Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen

Vom Labor in die Natur: Würmer, Käfer und eine Tropeninsel im Indischen Ozean

Autoren
Sommer, Ralf J.
Abteilungen
Abteilung Evolutionsbiologie
Zusammenfassung
Viele biologische Phänomene können in Laboratorien bis ins kleinste Detail untersucht werden, ihre ökologische Relevanz erschließt sich aber erst in der Natur, und der Weg vom Labor zurück dorthin ist weit und steinig. Zusammen mit meinem Team untersuche ich, wie Fadenwürmer an Käferkadavern um kurzzeitige Futterquellen konkurrieren. Dabei spielen zentrale Konzepte der Evolutionsbiologie eine entscheidende Rolle. Deren ökologische Bedeutung erforschen wir exemplarisch auf einer kleinen, weitgehend unberührten Tropeninsel.

Der Fadenwurm Pristionchus pacificus als Modellorganismus

Eigenschaften von Organismen werden durch ihre Gene und ihre Umwelt bestimmt. Phänotypische Plastizität beschreibt das in der Natur verbreitete Phänomen, dass Organismen in Abhängigkeit der Umweltbedingungen verschiedene Formen ausbilden können. Faszinierende Beispiele der phänotypischen Plastizität sind staatenbildende Insekten, also Termiten, Wespen, Ameisen und Bienen. Königinnen und Arbeiterinnen sind genetisch gleich, aber die Umwelt und die Menge und Art des Futters legen die Entwicklung der Tiere fest.

Wir studieren phänotypische Plastizität an Fadenwürmern (Nematoden), die im Labor kultiviert werden können. Der Fadenwurm Pristionchus pacificus wurde von uns zu einem Modellorganismus für die evolutionäre Entwicklungsbiologie etabliert. Im Labor werden die Würmer mit dem Bakterium Escherichia coli ernährt, haben eine Generationszeit von nur vier Tagen und vermehren sich als selbstbefruchtende Zwitter. Letzteres führt zu genetisch identischen Kulturen und damit zu einer leichten Identifizierung von Umwelteinflüssen auf die Entwicklung der Tiere.

P. pacificus kann zwei Mundformen bilden: eine bakterienfressende (stenostomat, St) mit einem Zahn im Mund und eine potenziell räuberische Form (eurystomat, Eu), die, mit zwei Zähnen ausgestattet, auch andere Fadenwürmer töten kann (Abb. 1).

Wie entstehen die Mundformen?

Unsere Arbeiten habe detaillierte Einsichten in die Regulation der Steuerung für die Mundformausbildung identifiziert. Welche Gene entscheiden über die Ausprägung, wie nehmen die Würmer ihre Umwelt wahr und welche Faktoren beeinflussen die Ausprägung? Mittlerweile kennen wir das Gen-regulatorische Netzwerk der Mundformausprägung im Detail. Im Zentrum steht ein Schaltergen, das die Wahrnehmung der Umwelt integriert und den Ablauf der Mundformausprägung koordiniert [1]. Ein System genetischer und epigenetischer Prozesse führt letztendlich zur Ausprägung der unter den jeweiligen Umweltbedingungen optimalen Mundform.

Aber können Laborexperimente natürliche Umweltbedingungen nachstellen? Und wo lebt P. pacificus, was frisst er und welche Mundform kommt in der Natur bevorzugt vor? Wir fanden, dass P. pacificus besonders an Blatthornkäfern vorkommt. Die Würmer befinden sich in einem arretierten Entwicklungsstadium, entwickeln sich auf dem lebenden Käfer nicht weiter und warten auf dessen Tod. Der Käferkadaver wird zuerst von Bakterien- und Pilzen besiedelt; P. pacificus und andere Fadenwurmarten riechen dieses Futter und setzen ihre Entwicklung fort. Für eine kurze Zeit stellt der Käferkadaver genügend Futter zur Verfügung, um mehrere Generationen zu ermöglichen - wären da nicht viele Konkurrenten, zum Beispiel auch andere Nematoden.  

Einblicke in das Ökosystem „Käferkadaver“

Der Plastizität der Mundformen von P. pacificus und anderer Nematodenarten wurde lange eine Rolle bei der Konkurrenz um die limitierten Ressourcen am Käferkadaver zugesprochen. Welche Faktoren im Käfer-Ökosystem könnten die Mundformausprägung beeinträchtigen? Hier steckt der Teufel im Detail: Zwar findet man regelmäßig Pristionchus Fadenwürmer an Blatthornkäfern, nur meistens herrscht wenig Befall. Zudem kommt P. pacificus in Europa nicht vor; er wird vor allem in Asien und Nordamerika gefunden.

