Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern

Wenn andere sich an die Regel halten, befolge ich sie auch

Autoren
Engel, Christoph
Abteilungen
Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn
Zusammenfassung
Menschen sind bereit, Regeln allein deshalb einzuhalten, weil sie gelten. Das gilt sogar im Labor und wenn die Regel offensichtlich willkürlich ist. Aber es gibt einen Haken. Je öfter Individuen wahrnehmen, dass andere die Regel verletzen, desto eher tun sie das auch selbst. Regelbefolgung ist eine wertvolle Ressource für die Steuerung der Gesellschaft. Sie erfordert jedoch Wachsamkeit.

Ist die Bereitschaft zur Befolgung von Regeln abhängig von der Regelbefolgung anderer?

„Das machen doch alle!“ Welche Eltern haben diesen Satz nicht schon gehört? In der empörten Stimme des Kindes schwingt viel mit. Ich will nicht strenger behandelt werden als meine Freunde. Ich will vor meinen Freunden nicht als der Dumme dastehen. So wichtig kann das Gebot ja nicht sein, wenn es regelmäßig missachtet wird. Das Gebot ist unverhältnismäßig oder es hat sich überlebt und andere Eltern haben das längst begriffen.

Kinder werden erwachsen. Sie bewahren die Bereitschaft, Regeln zu beachten, einfach weil sie nun einmal da sind. Das ist eine wertvolle Ressource für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Aber bewahren sie auch die Abneigung, Regeln einzuhalten, die andere brechen? Dann würde die wertvolle Ressource prekär. Politik und Recht könnten nur dann Überwachung und Durchsetzung zurücknehmen, wenn eine Regel von vielen, vielleicht sogar von fast allen befolgt wird.

Laborexperiment

Im Labor kann man den kausalen Effekt der Regelbefolgung anderer genau herausarbeiten. Dazu benötigt man ein möglichst einfaches Design, das alle alternativen Erklärungen ausschließt. Mit dem folgenden Design geht das. Teilnehmer können Geld verdienen, indem sie eine Zahl zwischen 0 und 48 wählen. Je größer die Zahl, desto höher die Auszahlung. Es gibt aber eine Regel. Die Regel verlangt von ihnen, keine größere Zahl als 5, 11, 23, 32 oder 41 zu wählen. Die Regel zu beachten, ist also unterschiedlich teuer. Die Teilnehmer wissen jedoch, dass der Versuchsleiter die Regel nicht durchsetzen wird. Dieses Design isoliert die Bereitschaft, eine Regel zu beachten, nur weil sie gilt. Der entscheidende Punkt des Experiments ist die Möglichkeit, die eigene Regelbefolgung davon abhängig zu machen, wie sich andere Teilnehmer verhalten. Zu diesem Zweck wird jeder Teilnehmer einer Gruppe von 6 Personen zugewiesen.

Abbildung 1 fasst die Ergebnisse zusammen. Je höher die Kosten der Regelbefolgung, desto häufiger wird die Regel verletzt. Die Linien kreuzen sich nicht. Die Aussage gilt also unabhängig von der Zahl der übrigen Gruppenmitglieder, die die Regel verletzen. Wenn die strengste Regel 5 gilt, verdient ein Teilnehmer, der die Regel beachtet, kaum noch etwas. Das tun weniger als die Hälfte der Teilnehmer. Bei der mildesten Regel 41 ist Befolgung dagegen sehr billig, das heißt, die Auszahlungseinbußen sind gering. Ein gutes Drittel der Teilnehmer verletzt diese Regel.

Für die Ausgangsfrage ist aber vor allem von Interesse, dass alle Linien nach rechts oben zeigen. Je öfter andere die Regel verletzen, desto stärker neigen die Teilnehmer dazu, das selbst auch zu tun. Das schlechte Vorbild „steckt an“. Der Effekt ist bei der strengsten Regel 5 am ausgeprägtesten. Wenn sie erfahren, dass sich alle anderen Mitglieder ihrer Gruppe an die Regel halten, dann tut das fast die Hälfte der Teilnehmer auch. Wenn sie dagegen erfahren, dass sich kein anderer an die Regel gehalten hat, dann hält sich nur noch ein gutes Viertel selbst an die Regel.

Einordnung des Studiendesigns und der Versuchsergebnisse

Für Politik und Recht ist es wichtig, die Ursache eines normativen Problems zu kennen. Das erspart der Rechtsordnung viel Mühe: Sie kann ihre Interventionen so gestalten und dosieren, dass sie das normative Problem unter Kontrolle hält. Das Laborexperiment liefert diese Evidenz. Das Design des Experiments schließt alternative Erklärungen wirksam aus. Der sichere Nachweis der Kausalität hat aber seinen Preis: Die Regel ist völlig willkürlich, die Interaktion der Teilnehmer ist vollständig anonym, die Situation ist künstlich und es geht nur um ein paar Euro.

Idealerweise wird das besonders eindeutige Ergebnis aus dem Labor deshalb durch ein Ergebnis bestätigt, das mehr sozialen Kontext berücksichtigt. Abbildung 2 zeigt, dass der Kontext in der Tat bedeutsam ist. Wenn man Versuchspersonen fragt, ob sie ihren Abfall einfach fallen lassen würden, sagen fast alle Nein – egal, ob andere das tun. Wenn man sie fragt, ob sie das Finanzamt betrügen würden, falls es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie entdeckt werden, sagen 12 Prozent Ja. Diese Zahl steigt nur dann merklich, wenn sich viele andere genauso verhalten. Das Ergebnis aus dem Labor wird dagegen beinahe lupenrein repliziert, wenn man nach der Bereitschaft fragt, ein Tempo-30-Schild in einer Ortschaft zu missachten. Wenn sich alle anderen an die Geschwindigkeitsbeschränkung halten, sagt kaum jemand, er würde dort schneller fahren. Diese Zahl steigt auf 15 Prozent, wenn nur ein anderer zu schnell ist. Sind es gleich mehrere, sagt fast ein Viertel der Teilnehmer, sie würden die Geschwindigkeit übertreten.

Rechtspolitische Folgerungen

Schon Aristoteles wusste: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die beiden Experimente belegen, dass dies nicht nur im Guten gilt. Wir sind nicht nur bereit, auf andere Rücksicht zu nehmen. Wir orientieren uns in der Bereitschaft, Regeln zu befolgen, auch an unserer Umgebung. Wenn wir wahrnehmen, dass die große Mehrheit regelgetreu ist, sind es die meisten von uns auch. Aber je mehr Regelverletzungen sichtbar werden, desto größer ist die Gefahr, dass sie ansteckend wirken. Die Rechtsordnung sollte deshalb wachsam sein, wenn die Befolgung einer Regel erodiert. Wenn die Regel wichtig bleibt, kann es plötzlich nötig werden, ihre Befolgung zu überwachen und gegen ihre Verletzung mit den Mitteln des Rechts einzuschreiten.

Literaturhinweis

Engel, Ch.
Crime as Conditional Rule Violation
Discussion Paper 2021/20. Max Planck Institute for Research on Collective Goods, Bonn (2021)

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