Die bewegte Teenagerzeit unserer Milchstraße
Mit Hilfe eines einzigartigen neuen Datensatzes ist Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix (MPI für Astronomie) die bislang detaillierte Rekonstruktion der bewegten Teenager-Jahre unserer Heimatgalaxiegelungen: der Zeit zwischen etwa 13 und 8 Milliarden Jahren, als die Milchstraße ein reges Leben führte, mit anderen Galaxien verschmolz und viel Wasserstoff verbrauchte, um neue Sterne zu bilden – bevor für die folgenden 8 Milliarden Jahre ein ruhigeres Erwachsenenleben begann. Möglich wurde die Rekonstruktion, weil die Forscher das Alter zahlreicher Milchstraßen-Sterne präzise bestimmen konnten. Die Ergebnisse erschienen jetzt in der Zeitschrift Nature.
Zu verstehen, wie unsere Heimatgalaxie entstanden ist und sich entwickelt hat, ist ein wichtiges Ziel der Astronomie und Astrophysik. Neue umfangreiche Beobachtungsdaten haben dabei in den letzten Jahren zu beeindruckenden Fortschritten geführt. Die neue Studie von Xiang und Rix ist ein nächster großer Schritt: Die beiden Forscher konnten eine Reihe früher Phasen der Milchstraßengeschichte erstmals genauer datieren. Möglich wurde das durch eine Auswertung, bei der es gelang, das Alter von 250.000 Sternen präzise zu bestimmen.
Eine grobe Skizze der Geschichte unserer Milchstraße
Nach unserem heutigen Verständnis hat unsere Heimatgalaxie in ihrem bisherigen Leben mehrere Phasen durchlaufen. Während der "Baby-Phase" (kein offizieller Fachbegriff) verschmolzen kleine, gasreiche Vorläufergalaxien zu einem Vorläufer-Gebilde, das später zu unserer Milchstraße heranwuchs. Da die verschmelzenden Galaxien nicht frontal miteinander kollidierten, verliehen sie der neu entstehenden Struktur einen Drall (Drehimpuls), der zu einer Abflachung führte. So dürfte die so genannte dicke Scheibe unserer Milchstraße entstanden sein: Gas und Sterne in einer abgeflachten Scheibe mit einem Durchmesser von 100 000 Lichtjahren und einer Dicke von 6000 Lichtjahren.
Eine Reihe weiterer Verschmelzungen mit Galaxien, die etwas kleiner waren als die Milchstraße, schufen den so genannten stellaren Halo, der die Milchstraßenscheibe umgibt – und jede weitere Verschmelzung brachte die regelmäßigen Abläufe in unserer Galaxis etwas durcheinander. Die späteren "Erwachsenenjahre" unserer Galaxis dagegen verliefen wesentlich ruhiger. Sterne entstanden (und entstehen) in jener Zeit vor allem in der so genannten dünnen Scheibe, die jünger und nur rund 2000 Lichtjahre dick ist.
Mit Stern-Altersangaben die Teenagerjahre rekonstruieren
Das neue Ergebnis von Xiang und Rix beschreibt nun detaillierter als je zuvor die Geschichte der produktiven Jugendjahre der Milchstraße von vor etwa 13 bis 8 Milliarden Jahren. Entscheidend für diese Rekonstruktion war, dass es den Astronomen gelungen war, das Alter von etwa 250.000 einzelnen Sternen genau zu bestimmen. In der Astronomie ist das alles andere als eine leichte Aufgabe. Es gibt jedoch eine bestimmte Sorte von Sternen, die so genannten "Unterriesen", bei denen man das Alter direkt aus Oberflächentemperatur und Helligkeit eines Sterns erschließen kann. Der Nachteil ist, dass Unterriesen sehr selten sind. Nur wenige Prozent der Sterne in unserer Milchstraße befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem vergleichsweise kurzen Entwicklungsstadium.
