Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Die erstaunliche Entwicklungsgeschichte unserer Mundflora

Autoren
Warinner, Christina; Fellows Yates, James; Velsko, Irina
Abteilungen
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Zusammenfassung
Dank alter DNA aus der menschlichen Frühgeschichte gewinnen wir immer neue Erkenntnisse, wie unsere Vorfahren einstmals lebten. Nun ist es uns gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam gelungen, die Mundflora von Neandertalern, Primaten und Menschen zu rekonstruieren – darunter das älteste jemals sequenzierte orale Mikrobiom eines 100 000 Jahre alten Neandertalers. Die Ergebnisse liefern neue Hinweise zur Evolution, Gesundheit und Ernährung des Menschen.

In und auf unserem Körper leben Billionen mikrobieller Organismen, die Tausenden von Bakterienarten angehören – unser Mikrobiom. Diese Mikroben spielen für die menschliche Gesundheit eine Schlüsselrolle, doch war bisher nur wenig über ihre Evolution bekannt. In einer multidisziplinären internationalen Studie haben wir die Evolutionsgeschichte des oralen Mikrobioms von Hominiden (Menschenaffen und Menschen) untersucht, indem wir den Zahnstein von Menschen und Neandertalern aus den letzten 100 000 Jahren analysierten und mit dem von freilebenden Schimpansen, Gorillas und Brüllaffen verglichen.

Forschende aus 41 Einrichtungen in 13 Ländern haben an der Studie mitgewirkt – der bisher größten und ehrgeizigsten Studie zur Mundflora des Menschen. Wir analysierten dazu den Zahnstein von mehr als 120 Individuen. Die Untersuchung repräsentiert entscheidende Etappen in der Evolution von Primaten und Menschen, sie führte zu überraschenden Erkenntnissen über das Verhalten früher Menschen und ermöglicht neue Einblicke in die Evolution des Mikrobioms von Hominiden.

Ein kniffliges Puzzle

Die Arbeit mit DNA, die Zehn- oder Hunderttausende von Jahren alt ist, stellt eine große Herausforderung dar. Wie Archäologen, die zerbrochene Töpfe rekonstruieren, müssen wir Archäogenetiker die zerbrochenen Fragmente alter Genome mühsam zusammensetzen, um ein vollständiges Bild der Vergangenheit zu rekonstruieren. Für diese Studie haben wir neue Analysewerkzeuge und Berechnungsmethoden entwickelt, um Milliarden von DNA-Fragmenten genetisch zu analysieren und die längst abgestorbenen Bakteriengemeinschaften zu identifizieren, die im archäologischen Zahnstein erhalten geblieben sind.

Dank dieser neuen Methoden ist es uns gelungen, menschliche Mikrobiome aus der Steinzeit zu rekonstruieren, darunter das 100 000 Jahre alte orale Mikrobiom eines Neandertalers aus der Pešturina-Höhle in Serbien. Es ist damit das bisher älteste erfolgreich rekonstruierte orale Mikrobiom – mehr als doppelt so alt wie die ältesten zuvor rekonstruierten Mikrobiome. Die im Rahmen dieser Studie entwickelten Instrumente und Techniken eröffnen der Wissenschaft neue Möglichkeiten, um grundlegende Fragen zur mikrobiellen Archäologie und zur engen Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Mundflora zu beantworten.

Eine dauerhafte mikrobielle Gemeinschaft

Im versteinerten Zahnbelag konnten wir zehn Bakteriengruppen identifizieren, die seit über 40 Millionen Jahren zum oralen Mikrobiom der Primaten gehören und die der Mensch und seine nächsten Verwandten immer noch gemeinsam haben. Von vielen dieser Bakterien ist bekannt, dass sie wichtige nützliche Funktionen im Mundraum haben und zur Gesundheit von Zahnfleisch und Zähnen beitragen können. Erstaunlich viele dieser Bakterien sind jedoch so wenig erforscht, dass sie nicht einmal einen Artnamen haben. Die Tatsache, dass viele der wichtigsten Bakterienarten nur unzureichend charakterisiert sind, war für uns eine Überraschung. Anhand der Ergebnisse dieser Studie kann sich die Fachrichtung der oralen Mikrobiologie nun neue Ziele für die Erforschung von Mundgesundheit und -krankheiten stecken.

