Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie

Ein Modellsystem für chronische Virusinfektionen in Prokaryoten: Viren als Symbionten?

Autoren
Erdmann, Susanne; Alarcon Schumacher, Tomas
 
Abteilungen
Max Planck Forschungsgruppe Archaea Virologie
Zusammenfassung
Viren sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Natur. Sie sind wichtig für ihre Wirte ebenso wie für unsere Ökosysteme. Wir haben ein neues prokaryotisches Virus-Wirt-Modellsystem etabliert, bei dem das Virus seinen Wirt nicht tötet, sondern eine langfristige chronische Infektion verursacht. Chronische Infektionen sind bei Eukaryoten bekannt, wurden bei Prokaryoten bisher aber nur vereinzelt entdeckt und sind wenig verstanden. Das Modellsystem ermöglicht uns nun, diese Art der Infektion in einem prokaryotischen Wirt im Detail zu untersuchen und ihre Bedeutung für den Wirt zu ergründen.

Die „gute Seite“ der Viren

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie haben Viren ihrem schlechten Ruf wieder einmal alle Ehre gemacht. Viren sind aber keine rücksichtslosen „Killer“, sie sind vielmehr ein unverzichtbarer Bestandteil der Natur. Viren infizieren alle Lebewesen und sind ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Sie spielen eine wichtige Rolle in allen Ökosystemen, zum Beispiel durch die Steuerung der Dichte und Zusammensetzung von bakteriellen Populationen, und sind damit ein fundamentaler Bestandteil globaler biogeochemischer Kreisläufe. Viren hatten und haben einen großen Anteil an der Entwicklung und Evolution aller Organismen, inklusive des Menschen. So besteht das menschliche Erbgut zu rund 8 % aus Genen viralen Ursprungs. Einige dieser Gene erfüllen wichtige Funktionen, wie beispielsweise die Bereitstellung von Syncitin, ein viral kodiertes Protein, das bei der Entwicklung der Plazenta eine wichtige Rolle spielt [1].

Viele Viren von Archaeen scheinen ihrem Wirt kaum zu schaden – eine Symbiose?

Archaeen sind Einzeller ohne Zellkern, die erstmals 1977 als eigene Domäne des Lebens, neben den Bakterien und den Eukaryoten, definiert wurden. Die Forschung an Archaeen war lange auf ein paar vereinzelte kultivierbare Organismen beschränkt, aber dank metagenomischer Studien ist in den letzten Jahren die ubiquitäre Verbreitung und Bedeutung von Archaeen deutlich geworden. Mit zunehmender Anzahl an neu entdeckten Archaeen und damit einhergehenden Analysen der Erbinformation werden sie heute als evolutionäre Vorläufer der Eukaryoten diskutiert [2]. Deshalb hoffen wir durch die Erforschung von Viren der Archaeen auch die Viren der Eukaryoten besser zu verstehen [3].

Die meisten Viren, die für Bakterien isoliert wurden (Bakteriophagen), lysieren die Wirtszelle bei der Freisetzung neu gebildeter Viruspartikel. Für Archaeen hingegen wurden vermehrt Viren isoliert, die ihre Wirtszellen nicht lysieren. Die membranumhüllten Viren verlassen die Wirtszelle durch Abschnürung von der Wirtsmembran, dabei bleibt die Wirtszelle intakt. Diese „chronischen Infektionen“ bleiben oft unentdeckt, weil sie das Wachstum des Wirtes meist kaum beeinflussen. Interessanterweise haben auch viele eukaryotische Viren einen ähnlichen Lebenszyklus, was auf eine evolutionäre Verwandtschaft von eukaryotischen Viren mit den Viren von Archaeen hinweisen könnte. Viren benötigen zwingend einen Wirt für ihre Vermehrung, da sie selbst nicht über die nötigen molekularen Bausteine zur Reproduktion verfügen. Umgekehrt können Viren ihren Wirten auch Vorteile verschaffen, insbesondere durch das Einbringen zusätzlicher genetischer Information. Deshalb stellt sich für uns die Frage, ob die Beziehung zwischen einem Virus und seinem Wirt nicht als mutualistische Symbiose betrachtet werden sollte, wie es für einige Viren schon vorgeschlagen wurde [4]. Um dieser Theorie nachzugehen, sind chronisch infizierende Viren in Archaeen ein ideales Modelsystem.

