Wirbel im Schwarm

Ein Leben im Kollektiv bietet Fischen viele Vorteile - zum Beispiel eine effizientere Fortbewegung

28. Juni 2022

Iain Couzin, Forscher am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz, und sein Team wollen wissen, welchen Regeln Fische im Schwarm folgen und welche Vorteile das Leben im Kollektiv bietet. Modernste Technik hilft den Forschenden dabei, Ordnung im großen Durcheinander zu finden.

Text: Harald Rösch

Im Labor von Iain Couzin schwimmen Moderlieschen ­in mehrere Tausend Liter fassenden Becken. Das menschliche Auge kann einen einzelnen Fisch in dem dichten Gewusel hin und her flitzender Fischleiber kaum länger als einige Sekunden verfolgen. Aber dank moderner Hochleistungskameras, dank automatischer Bildverfolgung und Bewegungsanalyse können die Forschenden um Iain Couzin trotzdem jeden Fisch ­beobachten. Das Durcheinander innerhalb eines Fischschwarms verwirrt nicht nur das menschliche Auge. Auch Angreifern fällt es schwer, sich auf ein bestimmtes Tier zu konzentrieren. Solch ein Schwarm ist zwar einfacher zu entdecken als ein einzelner Fisch und macht Feinde daher leichter auf sich aufmerksam, aber die schiere Menge an Fischen bietet Sicherheit.

Schutz ist einer der Gründe, warum Fische in oft riesigen Schwärmen durch die Ozeane ziehen. Der Schwarm verwirrt Angreifer aber nicht nur, er reagiert auch schneller als diese, denn Tausende von Augen, Nasen und Drucksensoren sehen, riechen und fühlen mehr! Der erste Fisch des Schwarms, der einen Räuber wahrnimmt, alarmiert die Nachbarn durch seine Flucht­bewegung und löst so eine Kettenreaktion aus. Die Information verbreitet sich blitzschnell: Dank des Informationsvorsprungs kann ein Schwarm bis zu 15-mal schneller auf einen Angriff reagieren als ein Individu­um. Große Raub­fische wollen das verhindern. Die Forschenden haben entdeckt, dass manche dieser Tiere bei ihren Attacken in einer Reihe hintereinander in den Schwarm schwimmen, um diesen zu teilen. In den Kleingruppen ist dann leichter Beute zu machen.

Das Schwarmleben hilft zudem, lokale Unterschiede oder allmähliche Veränderungen des Salzgehalts, des Lichts oder der Temperatur wahrzunehmen. Durch das Leben in Gruppen erlangt der Schwarm kollektives Wissen über seine Umwelt und kann auf diese reagieren – Wissen, das ein Einzeltier nicht hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben darüber hinaus entdeckt, dass ein Fisch im Schwarm weniger Bewegungsenergie benötigt als ein einzeln schwimmemdes Tier. Der Grund: Die Energie aus Wasserwirbeln von den Flossenschlägen seiner Nachbarn machen das gemeinsame Schwimmen effizienter. Forschende hatten dies schon seit Langem vermutet, doch Couzin und sein Team lieferten 2020 erstmals den Beleg. Sie haben dazu künstliche Fische entwickelt und deren Energieverbrauch beim gemeinsamen Schwimmen in einem Gegenstrombecken gemessen. Durch winzige, unter Laserlicht aufleuchtende Wasserstoffbläschen wurden die Wirbel sichtbar, die jeder Fisch beim Schwimmen erzeugt und die sich nach hinten ausbreiten. Das Geheimnis des Energiesparens liegt in der Synchronisation des Flossenschlags: „Der hinten schwimmende Fisch muss den Schlag seiner Schwanzflosse auf den des voranschwimmenden Tieres abstimmen. Dabei gibt es – je nach Abstand zum Vordermann – einen optimalen Phasenversatz. Schwimmen die Roboter­fische zum Beispiel nebeneinander, dann sollten ihre Schwanzflossen idealerweise synchron schlagen“, erklärt Couzin.

