Präfrontaler Kortex an bewusstem Sehen beteiligt
Neue Studie liefert konzeptionellen Fortschritt in der Bewusstseinsforschung
Eine internationale Forschungsteam zeigt, dass der präfrontale Kortex maßgeblich am Entstehen von bewusster visueller Wahrnehmung beteiligt ist. Die Ergebnisse stellen einen wichtigen Fortschritt in der Bewusstseinsforschung dar. Sie liefen wichtige neue Daten für die rege Debatte über die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins und haben Auswirkungen auf unser Verständnis davon, was Bewusstsein ist und wie es entsteht.
Warum und wie können bewusste Wahrnehmungen im Gehirn entstehen? Diese Frage fasziniert Philosophen und Neurowissenschaftler zugleich. Um das Bewusstsein als Ganzes zu verstehen, muss man zunächst erkennen, was auf neuronaler Ebene geschieht – das heißt, wie viele und welche Strukturen am Prozess der Selbstorganisation neuronaler Netze im Gehirn beteiligt sind, wenn wir unsere Umwelt bewusst erleben. „Der präfrontale Kortex liegt im Zentrum der Debatte über Bewusstsein“, erklärt Vishal Kapoor, Projektleiter am International Center for Primate Brain Research in Shanghai und vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Physiologie kognitiver Prozesse des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen. Kapoor ist – gemeinsam mit seinem Kollegen Abhilash Dwarakanath, der nun am Forschungszentrum NeuroSpin in Paris forscht – Hauptautor einer Studie, die nachweist, dass bewusste visuelle Wahrnehmung mit neuronaler Aktivität im präfrontalen Kortex einhergeht. Der präfrontale Kortex, eine Region an der Stirnseite des Gehirns, ist für die Entscheidungsfindung verantwortlich und eng mit dem motorischen Kortex verbunden.
Frühere Arbeiten hatten bereits darauf hingedeutet, dass präfrontale Aktivität an bewusstem Wahrnehmen beteiligt sein könnte. Doch die Nachweise blieben umstritten: Wenn Probanden ihre Wahrnehmungen zu Protokoll geben, löst schon allein das eine Aktivität im präfrontalen Kortex aus, da hierbei Entscheidungsfindung und motorische Kontrolle beteiligt sind. Somit ist es unmöglich, zu erkennen, ob die bewusste Wahrnehmung oder das bloße Berichten darüber eine präfrontale Aktivität auslöst. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass bei wechselnden visuellen Stimuli ein guter Teil der präfrontalen Aktivität mit der Weiterleitung der neuen visuellen Daten aus anderen Hirnarealen zusammenhängt.
Wechselnde Eindrücke von visuellen Stimuli
Um sicherzugehen, dass sie ausschließlich die in Zusammenhang mi der bewussten Wahrnehmung stehende präfrontale Aktivität messen, mussten die Forscher ein Experiment entwickeln, das weder erfordert, dass Probanden über ihre Wahrnehmungen berichten, noch, dass sich die visuellen Stimuli selbst ändern – das aber dennoch messbare Veränderungen in der bewussten Wahrnehmung hervorruft.
Daher entwickelten sie die Idee, Affen einen visuellen Stimulus zu zeigen, der auf zwei verschiedene Arten interpretiert werden konnte. „Man denke zum Beispiel an das bekannte Bild, auf dem man entweder eine Vase oder die Profillinien von zwei einander zugewandten menschlichen Gesichtern sieht”, erläutert Theofanis Panagiotaropoulos, der am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik die Studie anleitete und nun Projektleiter am französischen Inserm und des Human Brain Projects ist. „Durch diesen mehrdeutigen Stimulus wechselt das Bewusstsein automatisch von einer Interpretation zur anderen – manchmal nimmt man die Gesichter wahr, manchmal die Vase. In Kombination mit Aufzeichnungen neuronaler Aktivität sind solche mehrdeutigen Bilder ein exzellentes Werkzeug, um bewusstes von nicht-bewusstem Sehen zu unterscheiden und wichtige neue Daten zu gewinnen, die theoretische Modelle des Bewusstseins untermauern können.“
Die Forscher verwendeten horizontale Gitter, deren vertikale Bewegung entweder als Aufwärts- oder Abwärtsbewegung interpretiert werden konnte. Dabei wurde die Wahrnehmung des Affen anhand seiner Augenbewegung abgelesen. Zusätzlich nahmen die Wissenschaftler die neuronale Aktivität im präfrontalen Kortex auf. Der Ansatz mehrdeutiger Stimuli bestimmte bereits in der Vergangenheit die Frage, was auf der Ebene einzelner Neuronen der bewussten Wahrnehmung entspricht. Auf den Weg gebracht wurde die Methode vom Letztautor der Studie, Nikos K. Logothetis, in dessen Forschungsabteilung die Daten erhoben wurden, bevor er sein Labor nach Shanghai verlegte.
Was heißt es, ein bewusstes Wesen zu sein?
Die Resultate dieses sorgfältig überlegten Experiments waren beeindruckend: Die Forscher konnten mit bislang unerreichter Genauigkeit an vielen Neuronen gleichzeitig beobachten, dass bewusste Wahrnehmung im präfrontalen Kortex repräsentiert ist und dass sich dessen Aktivitätsmuster dann ändern, wenn sich auch die bewusste Wahrnehmung ändert. Dank der Genauigkeit ihrer Messungen konnten sie sogar die jeweils aktuellen Bewusstseinsinhalte aus der neuronalen Aktivität entschlüsseln.
„Unsere Ergebnisse bedeuten nicht, dass der präfrontale Kortex der Sitz des Bewusstseins ist“, interpretiert Kapoor vorsichtig die Resultate. „Zusammen mit früheren Arbeiten legen die Ergebnisse nahe, dass bewusste Wahrnehmung verteilt repräsentiert ist; wir können nicht einer einzigen Region im Gehirn eine Schlüsselrolle zuweisen. Doch zu wissen, dass der präfrontale Kortex zweifellos eine Rolle spielt, kann unsere Vorstellung der bewussten Wahrnehmung, ja vielleicht sogar unsere Konzeption von Bewusstsein verändern. Eines Tages können wir vielleicht verstehen, was es heißt, ein bewusstes Wesen zu sein.“