Glücklicherweise liefern neuere, umfassende Himmelsdurchmusterungen qualitativ hochwertige Daten für eine beeindruckende Anzahl von Sternen – genug, um auch zahlreiche Exemplare der selteneren Sternsorten zu erfassen: Das Early Data Release 3 der ESA-Mission Gaia, das im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, lieferte Positionsdaten und Entfernungen für fast 1,5 Milliarden Sterne, und die siebte Daten-Veröffentlichung der LAMOST-Durchmusterung, die im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, bot mehr als 9 Millionen Sternspektren, die ihrerseits Informationen über die Temperatur und die chemische Zusammensetzung der Sterne enthalten. Indem sie die Informationen aus diesen beiden Datensätzen kombinierten konnten Xiang und Rix ihren umfangreichen Katalog von Sternen mit bekanntem Alter zusammenstellen.
Stürmisches Zusammentreffen mit der Gaia-Enceladus/Sausage
Indem sie die Sterne nach Alter und chemischer Zusammensetzung sortierten erhielten die beiden Astronomen ein bemerkenswert klares Bild der Teenager-Zeit unserer Heimatgalaxie – inklusive Zeitangaben, wann die verschiedenen Phasen der Entwicklung stattgefunden hatten.
Zunächst spielte die Musik dabei vor allem im stellaren Halo und in der dicke Scheibe, die sich aus einem anfänglichen Zustrom von Gas gebildet hatte. Xiang und Rix fanden dabei heraus, dass sich vor etwa 11 Milliarden Jahren in unserer Galaxie in kurzer Zeit außergewöhnlich viele neue Sterne bildeten. Das dürfte Folge eines ganz bestimmten Verschmelzungsereignisses sein: der Verschmelzung unserer eigenen Galaxie mit der kleineren Galaxie, die den etwas ungewöhnlichen Namen Gaia Enceladus/Sausage trägt. Die Überreste jener kleineren Galaxie wurden 2018 von zwei konkurrierenden Gruppen anhand von Gaia-Daten entdeckt und benannt wurden.
Ungewöhnlich produktive Teenager-Jahre
In ihren Daten konnten Xiang und Rix erkennen, dass ein auffälliges "Produktionsmaximum" bei der Sternentstehung damit zusammenfiel, dass sich die Bahnen zahlreicher Sterne plötzlich und drastisch verändert hatten. Letzteres ist eine offensichtliche Folge der Verschmelzung, konkret: des Gravitationseinflusses der Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie. Damit dürfte das Sternentstehungs-Maximum in der Milchstraße nicht nur zeitgleich mit der Gaia-Enceladus/Sausage-Verschmelzung auftren, sondern eine Folge der Verschmelzung gewesen sein: Schockwellen aus der Kollision der Gasmassen der Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie mit dem Gas in unserer eigenen Galaxie könnten den Kollaps von Gaswolken und damit die vermehrte Sternbildung ausgelöst haben.
Auch nachdem die turbulente Ära der Verschmelzungen beendet war, bildete die dicke Scheibe auf ungewöhnlich produktive Weise Sterne. Die Gesamtzahl der gebildeten Sterne lässt darauf schließen, dass die dicke Scheibe von Anfang an beeindruckende Mengen an Gas enthielt. Das würde auch ihre vergleichsweise große Dicke erklären. Mit einem so großen Vorrat an Gas waren die Bedingungen für die Sternentstehung sehr günstig – auch ohne dass sich jene Scheibe zu einem schmaleren Gebilde zusammenziehen musste, um die für die Sternentstehung nötigen Gasdichten zu erreichen.
Eine gut durchmischte Milchstraßen-Scheibe
Vor allem massereiche Sterne produzieren viele Elemente, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Solche Elemente heißen in der Astronomie (und abweichend von unserem Alltags-Sprachgebrauch sowie dem der Chemie) "Metalle". Die schwereren Elemente sammeln sich in der Regel in der Nähe der zentralen Regionen der Galaxie. Sterne, die in jenen Regionen neu entstehen, enthalten daher typischerweise mehr Metalle als Sterne, die in den Außenbezirken entstehen.
Die von Xiang und Rix gesammelten Daten zeigen jedoch etwas anderes: Alle Sterne, die zur selben Zeit entstehen, haben denselben Metallgehalt. Das gilt vom frühestmöglichen Zeitpunkt an, der in den Daten sichtbar ist – 13 Milliarden Jahre vor unserer Zeit, also nur 800 Millionen Jahre nach dem Urknall – bis zu der Zeit vor rund 8 Milliarden Jahren, ab dem unsere Milchstraße in ihre gemäßigtere Erwachsenenphase eintritt. Der Metallgehalt selbst ändert sich dabei mit der Zeit: Je älter ein Stern ist, desto weniger Metalle enthält er.