Gemeinsam schwimmen spart Energie

Aber verhalten sich auch echte Fische so? Die Forschenden entwickelten ein hydrodynamisches Modell, das genau vorhersagt, was zum Beispiel zwei zusammen schwimmende Fische tun sollten. Und tatsächlich, die Tiere schwimmen genau so, dass sie die Wirbel des Partners optimal ausnutzen. Rund fünf Prozent seiner Schwimmenergie kann ein Fisch auf diese Weise sparen. „Das ist enorm, wenn man bedenkt, dass die Fortbewegung einen großen Teil der Energie eines Fisches erfordert“, so Couzin. Aber nicht nur das: Falls notwendig, können die Tiere sich auch entscheiden, nicht Energie zu sparen, sondern die Energie der Wirbel zu nutzen, um ihren Schub zu erhöhen. Der hintere Fisch kann dadurch schneller beschleunigen. Zu klein darf ein Fisch allerdings nicht sein, will er energetisch noch von seinen Nachbarn profitieren. Für sehr kleine Fische ist die Viskosität des Wassers – also seine Zähflüssigkeit – zu hoch. „Das Wasser ist für sie wie Honig – darin können sie keine dauerhaften Wirbel erzeugen.“

Mit den heute zur Verfügung stehenden Techniken lässt sich bislang nur das Wechselspiel zweier Individuen analysieren. Sobald ein Dritter hinzukommt, wird es extrem kompliziert – von einem Schwarm ganz zu schweigen. Deshalb ist es auch noch nicht klar, wie sich effizientes Schwimmen und Abwehrverhalten gegenüber Räubern gegenseitig beeinflussen. Überwiegt eines von beidem, oder gehen Fische einen Kompromiss zwischen beiden Anforderungen ein? Das Verhalten von Tieren in einem Schwarm wirkt so perfekt abgestimmt, dass man unwillkürlich höchst komplizierte Regeln vermutet, die den Schwarm zusammenhalten. Couzin und sein Team haben mit diesem Irrtum aufgeräumt. „Schwarmtiere folgen verhältnismäßig ein­fachen und effektiven Regeln, sie müssen gar nicht aktiv miteinander Informationen austauschen. Es reicht, auf die Bewegungen der Nachbarn zu reagieren.“ Sehr nah beieinander schwimmende Fisch stoßen sich also gegenseitig ab und vermeiden so Kollisionen. Weiter entfernte Individuen besitzen dagegen anziehende Wirkung. Aus diesen Regeln ergibt sich die Ausrichtung der Fische beim Schwimmen. „Bleib immer in der Nähe der anderen Mitglieder deines Schwarms, komme ihnen aber nicht zu nahe – dann schwimmst du automatisch in dieselbe Richtung wie sie.“

Couzin und sein Team haben darüber hinaus entdeckt, dass die Mitte eines Schwarms entgegen der herkömm­lichen Ansicht oft gar nicht die beste Position im Schwarm ist. Die Tiere, die vorne und an den Seiten schwimmen, erhalten einerseits Informa­tionen anderer Schwarmmitglieder. Gleichzeitig haben sie direkten Zugang zu Informationen über Ereignisse außerhalb der Gruppe, wie zum Beispiel das Auftauchen eines Räubers. Der schlechteste Platz ist hinten – was dazu führt, dass die Tiere dort versuchen, diese riskante Position zu verlassen, und sich daher permanent bewegen.

Demokratie im Schwarm

Die Forschenden haben zudem herausgefunden, dass Fische dem Mehrheitsprinzip folgen – und das, obwohl sie selbst nicht zählen können. Schwimmen zehn Fische nach rechts und acht nach links, entscheidet sich der Schwarm in den meisten Fällen für rechts. Überraschenderweise gehen manche Säugetiere ähnlich vor. Zusammen mit Couzins Kolleginnen Meg Crofoot und Ariana Strandburg-­Peshkin haben die Forschenden eine Horde frei lebender Paviane in Kenia mit GPS-Sendern ausgestattet und damit die Position jedes einzelnen Tieres über Wochen hinweg bestimmt. Eine Auswertung der Daten ergab, dass die Richtungswahl der Tiere davon abhängt, in welchem Winkel sich zwei vorausgehende Paviane entfernen. Beträgt dieser weniger als 90 Grad, gehen die nachfolgenden Tiere ­einen Kompromiss ein und wählen den Mittelweg. Ist der Winkel aber größer als 90 Grad, nehmen die Paviane die Richtung, die von mehr Gruppenmitgliedern bevorzugt wird. Das dominante Tier kann sich dem nur anschließen (Max Planck Forschung 02/21).

Wie organisieren sich Schwärme?

Warum schwimmen Fische im Schwarm? Wie kann man in großen Menschenmengen eine Massenpanik verhindern und wie organisieren sich Zellen im Immunsystem? Darum geht es in diesem Podcast zur MaxPlanckForschung

Die Individuen kennen einander nicht, sie sind in der Regel nicht verwandt und bilden auch keine dauerhaften Beziehungen. Früher vermutete man, die Fische innerhalb eines Schwarms seien komplett anonym und egalitär. Die Ergebnisse von Iain Couzin und seinem Team stellen diese Vorstellungen jedoch infrage. Die Forschenden haben Algorithmen für maschinelles Lernen entwickelt, welche einzelne Fische selbst dann noch identifizieren können, wenn diese für uns Menschen vollkommen gleich aus­sehen. Die Untersuchungen zeigen, dass Schwärme überraschenderweise nicht uniform aufgebaut sind, sondern bislang unbekannte interne Strukturen aufweisen.

