Die Stützen des Lebens

Das Max Planck Queensland Centre wird extrazelluläre Matrizen und ihre Bedeutung für Medizin, Ökologie und Technik erforschen

3. Februar 2022

Sie sind bei fast allen Lebewesen zu finden und übernehmen vielfältige Aufgaben. Gemessen daran sind extrazelluläre Matrizen jedoch noch viel zu wenig erforscht. Das wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seit Anfang 2022 im Max Planck Queensland Centre (MPQC) for the Materials Science of Extracellular Matrices zusammengeschlossen haben, ändern. Extrazelluläre Matrizen sind nicht belebt, geben Zellen aber Halt, reagieren auf wechselnde Umweltbedingungen und speichern Information, die das Wachstum von Zellen ankurbelt oder hemmt. In verschiedenen Projekten werden Teams des MPQC untersuchen, wie die Zusammensetzung und Ordnung der Stützen des Lebens ihre diversen Funktionen ermöglichen. Die Ergebnisse der Forschungsprojekte könnten für die Medizin, aber auch ökologisch und technisch relevant sein.

So vielfältig wie das Vorkommen und die Aufgaben der Substanzen sind, mit denen sich Zellen umgeben, so breitgefächert sind auch die Projekte des Max Planck Queensland Centre. Doch sie haben alle einen Gegenstand: „Die Grundidee des Max Planck Queensland Centres ist das Studium von biologischen Materialien, die zwar unbelebt sind, aber ihre Umgebung wahrnehmen und sich daran anpassen können. Außerdem tragen diese extrazellulären Matrizen Information für die Zellen, die sie beherbergen“, sagt Peter Fratzl, Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung und einer der beiden Co-Direktoren des neuen Centers. „Wir wollen damit ein neues Gebiet auf die Forschungslandkarte bringen und dabei nicht nur die biomedizinischen Anwendungen in den Blick nehmen.“

Im MPQC schließen sich das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme sowie die Queensland University of Technology zusammen. Das Center hat bereits am 1. Januar 2022 seine Arbeit aufgenommen. In den kommenden fünf Jahren werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an insgesamt sieben Projekten arbeiten. „Das Max Planck Queensland Centre ist das erste Max Planck Center mit australischen Forschungseinrichtungen“, sagte Max-Planck-Präsident Martin Stratmann. „Dort finden unsere Forschenden die Partner, mit denen sie ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet erschließen und entscheidend vorantreiben wollen. Bislang hat die Forschung extrazellulären Matrizen nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die ihrer biologischen Bedeutung entspricht.“

Relevanz für die Onkologie, Ökologie und Robotik

Eine genauere Kenntnis, wie die Zusammensetzung und die Struktur extrazellulärer Matrizen ihre Funktionen beeinflusst, ist nicht nur für biomedizinische Anwendungen und ein besseres Verständnis biologischer Systeme relevant, sondern auch für technische Anwendungen, etwa in der Robotik oder Architektur. „Bioinspirierte Materialforschung ist ein aktueller Ansatz von Wissenschaft und Innovation, mithilfe von Designstrategien und -lösungen, die in der Natur seit langem erfolgreich sind, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen“, sagt Dietmar W. Hutmacher, Professor an der Queensland University of Technology und ebenfalls ein Co-Direktor des Max Planck Centers.

Extrazelluläre Matrizen (ECM) bestehen aus Proteinen, Kohlenhydraten und anderen Biopolymeren. Die meisten Lebewesen nutzen ihre Dienste, wenn auch für sehr unterschiedliche Zwecke. Im menschlichen Organismus etwa signalisieren sie Zellen, zu welchem Gewebe sie gehören. ECM sind auch am Tumorwachstum und an der Verbreitung von Metastasen beteiligt. „In einem der Projekte wollen wir besser verstehen, in welchen biophysikalischen und biochemischen Merkmalen sich die extrazellulären Matrizen von gesundem und krankem Gewebe unterscheiden, um eventuell neue Ansätze für die Krebstherapie zu finden“, sagt Peter Fratzl.

In Pflanzen übernehmen die Biopolymere manche Aufgabe, die man eigentlich nur lebendem Gewebe zutraut. So öffnen sich zum Beispiel die Samenkapseln der Mittagsblume, wenn es regnet.  Dann saugt sich Cellulose in den Deckeln der Kapseln mit Wasser voll, sodass diese aufklappen. Die Pflanze, die in sehr trockenen Gegenden wächst, kann so gut gedeihen. Doch nicht nur die ökologische Bedeutung der ECM von Pflanzen wird im MPQC untersucht. In einem Projekt möchten Forschende die Erkenntnisse über ECMs auf den Bau von Robotern übertragen, die sich wie Tiere oder Menschen bewegen sollen. „Unsere Forschungsaktivitäten im Bereich der physisch intelligenten, bioinspirierten Materialien und weichen Robotik ergänzen sich bestens mit den Untersuchungen zur Biomechanik von Zellen und unbelebtem Gewebe“, sagt Metin Sitti, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. „Der natürliche Aufbau und die Biomechanik von ECMs könnten den Weg ebnen hin zu innovativen bioinspirierten und biohybriden weichen Robotern, die in der Medizin zum Einsatz kommen.“

Nachwuchskräfte für ein junges Forschungsfeld

Technisch relevant könnten auch zwei weitere Vorhaben des Centers werden, deren Gegenstand davon erst einmal weit weg scheint: Biofilme von Bakterien gelten unter hygienischen Gesichtspunkten eher als Problem, spezielle Biofilme sind aber interessante Materialien, die zum Beispiel in der Architektur das Raumklima beeinflussen können. Wesentliches Element eines Biofilms ist, dass die Bakterienkolonie in eine extrazelluläre Matrix eingebettet ist, die die Mikroorganismen vor allem aus langen Zuckerketten formen. Um die Ansiedlung von Biofilmen steuern zu können, wollen die Forschenden des MPQC zunächst verstehen, welche biochemischen Faktoren dabei eine Rolle spielen. „Es geht darum, die Materialeigenschaften mit Hilfe der Mikroorganismen möglichst an technische Anforderungen anzupassen“, sagt Cécile Bidan, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Zu diesem Zweck werden die Forschenden des MPQC die extrazellulären Matrizen von Biofilmen auch synthetisch erzeugen. Martina Delbianco wird mit ihrer Arbeitsgruppe am selben Max-Planck-Institut die Vielfachzucker von ECM synthetisieren und im MPQC untersuchen, wie sich durch Veränderungen der Polysaccharide die Ansiedelung bestimmter Bakterien und die Eigenschaften der Biofilme kontrollieren und optimieren lassen.  

Neben Fortschritten beim Verständnis, der Kontrolle und der Anwendung extrazellulärer Matrizen hat sich das MPQC auch der Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs verschrieben. Das Center wird Expertinnen und Experten ausbilden, die im jungen Forschungsfeld des Bioengineering zur Weltspitze aufsteigen sollen. „Wir verfolgen zwei symbiotische Ziele: Zum einen wollen wir ein weltweit führendes interdisziplinäres Programm etablieren, das Grundlagenforschung mit angewandter Forschung zu extrazellulären Matrizen verbindet“, sagt Dietmar W. Hutmacher. „Zum anderen wollen wir das Potenzial von jungen Forschenden freisetzen. Unsere Nachwuchstalente werden wesentliche Beiträge leisten für die wissenschaftliche, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung.“ Die Hoffnung ist, dass die Stützen des Lebens auch jenseits der Biologie die Bedeutung erlangen, die sie für Lebewesen seit jeher haben.

PH

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