Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe

Topologische Quantenchemie

Autoren
Felser, Claudia
Abteilungen
Festkörperchemie
Zusammenfassung
Mit Hilfe eines kürzlich entwickelten Formalismus, der als topologische Quantenchemie (TQC) bezeichnet wird, wurde eine Hochdurchsatzsuche nach topologischen Materialien in bekannten Datenbanken wie der Inorganic Crystal Structure Database (ICSD) durchgeführt. Wir haben bis zu 20000 Materialien mit topologischen Eigenschaften [1, 2] und weitere rund hundert neue topologische magnetische Materialien [3] gefunden.  

Topologie ist ein einfaches mathematisches Konzept, das sich mit den Oberflächen von Objekten befasst. Die Topologie einer mathematischen Struktur ist identisch, wenn sie bei kontinuierlicher Verformung erhalten bleibt. Ein Pfannkuchen hat die gleiche Topologie (kein Loch) wie ein Würfel. Dieses Konzept wurde auf Festkörperverbindungen übertragen, wofür drei Forscher den Physik-Nobelpreis 2016 erhielten, und hat unser heutiges Verständnis der Eigenschaften revolutioniert. Der Startpunkt für topologische Festkörperphysik war allerdings die Entdeckung des Quanten-Hall-Effektes durch Klaus von Klitzing 1984. Viele Jahre vermutete man, dass das Konzept der Topologie nur wenige und komplexe Quanten-Funktionseinheiten betrifft. Heute aber wissen wir, dass alle Festkörper unter dem Aspekt der Topologie neu betrachtet werden müssen.

Topologische Materialien und Funktionseinheiten wurden erstmals 2006 theoretisch vorhergesagt und weisen chirale Kanäle oder topologische Oberflächenzustände von Elektronen und Spins auf. Diese können für eine Reihe von Anwendungen relevant sein, von der Informationsspeicherung über die Kontrolle des verlustfreien Spin- und Ladungstransports, in Quantencomputern bis hin zu riesigen Effekten in Festkörpern als Interaktion mit Temperatur, Druck, Licht usw.

Topologische Isolatoren weisen eine Bandlücke im Volumen, aber metallische Oberflächenzustände auf. Sie sind also im Innern Isolatoren und auf der Oberfläche elektrische Leiter. Die Oberflächen-Elektronen dieser Materialien sind topologisch vor Rückstreuung geschützt. Diese einzigartige Eigenschaft macht topologische Materialien zu potenziellen Kandidaten für verschiedene Anwendungen, wie energieeffizientere mikroelektronische Komponenten, effizientere Katalysatoren, thermoelektrische Wandler und neue magnetische Speichermedien.

Anfangs haben wir versucht, optimale Materialien durch einzelne theoretische Vorhersagen für die verschiedenen Anwendungen zu finden. Dieses mühsame Verfahren wurde durch die Entwicklung eines neuen Formalismus im Jahr 2017 wesentlich effizienter [1]: Diese topologische Quantenchemie (TQC) ermöglicht eine Beschreibung der universellen globalen Eigenschaften aller möglichen Bänder in allen anorganischen Materialien unter der Annahme schwacher Wechselwirkung zwischen den Elektronen im Festkörper [1,2]. Sie erleichtert die effiziente Suche nach topologischen Materialien ganz erheblich. Die Ergebnisse flossen in eine von uns erstellte Website https://topologicalquantumchemistry.de (Abbildung 1) ein, die eine interaktive Suche der elektronischen Struktur und der topologischen Eigenschaften aller anorganischen Materialien ermöglicht (Abbildung 1).

Überaschenderweise haben ungefähr 40 bis 50 % aller nichtmagnetischen Materialien im Bereich der Fermi-Energie (die Energie, die besetzte von unbesetzten Zuständen trennt) elektronische Bänder, die als topologisch eingestuft werden können. Die Ergebnisse gehen jedoch über die Entdeckung neuer Materialien hinaus; sie helfen uns bei der Entdeckung neuer topologischer Phasen wie topologischer Materialien höherer Ordnung oder der faszinierenden fragilen Phase, die auch in verdrilltem Graphen entdeckt wurde. Kürzlich haben wir unseren TQC-Formalismus auf magnetische Materialien der Datenbank des Bilbao Crystallographic Servers angewendet und etwa hundert neue topologische magnetische Materialien entdeckt [3].

Viele interessante Phänomene in der Festkörperphysik sind auf die Elektron-Elektronen-Wechselwirkungen zurückzuführen. Diese sind in unseren ab-initio-codes nicht berücksichtigt, so dass weitere Forschungsarbeiten erforderlich sind, um auch diese Materialien mit dem TQC-Formalismus zu katalogisieren [4]. Des Weiteren lassen sich auch die Oberflächenzustände von nicht-topologischen Materialien (topologisch triviale Materialien) in neuem Licht betrachten. So haben wir sogenannte OAL (obstructed atomic limit) -Isolatoren identifiziert, deren Oberflächenzustände ein Eigenleben aufweisen und robuster sind als ursprünglich vermutet. In diesen Materialien ist die elektronische Ladung der Oberflächenzustände gegenüber der atomaren Ladung der Atome verschoben, Oberflächenzustände finden sich daher in der Struktur, wo keine Atome sitzen.

Diese neuen geplanten Entwicklungen werden es uns ermöglichen, auch sogenannte korrelierte Materialien wie Oxide zu untersuchen und ihre topologischen Eigenschaften zu verstehen und neue potenzielle Anwendungen zu identifizieren. Die hier vorgestellten Ergebnisse wurden in Kooperation mit Andrei Bernevig (Princeton University, USA), Nicolas Regnault (Princeton University, USA) und Luis Elcoro (Universidad del País Vasco Bilbao, Spain) entwickelt.

Literaturhinweise

Bradlyn, B.; Elcoro, L.; Cano, J.; Vergniory, M. G.; Wang, Z.; Felser, C.; Aroyo, M. I.; Bernevig, B. A

Topological quantum chemistry

Nature 547, 298 (2017)

Vergniory, M. G.; Elcoro, L.; Felser, C.; Regnault, N.; Bernevig, B. A.; Wang, Z.

A complete catalogue of high-quality topological materials  
Nature 566, 480 (2019).

Xu, Y.; Elcoro, L.; Song, Z.; Wieder, B. J.; Vergniory, M. G.; Regnault, N.; Chen, Y.; Felser, C.; Bernevig, B. A.

High-throughput Calculations of Antiferromagnetic Topological Materials From Magnetic Topological Quantum Chemistry

Nature 586, 702 (2020)

Wieder, B. J.; Bradlyn, B.; Cano, J.; Wang, Z.; Vergniory, M. G.; Elcoro, L.; Soluyanov, A. A.; Felser, C.; Neupert, T.; Regnault, N.; Bernevig, B. A.

Topological Materials Discovery from Crystal Symmetry

Nature Reviews Materials online (ePub ahead of print)


 

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