Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Aufmerksames Zuhören im Schottland des späten achtzehnten Jahrhunderts

Autoren
Raz, Carmel
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe „Histories of Music, Mind, and Body“
Zusammenfassung
Adam Smiths Essay „Of the nature of that imitation which takes place in what are called the imitative arts“ von 1795 ist ein einzigartiger Vorbote der Hörpraktiken des 18. Jahrhunderts, die mit den Theorien der „absoluten Musik“ im 19. Jahrhundert verbunden sind. Ich erweitere den Blick auf Smiths Innovationen, indem ich sie als Teil einer breiteren Verschiebung der schottischen Vorstellungen von musikalischem Hören und Aufmerksamkeit an sich in den Jahrzehnten um 1760 und 1770 kontextualisiere, die auf Thomas Reids Psychologie und John Holdens musiktheoretische Schriften zurückgehen.

Der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith (1723–1790) schreibt in seinem Essay „Of the nature of that imitation which takes place in what are called the imitative arts“ von 1795: „[Instrumentalmusik] bedeutet selten, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, ein bestimmtes Ereignis zu imitieren oder allgemein einen bestimmten Gegenstand anzudeuten, der sich von der Kombination von Klängen unterscheidet, aus denen sie selbst besteht. Man kann daher sagen, dass ihre Bedeutung in sich selbst vollständig ist und keiner Interpretation bedarf, um sie zu erklären“ (S. 173–174 [1]). Der Genuss, den die Instrumentalmusik bietet, ist Smith zufolge vergleichbar mit der intellektuellen Befriedigung, die wir aus der Betrachtung eines „großen Systems in jeder anderen Wissenschaft“ ziehen; das dadurch erzeugte Vergnügen – ein Vergnügen, das sowohl sinnlich als auch intellektuell ist – unterscheidet sich deutlich von den ausdrucksstarken, handlungsgetriebenen Freuden, die durch die nachahmenden Künste hervorgerufen werden.

Smiths Schilderung des Hörens von Instrumentalmusik wird zeitgenössischen westlichen Hörer und Hörerinnen klassischer Musik wahrscheinlich vertraut vorkommen. Schließlich sind sie durch eine Tradition des Hörens geprägt, die sich auf Strukturen und Beziehungen, die „der Musik selbst“ innewohnen, konzentriert – eine Tradition, die ihrerseits auf die Idee der sogenannten absoluten Musik zurückgeht, die 1854 vom einflussreichen österreichischen Kritiker Eduard Hanslick formuliert wurde. In der Tat haben Musikwissenschaftler  und -wissenschaftlerinnen in den letzten dreißig Jahren in Smiths Darstellung einen Vorboten der mit der absoluten Musik verbundenen Hörpraktiken gesehen. Tatsächlich unterscheidet sich Smiths Haltung radikal von anderen Theorien über musikalische Bedeutung im 18. Jahrhundert; wie der Musikwissenschaftler Wilhelm Seidel betont: „Der Essay von Adam Smith ist einzigartig; es gibt nichts was seinerzeit und lange danach zur Seite hätte gestellt werden können“ (S. 197 [2]).

Eine „schottische“ Form des aufmerksamen Zuhörens?