Verbindungen in die Steinzeit

Obwohl der Mensch viele Mundbakterienarten mit anderen Primaten teilt, sind die oralen Mikrobiome von Homo sapiens und Neandertaler einander besonders ähnlich. Dennoch gibt es ein paar kleine Unterschiede, vor allem auf der Ebene der Bakterienstämme. Als die Forschenden diese Unterschiede genauer untersuchten, stellten sie fest, dass moderne Menschen in Europa während der Eiszeit bestimmte Bakterienstämme mit Neandertalern teilten. Da die Mundflora in der Regel in der frühen Kindheit von Bezugspersonen erworben wird, könnte diese Gemeinsamkeit auf frühere Mensch-Neandertaler-Paare und die gemeinsame Kindererziehung zurückzuführen sein, worauf auch die Entdeckung von Neandertaler-DNA in alten und modernen menschlichen Genomen hindeutet. Forschende fanden heraus, dass Neandertaler-ähnliche Bakterienstämme ab einer Zeit vor etwa 14 000 Jahren nicht mehr beim Menschen nachweisbar sind. Zu dieser Zeit, also gegen Ende der letzten Eiszeit, kam es in Europa zu erheblichen Bevölkerungsbewegungen.

Eine frühe Vorliebe für stärkehaltige Nahrung

Eine der größten Überraschungen war die Entdeckung, dass eine Untergruppe von Streptokokkus-Bakterien, die sowohl bei modernen Menschen als auch bei Neandertalern vorkommt, sich offenbar schon früh in der Evolution des Homo sapiens speziell an den Verzehr von Stärke angepasst hat. Das deutet darauf hin, dass stärkehaltige Nahrung in der menschlichen Ernährung lange vor Einführung der Landwirtschaft und sogar noch vor der Evolution des modernen Menschen eine wichtige Rolle gespielt hat. Stärkehaltige Nahrungsmittel wie Wurzeln, Knollen und Samen sind reiche Energiequellen. Frühere Studien haben gezeigt, dass der Übergang zum Verzehr stärkehaltiger Nahrung unseren Vorfahren dabei geholfen haben könnte, die für unsere Spezies typischen großen Gehirne zu entwickeln.

Die Rekonstruktion des Speiseplans unserer ältesten Vorfahren ist eine schwierige Aufgabe, bei der Mundbakterien wichtige Hinweise zu frühen Ernährungsumstellungen liefern können, die uns Menschen so einzigartig gemacht haben. Bakteriengenome entwickeln sich schneller als das menschliche Genom, was unsere Mundflora zu einem besonders empfindlichen Indikator für wichtige Ereignisse in der menschlichen Entwicklungsgeschichte der frühen und jüngsten Vergangenheit macht. Die Ergebnisse der Studie sind ein wichtiger Denkanstoß. Sie verdeutlichen, dass die winzigen bakteriellen Beläge, die auf unseren Zähnen entstehen und die wir jeden Tag sorgfältig wegputzen, bemerkenswerte Informationen beisteuern, die nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch unsere Evolution betreffen.

Literaturhinweis

Fellows Yates, J.; Velsko, I.; Aron, F.; Hofman, C.; Austin, R.; Arthur, J.; Crevecoeur, I.; Dalén, L.; Gonzalez Morales, M.; Guschanski, K.; Henry, A.G.; Humphrey, L. T.; Mann, A.E.; Nägele, K.; Parker, C. E.; Posth, C.; Rougier, H.; Semal, P.; Stock, J.; Guy Strauss, L.; Weedman Arthur, K.; Wrangham, R.; Curtis, M.; Diez, J. C.; Gibbon, V.; Menedez, M.; Peresani, M.; Roksandic, M.; Walker, M. J.; Power, R. C.; Lewis, C. M.; Sankaranarayan, K.; Salazar-Garcia, D. C.; Krause, J.; Herbig, A.; Warinner, C.
The evolution and changing ecology of the African hominid oral microbiome
Proceedings of the National Academy of Sciences 118 (20), e2021655118 (2021)
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