Die einfachste Erklärung für diesen Umstand ist, dass während dieser ganzen Zeit eine gründliche Durchmischung des Gases in der dicken Scheibe stattgefunden hat – und diese Erklärung ist ein Schlüsselergebnis der neuen Studie. Auf diese Weise hätten alle zur gleichen Zeit geborenen Sterne die gleiche chemische Zusammensetzung geerbt, wobei der Anteil schwerer Elemente mit der Zeit zunahm, da das Gas allmählich mehr und mehr mit den Produkten der Kernfusionsprozesse früherer Sterngenerationen verunreinigt – die Astronomen nennen es angereichert – wurde.
Milchstraßen-Geschichte schreiben
Vor etwa 8 Milliarden Jahren, so zeigen die neuen Daten, gingen die produktiven Teenager-Jahre der Milchstraße zu Ende. Das dürfte daran gelegen haben, dass die dicke Scheibe einen Großteil ihres anfänglichen Vorrats an Wasserstoffgas aufgebraucht hatte. Offensichtlich gab es aber immer noch einen stetigen Zufluss mäßiger Mengen an frischem Wasserstoffgas aus dem intergalaktischen Raum, und da die Sternentstehungsaktivität in der dicken Scheibe so gut wie beendet war, konnte sich dieses Gas nach und nach in einer eigenen Scheibe ansiedeln. Da aber insgesamt nicht so viel Gas einströmte, musste sich diese Scheibe deutlich weiter zusammenziehen, auf eine Dicke von nur etwa 2000 Lichtjahren, um die richtigen Bedingungen für eine (mäßige) Sternentstehung zu erreichen.
Das Ergebnis war das, was wir heute die dünne Scheibe unserer Galaxis nennen. Die lange, eher bedächtige Erwachsenphase unserer Heimatgalaxie hatte begonnen. Eine weitere Kollision samt Verschmelzung mit einer einigermaßen massereichen Galaxie hätte die Dinge vielleicht ein wenig beleben können, aber das geschah nicht – ein eher ungewöhnliches Schicksal, verglichen mit anderen Galaxien. Alles andere als ungewöhnlich ist der allgemeine Trend: Eine produktive Frühphase, gefolgt von einem ruhigen Leben, scheint nach aktuellen Computersimulationen die Norm für die Galaxienentwicklung zu sein.
Das ist die neu rekonstruierte Version der Geschichte unserer Galaxie. Und was sich für eine Darstellung der menschlichen Geschichte wie eine Selbstverständlichkeit anhört – dass wichtige Ereignisse samt ihrer Daten genannt werden – ist für die Astronomie eher ungewöhnlich. Es ist sehr schwierig, verlässliche Daten für Ereignisse in der kosmischen Geschichte unserer Heimatgalaxie anzugeben. Dass dies in der neuen Studie gelungen ist und somit eine detaillierte Zeitleiste der Teenager-Jahre unserer Galaxie erstellt werden konnte, ist ein beachtlicher Fortschritt.
Die nächsten Schritte
Xiang und Rix planen derweil schon die nächsten Schritte. In nur einigen Jahren sollte es noch deutlich bessere und umfassendere Datensätze geben. Um das Jahr 2024 ist die vierte Daten-Veröffentlichung (Data Release 4, DR4) der Gaia-Mission der ESA zu erwarten. Die präziseren Entfernungsmessungen (ermittelt über die Parallaxe) dieser Veröffentlichung sollten genaue Altersschätzungen für eine noch deutlich größere Anzahl von Sternen und über wesentlich größere Entfernungen hinweg ermöglichen.
Detaillierte spektroskopische Durchmusterungen decken den Nordhimmel derzeit ebenfalls nur bis zu vergleichsweise geringen Entfernungen ab. Das sollte sich dank Durchmusterungen wie SDSS-V und 4MOST ändern. Insgesamt stehen die Chancen gut, dass die hier beschriebene Pionierarbeit der Beginn eines neuen Kapitels der galaktischen Archäologie sein könnte, das auf großen Stichproben mit präzisen Sternaltern beruht.