Die Tatsache, dass ein Schwarm ein sich selbst organisierendes System ist, bedeutet also nicht, dass alle Individuen den gleichen Einfluss auf sein Verhalten haben. Trotz einer fehlenden offensichtlichen Hierarchie sind manche Individuen den Analysen zufolge wichtiger als andere. Fische am Rand des Schwarms reagieren als Erste auf Veränderungen, zum Beispiel auf einen Angreifer, und lenken dadurch mehrere Sekunden lang die Bewegungsrichtung der Gruppe. Manche Individuen wiederum schwimmen schneller als andere und können aufgrund dessen den Schwarm über längere Zeiträume hinweg anführen, beispielsweise bei der Nahrungssuche. Solche individuellen Unterschiede sind bislang noch kaum unter­sucht worden. Dabei geben sie einer uniform scheinenden Gruppe Struktur und beeinflussen ihr Verhalten massiv.

Gemeinsam zu besseren Entscheidungen

Zusammen mit Kollegen und Kolleginnen von den Universitäten Konstanz und Cambridge hat Couzin an Stichlingen den Einfluss individueller Unterschiede auf das Gruppenverhalten untersucht. Die Forschenden analysierten die Verhaltensmuster mehrerer Individuen in unterschiedlichen Umgebungen. Anschließend setzten sie die Fische in Gruppen zusammen und beobachteten, wie die Tiere Nahrungsquellen ausfindig machten und nutzten.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Individuen, die mehr Zeit in der Nähe der Artgenossen verbrachten, langsamer waren, sich eher im Zentrum der Gruppe aufhielten und auch dazu neigten, anderen Fischen zu folgen. Eine Gruppe, die hauptsächlich aus solchen Individuen bestand, hielt zwar stärker zusammen, bewegte sich aber auch weniger und unkoordinierter. Gruppen aus weniger auf Nähe zu Artgenossen bedachten Tieren hielten hingegen schlechter zusammen, schwammen jedoch schneller.

Dabei stellt sich auch die Frage nach der „Persönlichkeit“ von Fischen. Warum schwimmen die einen schneller als die anderen? Sind sie mutiger? Sind die einen vielleicht altruistischer, während andere deutlicher auf den eigenen Vorteil bedacht sind und ihre Schwarmgenossen ausnutzen? „Ich persönlich spreche nicht so gerne von der ,Persönlichkeit‘ von Fischen, denn ich halte einen solchen Begriff nicht für sehr hilfreich, um relativ einfache Unterschiede zu beschreiben. Letztlich wissen wir noch nicht, ob eine Sardine schneller schwimmt, weil sie mutiger ist oder weil sie schlicht größer oder stärker ist“, sagt Couzin. Wie man die Verschiedenheiten zwischen den Schwarmmit­gliedern auch nennen mag, es reichen bereits einzelne kleine Unterschiede aus, um die Entscheidungsfindung sowohl eines Individuums als auch eines ganzen Schwarms zu beeinflussen.

Eine große Zahl in Verbindung stehender Einheiten, die untereinander Informationen austauschen und dadurch als Kollektiv bessere Entscheidungen treffen können – erinnert das nicht an die Arbeitsweise des Gehirns? „Das ist richtig. Unsere Experimente mit Schwarmfischen haben gezeigt, dass nicht nur das Gehirn der Fische Informationen verarbeitet, sondern auch der Schwarm als Ganzes. Wie verlässlich der Schwarm beispielsweise auf einen Angreifer reagiert, das hängt nicht von der Empfindsamkeit der einzelnen Fische ab, sondern von ihrer Position zu- und dem Abstand voneinander: Sie sollten einander möglichst gut sehen, damit Informationen optimal weitergegeben werden können. In unserem Gehirn folgen Nervenzellen demselben Prinzip“, so Iain Couzin. Ändert sich die Verbindung zwischen den Individuen beziehungsweise den Nervenzellen, so beeinflusst dies auch den Informa­tionsfluss zwischen ihnen. Dadurch kann sich das Verhalten des Gesamtsystems ändern.

Den Forschenden zufolge können Fische in einem Schwarm auf diese Weise früher auf Gefahren reagieren, ohne dass die Gefahr von Fehlalarmen steigt. Allzu empfindsame Fische oder Neurone hingegen, die auf jedes noch so kleine Anzeichen einer Gefahr reagieren, würden massenhafte Fehlalarme auslösen.

