.

Ich denke meistens darüber nach, welche Möglichkeiten es gibt und nicht welche Probleme. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Mutter zu sein und in Vollzeit zu arbeiten. Ich weigere mich aber zu glauben, dass es unmöglich ist, eine erfolgreiche Karriere zu haben und Mutter zu sein.

Halten Sie Mentoring-Programme oder Frauennetzwerke für sinnvolle Maßnahmen? Gab es noch andere Angebote für Frauen, Hindernisse in der Wissenschaft zu überwinden, die Ihrer Erfahrung nach hilfreich waren?

Auf jeden Fall, auch wenn es nur darum geht, manchmal in einer Gruppe nur aus Frauen zu sein. Ich habe sowohl an Mentoring-Programmen als auch an Frauennetzwerken teilgenommen.  Dabei fand ich Frauennetzwerke hilfreicher. Wenn man mit Gleichgesinnten spricht, kann man sich inspirieren lassen und feststellen, dass andere dieselben Erfahrungen gemacht haben wie man selbst. Ich denke, dass auch Mentoring-Programme sehr hilfreich sein können, aber es hängt sehr stark davon ab, was für eine Mentorin oder einen Mentor man hat. Am besten ist es, sich die die Personen immer selbst auszusuchen. Für mich hat das gut funktioniert. Ich hätte zum Beispiel nie meinen Postdoc gemacht, wenn ich nicht von meinem Promotionsbetreuer Emil Bergholtz ermutigt worden wäre, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Dies zeigt, wie wichtig die eine Mentor-Rolle sein kann.

Welchen Rat würden Sie jungen Frauen geben, die über eine Karriere in der Wissenschaft nachdenken?

Traut euch einfach! Es muss keine Entscheidung fürs ganze Leben sein. Wenn sich also herausstellt, dass es nicht das Richtige ist, könnt ihr immer noch etwas anderes machen. Stellt  sicher, dass Eure Vorgesetzte wissenschaftliche Arbeit machen, die euch interessiert und Spaß macht. Das kann ich gar nicht genug betonen. Es macht einen großen Unterschied, ob man sich mit den Leuten versteht, mit denen man zusammenarbeitet. Dies ist vor allem in der Wissenschaft wichtig, wo man normalerweise sehr enge Beziehungen zu den Vorgesetzten hat.

Traut euch einfach! Wenn es nicht das Richtige ist, könnt ihr immer noch was anderes machen.

Welche Veränderungen würden Sie gerne in den nächsten Jahren erleben, um mehr Geschlechtergleichheit in der Wissenschaft zu erreichen?

Auf jeder Karrierestufe sollten mehr Frauen eingestellt werden. Wenn sich eine Frau bewirbt und die Voraussetzungen erfüllt, sollte sie auf jeden Fall eingestellt werden. Falls nötig, kann für sie eine zusätzliche Stelle geschaffen werden.

Gibt es noch etwas, was Sie gerne hinzufügen würden?

Ja, noch etwas im Allgemeinen. Wir haben über die Rolle und die Stellung von Frauen in der Wissenschaft gesprochen, aber ich glaube, das geht über die reine Wissenschaft hinaus: Natürlich sollten wir alles tun, um die Situation in der Wissenschaft zu verbessern. Dies wird aber nicht gelingen, wenn die Gesellschaft als Ganzes sich nicht ändert.

Ich möchte noch hinzufügen, dass es auch Positives zu berichten gibt. Vieles wurde schon verbessert. Es gibt viele Initiativen und Bemühungen, die Anzahl von Frauen in der Wissenschaft zu steigern. Ich bin zuversichtlich, dass sich in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten die Dinge zum Positiven ändern werden.

 Flore Kunst, vielen Dank für das Interview!

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