Die krassen Unterschiede zwischen Smiths Herangehensweise an die Instrumentalmusik und derjenigen seiner Zeitgenossen wurden bisher auf die enormen intellektuellen Fähigkeiten des Philosophen zurückgeführt. In meinem Artikel in der Zeitschrift „Music Theory Spectrum“ biete ich eine ergänzende Perspektive auf Smiths Innovationen an, indem ich seine Ideen als Teil einer umfassenderen Verschiebung der schottischen Vorstellungen vom Musikhören, ja der Aufmerksamkeit selbst, in den Jahrzehnten um 1760 und 1770 in einen größeren Zusammenhang stelle [3]. Die drei Denker, deren entsprechenden Werke ich in diesem Aufsatz betrachte – Thomas Reid (1710–1796), John Holden (1729–1771) und Adam Smith – leisteten bedeutende Beiträge zum psychologischen Verständnis von Aufmerksamkeit mit Schwerpunkt auf der Art und Weise des Hörens. Mein Artikel, der meine früheren Forschungen zur schottischen Musiktheorie und -philosophie weiterentwickelt [4], verdeutlicht die entscheidende Rolle, die Reids psychologische Theorien in Smiths Konzeption der Instrumentalmusik spielten, indem er dessen Ansichten mit Holdens musiktheoretischer Konzeptualisierung des Vermögens der Aufmerksamkeit verbindet. Ich argumentiere, dass Smiths neuartige Charakterisierung von Instrumentalmusik Haltungen ähnelt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts (wieder) auftauchten, und zwar gerade wegen ihrer Verbindung zu den Ideen Reids, die einen wesentlichen Einfluss auf die Sprach- und Wahrnehmungsphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts hatten. Ich zeige zudem, dass die entscheidende Verbindung zwischen beiden Denkern in den musiktheoretischen Ideen Holdens liegt, einem Bekannten von Reid, der viele seiner Ideen zu einer erstaunlich vorausschauenden Theorie der musikalischen Wahrnehmung aufnahm, die spätere experimentelle Arbeiten zur Wahrnehmung sowie einige der grundlegenden Prinzipien der Gestaltpsychologie in bedeutender Weise vorwegnimmt. Arbeiten zur Wahrnehmung sowie einige der grundlegenden Prinzipien der Gestaltpsychologie in bedeutender Weise vorwegnimmt.

Im späten 18. Jahrhundert wandeln sich die Ansichten über Aufmerksamkeit

Wie eine Reihe von Forschenden festgestellt haben, lassen sich die Ursprünge unseres heutigen Verständnisses von Aufmerksamkeit – und unsere anhaltende Faszination für ihre oft kapriziöse Natur – weitgehend auf das 18. Jahrhundert zurückführen: auf neuartige Ansätze zu den geistigen Fähigkeiten, die in der deutschen Philosophie und der britischen empirischen Psychologie beheimatet sind, auf Innovationen der für die Naturwissenschaften charakteristischen Methoden und auf neue Konzeptualisierungen des Wesens ästhetischer Erfahrungen. Wenn wir Smith also nicht als Ausreißer, sondern als Teil einer breiteren Debatte über das Hören und die Aufmerksamkeit sehen, können wir den Kontext, aus dem seine ursprünglichen Ideen entstanden sind, besser verstehen. Die gleiche erweiterte Perspektive ermöglicht es uns auch, das Erbe von Reids Psychologie und Holdens proto-kognitivistischen Konzepten in den Schriften der nachfolgenden Generationen von Philosophen und Philosophinnen sowie Forschenden in der Musiktheorie zu verfolgen.

Wenn wir das Aufkommen neuer Einstellungen zur Musikwahrnehmung im Schottland des späten 18. Jahrhunderts untersuchen, sind wir in der Lage, eine Schlüsselepisode in der Geschichte des Hörens historisch einzuordnen: die Entstehung eines Diskurses, der sich mit dem konzentrierten Hören von Instrumentalmusik befasst. Denn dadurch zeigen wir, wie Reids Innovationen in der Wahrnehmungstheorie sowohl Holden als auch Smith in die Lage versetzten, zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die erst viele Jahrzehnte später in unterschiedlichen Kulturen und philosophischen Kontexten wieder auftauchen sollten. Die Einzigartigkeit ihrer Ideen im Kontext des späten 18. Jahrhunderts sowie die Art und Weise, in der insbesondere Smith spätere Vorstellungen musikalischer Autonomie in den Schriften von Persönlichkeiten wie Hanslick vorwegnimmt, zeugen davon, dass diese neuartigen Ansätze zur Aufmerksamkeit eine Konzeption von Musik ermöglichten, die noch heute nachhallt.

Literaturhinweise

Smith, A.
Of the Nature of that Imitation which Takes Place in What Are Called the Imitative Arts.
In: Essays in Philosophical Subjects (S. 131-79). Hg. Wightman, W. P. D., Bryce, J. C., Ross, I. S. T. Cadell, London (1795).
Seidel, W.
Der Essay von Adam Smith über die Musik: Eine Einführung.
Musiktheorie 15, 195-204 (2000).
Raz, C.
Fill Up, Completely, the Whole Capacity of the Mind”: Listening with Attention in Late Eighteenth-Century Scotland.
Music Theory Spectrum (published online | ePub ahead of print).
Raz, C.
An Eighteenth-Century Theory of Musical Cognition? John Holden’s “Essay towards a Rational System of Music (1770).
Journal of Music Theory 62.2, 205–248 (2018).
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