Schwärme besitzen eigenes Gedächtnis

Fischschwärme und andere Tiergruppen entwickeln auf diese Weise Fähigkeiten, welche die einzelnen Tiere nicht besitzen. Der Schwarm ist folglich mehr als die Summe seiner Teile – auch dies eine Analogie zum Gehirn. Darauf beruht auch die im Zusammenhang mit dem Internet viel zitierte „Weisheit der Vielen“. Das – zum Teil fehlerbehaftete – Wissen der Einzelnen ergibt in der Summe ein recht genaues Abbild der Wirklichkeit. „Ein Schwarm kann auf diese Weise ein kollektives Gedächtnis entwickeln und sich an Dinge erinnern, die ein bestimmtes Tier unter Umständen gar nicht selbst erlebt hat“, erklärt Couzin. Ein solch „kollektiver Geist“ ist auch von Staaten bildenden Tieren wie Ameisen und Bienen bekannt. Anders als diese Insekten sind die Fische eines Schwarms jedoch nur selten miteinander verwandt. Die Evolution kann deshalb nicht den Schwarm selbst optimieren, sondern nur dessen Individuen.

Die Weisheit der Vielen ist aber bekanntlich nicht unendlich. Iain Couzin und sein früherer Doktorand Albert Kao, der seit Kurzem seine eigene Forschungsgruppe in Boston leitet, haben gezeigt, dass der Informationsvorsprung, den das Leben im Schwarm verleiht, ab einer Gruppengröße von fünfzehn bis zwanzig Individuen wieder zurückgeht. Doch warum bilden dann manche Arten Schwärme aus vielen Tausend Individuen? „Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, sind viele Großgruppen nicht gleichförmig, sondern durchaus heterogen aufgebaut, das heißt, sie besitzen Untergruppen. Große Elefantenherden zum Beispiel bestehen aus verschiedenen Familien und Clans“, so Couzin. Solche Gruppenstrukturen können verhindern, dass der Informationsfluss abreißt.

Dank der von ihnen entwickelten Analysewerkzeuge können die Forschenden Stück für Stück aufklären, wie Fische ihr Verhalten im Schwarm koordinieren. Dies gibt auch Hinweise darauf, wie der Mensch diese Regeln für eine effektive Koordination von Schwärmen autonomer Fahrzeuge wie Drohnen anwenden könnte. „Ich glaube, dass wir den Code endlich geknackt haben. Die von der Natur entwickelten Regeln sind demnach wahrscheinlich genauso gut wie die vom Menschen geschaffenen, aber viel einfacher und robuster. Unsere Studien an Fischen könnten sich also schon bald auf unser tägliches Leben auswirken.“

Noch ist nicht klar, ob auch Fischschwärme solche Strukturen besitzen. Couzin und sein Team wollen diese Wissenslücke schließen. Helfen soll ihnen dabei ihre jüngste Entwicklung: eine auf künst­licher Intelligenz basierende Software, die die Bewegungen jedes einzelnen Fischs eines Schwarms verfolgen kann. „Wir müssen die Tiere nicht mal vorher markieren. Unser Algorithmus kann jedes Individuum identifizieren und seine Route messen. Das wird die Erforschung des Schwarmverhaltens revolutionieren“, sagt Couzin.

Schwellenwert fürs Aussterben?

Fischschwärme durchziehen die Weltmeere seit Jahrmillionen – Räubern und Umweltveränderungen zum Trotz. Vor Kurzem ist aber ein Spieler auf der Bildfläche erschienen, der sich nicht an die Spielregeln hält: der Mensch. Vor Fischtrawlern mit ihren heute oft kilometerlangen Netzen bieten selbst riesige Schwärme keinen Schutz – im Gegenteil, sie ziehen die Fangflotten erst recht an. Viele Fischbestände sind deshalb inzwischen eingebrochen.

Auch die Zahlen vieler anderer Tiere, die Gruppen bilden, sind stark zurückgegangen: Vögel, große Säuger, Insekten. Was das für das Überleben dieser Arten bedeutet, ist noch nicht absehbar. Es könnte zum Beispiel einen Schwellenwert geben, ab dem sich nicht mehr genügend viele Individuen zu einem Schwarm zusammenfinden können. Eine Art könnte dann aussterben, obwohl es noch viele Tausend Individuen davon gibt. „Die Erforschung von Schwärmen trägt deshalb auch zum Artenschutz bei“, sagt Iain Couzin. Ob Fischschwärme in Zukunft noch durch die Weltmeere ziehen, ist also höchst ungewiss. Zu wünschen wäre es – und dies nicht nur, weil sie ein Symbol sind für die Macht der Kleinen und Wehrlosen, wenn sie sich zusammenschließen.

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