Ein Virus-Wirt-Modellsystem für Archaeen

Nur wenige Archaeen sind genetisch manipulierbar. Dadurch ist es schwierig, ihre Biologie und ihre Interaktionen mit Viren detailliert zu studieren. Für Haloferax volcanii, ein salzliebendes Archaeon, gibt es allerdings eine solche genetische toolbox. Deshalb wird H. volcanii als Modellsystem für viele Studien der Zellbiologie der Archaeen verwendet. Seit vielen Jahren suchen Forschungsgruppen gezielt nach einem Virus, das H. volcanii infizieren kann. Im Zuge dieser Suche sind wir in Proben von australischen Salzseen fündig geworden (Abb. 1).

Das isolierte Virus HFPV-1 (HaloFerax Pleomorphic Virus 1) verursacht eine chronische Infektion in seinem Wirt, und damit verfügen wir zum ersten Mal über ein Modellsystem, um diese Art der Infektion im Detail zu untersuchen. Trotz einer hohen Anzahl an freigesetzten Viruspartikeln verlangsamt HFPV-1 das Wachstum seines Wirts kaum. Die Infektion führt zwar zu einer sehr starken Veränderung der Genexpression in der Wirtszelle, allerdings können wir keinerlei Aktivität der vorhandenen Virus-Abwehrsysteme im Wirt feststellen. Der Wirt scheint sich also nicht aktiv gegen das Virus zu wehren, oder aber das Virus hat einen Weg gefunden, sämtliche Abwehrsysteme zu umgehen. Letzteres wird dadurch bestärkt, dass das Virus dauerhaft im Wirt verbleibt und keine resistenten Wirtszellen isoliert werden können. Die einzige Abwehrreaktion gegen HFPV-1 kommt von im Wirtsgenom integrierten, aber inaktiven Viren. Diese scheinen einen großen Einfluss auf den Ausgang der Infektion zu haben. Das zeigt sich nämlich, wenn man eines dieser integrierten Viren aus dem Genom entfernt. Eine Infektion des entsprechenden Stammes mit HFPV-1 führt dann zu einer erheblich größeren Wachstumsverlangsamung im Vergleich mit der Infektion des Wildtyps. Diese Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass innerhalb des Wirtsgenoms integrierte Viren einen positiven Effekt auf ihren Wirt haben können beziehungsweise mit anderen Viren interagieren. Eine Frage, die nun für uns zu klären bleibt, ist, ob HFPV-1 selbst einen Nutzen für den Wirt hat.

Ausblick: Das Virus als genetisches Werkzeug

Interessanterweise infiziert HFPV-1 nicht nur H. volcanii, sondern auch noch eine Reihe von anderen salzliebenden Archaeen, inklusive sehr weit entfernt verwandten Arten. Zusätzlich zu dieser ausgeprägten „Promiskuität“ hat HFPV-1 ein sehr kleines Genom, repliziert sich mit einer sehr hohen Anzahl an Kopien in seinem Wirt und tötet seinen Wirt nicht. Um das Virus zu vermehren reicht es aus, das Virusgenom als freie DNA in einen Wirt einzubringen. Das macht HFPV-1 zu einem Virus, das sich hervorragend als genetisches Werkzeug benutzten lässt, zum Beispiel, um Proteine in hohen Konzentrationen in ihrem natürlichen Wirt herzustellen oder um Archaeen, für die es bisher keine genetische toolbox gibt, genetisch zu manipulieren. HFPV-1 als genetisches Werkzeug zu optimieren, ist eines der nächsten Ziele für uns.

Literaturhinweise

Lavialle, C.; Cornelis, G.; Dupressoir, A.; Esnault, C.; Heidmann, O.; Vernochet, C.; Heidmann, T.
Paleovirology of syncytins, retroviral env genes exapted for a role in placentation
Philosophical Transactions of the Royal Society B. 368: 20120507 (2013)
Eme, L.; Spang, A.; Lombard, J.; Stairs, C. W.; Ettema, T. J. G.
Archaea and the origin of eukaryotes
Nature Reviews Microbiology 15, 711-723 (2017)
Erdmann, S.; Tschitschko, B.; Zhong, L.; Raftery, M. J.; Cavicchioli, R.
A plasmid from an Antarctic haloarchaeon uses specialized membrane vesicles to disseminate and infect plasmid-free cells
Nature Microbiology 2, 1446-1455 (2017)
Roossinck, M. J.
The good viruses: viral mutualistic symbioses
Nature Reviews Microbiology 9, 99-108 (2011)

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