Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Offen für Diversität?

Autoren
Boekle, Sanja; Schönwälder, Karen
Abteilungen
Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen
Zusammenfassung
Die Repräsentation von Eingewanderten in der deutschen Gesellschaft ist ein umkämpftes Feld. Ausgrenzung und Diskriminierung werden immer weniger als normal hingenommen. Doch in welchem Maß waren und sind wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen tatsächlich bereit und in der Lage, die Interessen der migrantischen Bevölkerung aufzugreifen, sich für diese zu öffnen und gleichberechtigte Mitgestaltung zu gewährleisten? Diesen Fragen sind wir in einem Forschungsprojekt nachgegangen.
 

In unserer Gesellschaft gibt es eine Fülle von Organisationen, die sich für bestimmte Interessen und Anliegen einsetzen. Egal, ob es um Klimaschutz, die Rechte von Patientinnen und Patienten, die Interessen von Mieterinnen und Mietern oder von Kulturschaffenden geht – zivilgesellschaftliche Organisationen mischen sich in gesellschaftliche Diskussionen ein, um die Interessen ihrer Mitglieder zur Geltung zu bringen. Wie reagieren solche Organisationen darauf, dass sich die Gesellschaft durch Migration wandelt? Reagieren sie offen? Abwehrend? Proaktiv? Verändern sich die Organisationen überhaupt?

Diese Fragen haben wir gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Humboldt-Universität Berlin in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt ZOMiDi untersucht. Unser Forschungsteam hat sich dazu beispielhaft die Lebenshilfe, die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, den Lesben- und Schwulenverband in Deutschland sowie die Deutsche Aidshilfe angesehen – also Organisationen, die die Interessen von Menschen mit einer Behinderung, von Beschäftigten in Dienstleistungsberufen, von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten und von aufgrund einer Krankheit potenziell diskriminierten Menschen vertreten.

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind gewissermaßen ein Netzwerk, das die Zivilgesellschaft organisiert und mit der Politik verbindet. Damit haben sie eine zentrale Bedeutung für Demokratie und Gesellschaft. Von ihnen hängt es mit ab, welche Anliegen und Interessen in Gesellschaft und Politik gehört und zum Beispiel in öffentlichen Förderprogrammen und Gesetzen berücksichtigt werden. Tritt zum Beispiel eine Organisation für Behindertenrechte auch dafür ein, dass die Interessen von Geflüchteten mit einer Behinderung berücksichtigt werden? Sorgt eine Lesben- und Schwulenorganisation dafür, dass es Beratung und Hilfe gibt, die auch Menschen mit Migrationsgeschichte erreicht? Wer redet eigentlich mit in diesen Organisationen und legt fest, welche Kampagnen gestartet, welche Hauptforderungen gestellt werden? Sind die Mitglieder, die Angestellten, die Vorstände so divers wie unsere Gesellschaft?

Repräsentation und Beteiligung: die Bestandsaufnahme

Um diese Fragen zu beantworten, rekonstruierten wir im Projekt mithilfe von Dokumentenanalysen und Interviews detailliert die Entwicklung der vier Organisationen. Festgestellt wurde, dass alle vier prinzipiell offen dafür sind, Eingewanderte aufzunehmen und zu vertreten. Das gilt sicher nicht für alle zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland. Wir haben bewusst Organisationen untersucht, die selbst eine benachteiligte Gruppe vertreten und daher sensibel sein sollten für andere Benachteiligungen, etwa solche, die mit Migrationsprozessen und Rassismus zusammenhängen.

Aber auch diese Organisationen haben sich nicht kontinuierlich darum bemüht, Menschen mit Migrationsgeschichte zu gewinnen. Nicht überall gibt es Abteilungen oder Verantwortliche, die dafür sorgen könnten, dass die Anliegen von Menschen mit Migrationsgeschichte kontinuierlich und wirkungsvoll in die Arbeit eingebracht werden. Und wenn vorhanden, sind sie unzureichend ausgestattet.

