„Darwins Schriften sind die Bibel der Evolutionsbiologie“

Interview mit Detlef Weigel über seinen Befund, dass Zellen besonders wichtige Gene vor Mutationen schützen

Veränderungen an der DNA, sogenannte Mutationen, erfolgen unabhängig von ihren Konsequenzen für den Organismus. So lautete viele Jahrzehnte lang eine Grundannahme in der Evolutionsbiologie. Das Team von Detlef Weigel, Direktor am Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen, hat dieses Dogma in einer weltweit beachteten Studie widerlegt. Im folgenden Interview erklärt er, was dies für unser Verständnis von der Evolution bedeutet.

Herr Professor Weigel: Was genau ist das grundlegend Neue an Ihren Ergebnissen?

Detlef Weigel: Unsere Studie hat gezeigt, dass Mutationen nicht mit derselben Häufigkeit in wichtigeren und weniger wichtigen Genen – also nicht gleichmäßig verteilt –auftreten und warum das so ist. Wir wissen jetzt, dass DNA-Abschnitte im Erbgut der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana, die nicht zu einem Gen gehören, doppelt so häufig mutieren wie Genabschnitte. Und weniger wichtige Gene mutieren fast 50 Prozent häufiger als solche, die die Pflanze  unbedingt zum Leben benötigt. Das klingt nach nicht sehr viel, ist aber tatsächlich ein enormer Unterschied.

Diese Ungleichverteilung ist das Resultat chemischer Veränderungen an der DNA und mit ihr assoziierten Proteinen. Diese Modifikationen steuern den natürlichen Reparaturmechanismus der Zellen so, dass Schäden an der DNA an besonders wichtigen Abschnitten häufiger als im Rest des Erbguts wieder repariert werden. Bildlich gesprochen können diese Gene der Zelle zurufen: „Hallo, ich bin besonders wichtig, bitte kümmere Dich um mich besonders gut!“

Ist dies die Erklärung für sogenannte konservierte Gene – also solche, die sich über Jahrmillionen wenig verändert haben und selbst bei unterschiedlichsten Organismen in ganz ähnlicher Form vorkommen?

Weigel: Es trägt zumindest dazu bei! Dass es Bereiche im Erbgut gibt, die anscheinend seltener mutieren als andere, weiß man schon lange. Bislang ging man allerdings davon aus, dass viele der Mutationen in diesen Abschnitten nicht beobachtet werden können, weil sie die natürliche Selektion ganz schnell wieder eliminiert. In manchen Bereichen sind Mutationen so schädlich oder gar tödlich, dass ihre Träger schnell aus der Population verschwinden. Im Prinzip ist das auch ausreichend, um die die tatsächlich beobachtete Verteilung von Mutationen zu erklären.

Den alleinigen Einfluss der Selektion haben wir aber in unserer Studie als Erklärung ausgeschlossen, denn die Pflanzen in unserem Labor hatten ideale Wachstumsbedingungen. Dadurch konnten alle Pflanzen überleben – auch solche mit schädlichen Mutationen. Trotzdem blieben besonders wichtige DNA-Abschnitte in vielen Fällen von Mutationen verschont.

Welche praktischen Konsequenzen haben Ihre Erkenntnisse?

Weigel: Wir wissen jetzt, warum sich manche Pflanzengene eher schwer verändern lassen. Eines Tages könnte es möglich sein, den Mutationsschutz aufzuheben und so neue Nutzpflanzen mit verbesserten Eigenschaften zu züchten. Verschiedentlich wurde unser Befund auch als Beleg für die Wirkungslosigkeit der Gen-Schere Crispr-Cas angeführt. Dies stimmt so nicht, denn die Effektivität der Gen-Schere ist so hoch, dass eine um 30 Prozent niedrigere Mutationsrate kaum ins Gewicht fällt.

Prinzipiell wäre es auch denkbar, Krankheitsgene beim Menschen mit einem Mutationsschutz zu versehen und so die Entstehung von Krebs und anderen genetisch bedingten Erkrankungen zu reduzieren.

Sie haben Ihre Untersuchungen an der Ackerschmalwand gemacht, einer beliebten Modellpflanze für molekularbiologische Studien. Ist sie ein Einzelfall, oder sind Sie auf ein weit verbreitetes Phänomen gestoßen?

Weigel: Ich gehe davon aus, dass alle Organismen besonders wichtige Bereiche ihres Erbguts vor Mutationen schützen können. Vor einigen Jahren haben Kolleginnen und Kollegen die Mutationsverteilung in einem Bakterium untersucht und dabei eine ganz ähnliche Entdeckung gemacht, ohne allerdings eine Erklärung dafür liefern zu können. Da ihre Ergebnisse dem herrschenden Dogma fundamental zu widersprechen schienen, wurden sie von den meisten Evolutionsbiologen angezweifelt.

Das Dogma, von dem sie sprechen, besagt, dass Mutationen völlig zufällig im Erbgut auftreten? Ist damit eine der Grundannahmen der ursprünglichen „Evolutionstheorie“ von Charles Darwin widerlegt?

Weigel: Überhaupt nicht. Darwin hat die Verteilung von Mutationen offen gelassen. Für seine Vorstellung, wie Evolution funktioniert, spielt das auch keine Rolle. Auch wir sagen ja nicht, dass die Selektion überflüssig ist. Es waren Generationen späterer Forscherinnen und Forscher, die sogenannten Neo-Darwinisten, die von einer reinen Zufallsverteilung ausgingen. Und das vor allem deshalb, weil damit die Evolutionstheorie besonders elegant erscheint.

Unser Ergebnis ändert also nichts daran, wie die Evolution abläuft, es macht nur die Beschäftigung mit ihr komplexer.

Hat sich Darwin denn überhaupt irgendwo geirrt? Vieles konnte er doch damals gar nicht wissen?

Eigentlich nicht. Er war ein sehr genauer Naturbeobachter, der für seine Beobachtungen mit viel Intuition die richtigen Erklärungen gefunden hat. Fast alles von dem, was er postuliert hatte, hat sich später als prinzipiell korrekt erwiesen. Seine Schriften sind deshalb für die Evolutionsbiologie zu einer Art Bibel geworden. Das kann dazu führen, dass man vielleicht nicht immer alles so hinterfragt, wie es nötig wäre.

Wie ist ihre Studie in der Wissenschaftsgemeinde aufgenommen worden?

Weigel: Wir wussten, dass das Ergebnis einer jahrzehntelang gepflegten Grundannahme der allermeisten Evolutionsbiologen widerspricht, und haben uns deshalb auf heftigen Gegenwind eingestellt. An unseren Daten gibt es aber nichts zu rütteln.

Andere scheinen weit weniger überrascht zu sein und den Befund erwartet zu haben. Das kommt ja in der Wissenschaft manchmal vor: Es gibt eine Grundannahme zu einem Thema – eine Art blinder Fleck, der nicht hinterfragt wird. Rückblickend fragt man sich dann, warum man nicht schon viel früher darauf gekommen ist.

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