Eine Reise auf die Tropeninsel La Réunion im Indischen Ozean, auf der wir 2008 P. pacificus entdeckt haben, gab uns dann endlich neue, hilfreiche Hinweise. Der Fadenwurm ist mehrmals und unabhängig mit verschiedenen Käferarten auf diese erst 2-3 Millionen Jahre alte Vulkaninsel verschleppt worden, was viele Forschungsansätze für die Populationsbiologie bietet [2]. Als Glücksfall stellte sich heraus, dass zwei Käferarten auf La Réunion extrem hohe Befallsdichten mit P. pacificus aufwiesen. Der Nashornkäfer Oryctes borbonicus zum Beispiel zeigte eine Befallsdichte von etwa 90%. Dies ermöglichte ein Experiment: Bei Dämmerung gefangene Tiere wurden getötet und ihre Kadaver vergraben [3]. Nachfolgend entnahmen wir zu verschiedenen Zeitpunkten Kadaver, um die Sukzession der Fadenwürmer in ihrem „natürlichen Ökosystem“ zu untersuchen. Diese Experimente haben uns zahlreiche, unerwartete Ergebnisse geliefert. So bildeten sämtliche auf dem lebenden Käfer wartenden Larven auf dem Kadaver stets die räuberische Mundform aus [4]. Im Labor jedoch bildeten einige dieser Würmer auch die nicht-räuberische Mundform. Die unterschiedlichen Bedingungen im Labor beziehungsweise in der Natur führen somit zu unterschiedlichen Formen im selben Genotyp.

Der Nashornkäfer bringt allerdings eine Limitierung mit sich. Zwar kommen neben P. pacificus auch andere Fadenwürmer regelmäßig in ihm vor, nicht aber in so hohen Zahlen, dass eine experimentelle Analyse der potenziellen Konkurrenz untersucht werden kann.

Weitere Fadenwurm-Arten ermöglichen neue evolutionsbiologische Konzepte

Kürzlich aber haben wir einen endemischen Maikäfer, Gymnogaster buphtalma, gefunden, der diese Bedingungen erfüllt. Auf Gymnogaster finden sich regelmäßig zwei Fadenwurmarten: P. mayeri, eine andere Pristionchus Art, die im Labor meist als Nicht-Räuber vorkommt, sowie eine unbeschriebene Art der Gattung Acrostichus. Aktuelle Arbeiten haben gezeigt, dass die Koexistenz von Acrostichus und P. mayeri bei Letzterem zur Ausbildung der räuberischen Mundform führt [5]. Ist P. mayeri dagegen alleine auf dem Kadaver, bilden die Würmer die energetisch günstigere, nicht-räuberische Form aus. Laborexperimente, in denen die beiden Arten in verschiedenen Mengenverhältnissen kultiviert wurden, haben diese Beobachtungen aus der Natur bestätigt.

Die leichte Zugänglichkeit dieser beiden Käfer-Ökosysteme wird es uns in den nächsten Jahren erlauben, manipulativ in dieses System einzugreifen, um komplexere Konkurrenzsituationen zu etablieren. Dies wird uns auch erlauben, neuartige evolutionsbiologische Konzepte zu formulieren und nachfolgend zu untersuchen.

Literaturhinweise

Ragsdale, E.; Müller, M.; Roedelsperger, C.; Sommer, R.J.
A developmental switch coupled to the evolution of plasticity acts through a sulfatase
Cell 155, 922-933 (2013)
Morgan, K.; McGaughran, A.; Witte, H.; Bartelmes, G.; Villate, L.; Herrmann, M.; Rochat, J.; Sommer, R.J.
Multi-locus analysis of Pristionchus pacificus on La Réunion island reveals an evolutionary history shaped by multiple introductions, constrained dispersal events, and rare out-crossing
Molecular Ecology 21, 250-266 (2012)
Meyer, J.M.; Baskaran, P.; Quast, C.; Susoy, V.; Rödelsperger, C.; Glöckner, F.O.; Sommer, R.J.
Succession and dynamics of Pristionchus nematodes and their microbiome during decomposition of Oryctes borbonicus on La Réunion Island
Environmental Microbiology 19, 1476-1489 (2017)
Renahan, T.; Lo, W.-S.; Werner, M.S.; Herrmann, M.; Rochat, J.; Sommer, R.J.
Nematode biphasic ‘boom and bust’ dynamics are dependent on host bacterial load while linking dauer and mouth-form polyphenisms
Environmental Microbiology 23, 5102-5113 (2021)
Renahan, T.; Sommer, R.J.
Nematode interactions on beetle hosts indicate a role of mouth-form plasticity in resource competition
Frontiers in Ecology and Evolution 9:752695 (2021)

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