Annäherung hinter den Schlagzeilen

Offene Diskussion zwischen Vertretern der Wissenschaft und dem Chefredakteur der Bild

28. Januar 2022

In einer live übertragenen Gesprächsrunde haben Viola Prieseman, vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Otmar Wiestler, Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung und Michael Hallek von der Uni-Klinik Köln mit dem Chefredakteur von Bild, Johannes Boie über die Rollen von Wissenschaft und Journalismus in der Pandemie debattiert. Die Differenzen wurden dabei deutlich. Aber am Ende war man sich einig, dass beide Seiten im Gespräch bleiben sollten.
 

Anlass der Diskussion war ein Artikel, den die Bild-Zeitung Anfang Dezember 2021 veröffentlicht hatte: Unter der Schlagzeile „Die Lockdown-Macher“ waren Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann zusammen mit Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität abgebildet. In dem Beitrag wurden die drei persönlich für die von der Politik beschlossenen Verschärfungen der Corona-Maßnahmen verantwortlich gemacht. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen veröffentlichte daraufhin eine Stellungnahme, in der sie die Art und Weise der Berichterstattung scharf kritisierte. 94 Beschwerden wurden beim Presserat eingereicht, der nun prüft, inwieweit Bild gegen den Pressekodex verstoßen hat.

In der Gesprächsrunde kritisierten alle Wissenschaftler noch einmal mit deutlichen Worten den Stil des Artikels. Die Genannten seien „in unakzeptabler Weise an den Pranger gestellt worden“, so Otmar Wiestler. Michael Hallek sprach von einer Unkultur des Polarisierens und Diffamierens. Und Viola Priesemann erklärte, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre bestehenden Forschungsprojekte liegen gelassen hätten, um sich den Fragen zur Pandemie zu widmen. Es müsse daher zu denken geben, wenn junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich nun nicht mehr trauten, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Der Chefredakteur von Bild Johannes Boie gestand zumindest indirekt Fehler ein: Der Artikel sei „mehr als unglücklich – ich würde ihn so nicht nochmal drucken“.

Die beteiligten Wissenschaftler hoben ihre Bereitschaft und die Notwendigkeit hervor, wissenschaftliche Themen an die Öffentlichkeit zu vermitteln. „Aufklärung sei ein gemeinsames Interesse von Wissenschaft und Medien“, unterstrich Wiestler. Das gelte nicht nur für die Corona-Pandemie, sondern ebenso für den Klimawandel. Darum sei es auch wichtig, dass ein Boulevard-Medium wie Bild Wissenschaftsthemen aufgreift. Als Positivbeispiel nannte Michael Hallek die Berichterstattung zur Krebsforschung. Hier habe sich Bild das Ziel gesetzt, jeden unnötigen Krebstoten zu vermeiden. Das gleiche Ziel hätte er sich für die Corona-Pandemie gewünscht.

Im Kontext dieses Beispiels wurden aber auch klar, mit welchen Schwierigkeiten die Kommunikation von  wissenschaftlichen Themen in den Medien verbunden ist – insbesondere im Boulevardjournalismus: Wissenschaft vertrage Zuspitzung nur schwer, es bräuchte stattdessen eine differenzierte Darstellung, so Wiestler. Das läuft häufig den Gepflogenheiten, aber teilweise auch den Möglichkeiten in den Redaktionen entgegen, die – gerade im Boulevardjournalismus – nur wenige Zeilen für ihren Artikel haben. Boie wies aber zurecht darauf hin, dass Zeitung kein Elitenprojekt sei – auch die 13 Millionen Bild-Leserinnen und Leser, die zu erreichen man stolz sei, hätten ein Recht auf Meinungsbildung.

Priesemann betonte, es wäre schon etwas gewonnen, wenn die Berichterstattung nicht immer die Extreme in den Mittelpunkt rücken würde. An einem Beispiel erläuterte sie, wie verzerrt die Realität dargestellt wird, wenn man sich auf Maximalwerte konzentriert und daraus Folgerungen zieht: „Wenn wir sagen, Menschen können bis zu zwei Meter fünfzig groß werden, heißt das nicht, dass alle Krankenhausbetten zu klein sind.“

Ein weiterer problematischer Punkt sind unterschiedliche Positionen innerhalb der Wissenschaft. Diskussionen, etwa um den geeigneten Ansatz oder um die Interpretation von Daten sind wesentlicher Teil der Forschung. Für Journalistinnen und Journalisten ist jedoch oft schwer einzuschätzen, ob es sich bei Kritik innerhalb der wissenschaftlichen Community um eine echte Kontroverse handelt oder ob es einen breiten Konsens gibt, der von einigen wenigen Außenseitern angezweifelt wird. Wichtig wäre in jedem Fall, nicht medial einzelne Forscherinnen und Forscher gegeneinander auszuspielen.

Das sagte Bild-Chefredakteur Johannes Boie am Ende der Diskussion auch zu: Er wolle künftig in der Wissenschaftsberichterstattung weniger personalisiert zuspitzen. Ihm sei klar geworden, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht im gleichen Maße und vor allem nicht in derselben Rolle in der Öffentlichkeit stehen wie Politikerinnen und Politiker.

Alle Beteiligten waren sich einig, dass es wichtig sei, im Gespräch zu bleiben: Es brauche einen deutlich engeren Austausch zwischen Wissenschaft und Journalismus, auch dem Boulevardjournalismus, damit beide Seiten ein besseres Verständnis für die Arbeit der jeweils anderen bekommen. Das Ziel sollte sein, sich auf gemeinsame Standards und Spielregeln zu verständigen.

 

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