Haben die Organisationen es geschafft, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte gleichermaßen einzubeziehen? Reden Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen, die vielleicht auch rassistische Diskriminierungen erfahren, gleichberechtigt mit? Diese Frage muss für alle untersuchten Organisationen verneint werden. Migrantinnen und Migranten sind vor allem in Vorständen und meist auch in der Mitgliedschaft unterrepräsentiert. In Interviews und Gruppendiskussionen wurde uns auch von Rassismus und Diskriminierungserfahrungen berichtet.

Keine der Organisationen sammelt systematisch Informationen über ihre Mitgliederstruktur. Soweit von uns feststellbar, sind allenfalls bei der Gewerkschaft Verdi Menschen mit Migrationsgeschichte in gleichem Maße vertreten wie bei den Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe. Bei Verdi sind auch am ehesten Repräsentation und Beteiligung von Mitgliedern mit Migrationsgeschichte formell abgesichert. Keine der vier Organisationen hat jedoch ein Konzept zur Herstellung von mehr Vielfalt unter ihren Beschäftigten. In manchen Organisationen existieren migrantische Selbsthilfestrukturen, doch die Beteiligungsrechte bleiben bislang informell. Trotz einiger Öffnungsschritte sind also Menschen mit Migrationsgeschichte in den vier Organisationen insgesamt noch unzureichend beteiligt und viel zu wenig in wichtigen Positionen vertreten.

Organisationalen Wandel verstehen

Wovon hängt es ab, ob sich zivilgesellschaftliche Organisationen für Menschen mit Migrationsgeschichte öffnen und sich umfassend in die Gestaltung der vielfältigen Gesellschaft einmischen? Hier knüpfte unser Projekt an Konzepte der institutionalistischen Organisationsforschung an und erweitert diese.

Wie in der institutionalistischen Theorie postuliert, beeinflussen Erwartungen des Umfeldes, des sogenannten „organisationalen Feldes“ das Handeln der Organisationen. Zivilgesellschaftliche Organisationen befinden sich immer in einem Austausch mit anderen Akteuren. Sie wollen beispielsweise auf Regierungen und Parlamente Einfluss nehmen oder Bündnisse schließen, dazu brauchen sie die Anerkennung anderer Akteure. Werden im Umfeld der Organisationen die Förderung migrantischer Teilhabe, die Bekämpfung von Rassismus oder interkulturelle Öffnung zur Norm, dann neigen zivilgesellschaftliche Organisationen zur Anpassung.

Ein zweiter Faktor sind die Interessen und „funktionalen Erfordernisse“ der Organisation, also Bedingungen, die für die Existenz und die alltägliche Arbeit wesentlich sind. Engagement in Migrationsfragen und eine aktive Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund sind dann wahrscheinlicher, wenn dies den Organisationsinteressen entspricht. Dabei sind Mitgliederzahlen ein starkes Argument dafür, neue Mitgliedergruppen zu werben und unter Umständen bestehende Barrieren zu beseitigen.

Weiterhin ist auch das Selbstverständnis der Organisationen wichtig: Offen für Unterschiede sind Organisationen eher, wenn ihr Selbstverständnis Pluralität beinhaltet. Ein Selbstverständnis, das Einheit und Gemeinsamkeit betont, erschwert eine Anerkennung von Differenz und begünstigt eine Vernachlässigung besonderer Anliegen.

Viertens können migrantische Mitglieder und deren Netzwerke eine entscheidende Rolle spielen. Fehlt ihr Druck im Inneren, ist Veränderung weniger wahrscheinlich. Wo Mitglieder mit Migrationsgeschichte präsent sind, können sie mit ihren Erfahrungen wesentliche Anstöße geben und in Netzwerken Druck machen für eine gleichberechtigte Mitsprache.

Literaturhinweis

von Unger, H.; Baykara-Krumme, H.; Karakayali, S.; Schönwälder, K. (Hg.)
Organisationaler Wandel durch Migration? Zur Diversität in der Zivilgesellschaft
transcript Verlag, Bielefeld (2022)
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