Besser sehen lernen

ESI-Forschende zeigen, dass die Antworten von Nervenzellen der Netzhaut genauer werden, wenn sie Reize häufiger sehen

12. November 2021

Das schnelle Aufblitzen eines Bildes auf der Netzhaut setzt im primären visuellen Kortex Millionen von Nervenzellen, auch Neuronen genannt, in Gang. Ihre Aufgabe ist es, visuelle Informationen zu segmentieren und zu filtern, um eine genaue und nützliche Darstellung dessen zu erzeugen, was das Auge sieht. Eine kürzlich erschienene Veröffentlichung von Wissenschaftlern des ESI zeigt nun, dass die Antworten dieser Neuronen genauer werden, wenn sie Reize häufiger sehen.

Der primäre visuelle Kortex, auch bekannt als V1, ist das größte visuelle kortikale Areal im Gehirn. Und das erste, das Input von der Netzhaut erhält. Jahrzehntelange Forschung, die auf den Studien von Hubel und Wiesel in den frühen 1960er Jahren aufbaut, hat gezeigt, dass die Antworten der Neuronen in V1 bestimmten Bildeigenschaften entsprechen, wie z. B. der lokalen Orientierung des Kontrasts. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse neigen klassische Modelle des Sehens dazu, den primären visuellen Kortex als einfachen, statischen Filter zu betrachten: V1 ist in erster Linie in der Lage, die Kanten von Objekten zu erkennen und diese Informationen passiv weiterzuleiten. Die interessantere Arbeit leisten die höheren visuellen Bereiche, bei ihnen finden Objekterkennung, Vorhersage und Lernen statt.

Doch auch wenn einzelne Neuronen in V1 nicht viel Kodierleistung erbringen, können große Gruppen von V1-Neuronen, die zusammenarbeiten, um die Merkmale eines Bildes zu bewerten, viel interessantere Berechnungen durchführen als bisher angenommen. In ihrer jüngsten Arbeit untersuchen Andreea Lazar, Forscherin am Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, und ihre Kollegen an fünf männlichen Katzen die vielfältigen dynamischen Reaktionen von Neuronengruppen in V1 auf kurze visuelle Stimulationen. In ihrer Studie beschreiben die Autorinnen und Autoren, wie die wiederholte Darbietung einfacher visueller Reize, in diesem Fall Buchstaben des lateinischen Alphabets und arabische Ziffern, im Laufe der Zeit deren Darstellung im primären visuellen Kortex verändert.

Erfahrungsschatz baut sich auf

Die Forschenden fanden heraus, dass sich durch die Wiederholung visueller Reize ein Erfahrungsschatz im primären visuellen Kortex aufbaut, der die Darstellung dieser Reize verbessert. Interessanterweise geschieht dies auf eine Art, die wiederum höheren visuellen Bereichen zugutekommt, die vom Hirnareal V1 ihre Informationen über die visuelle Welt erhalten. Insbesondere verstärkt dieser Erfahrungsschatz die Aufteilung der neuronalen Antworten in die verschiedenen, reizspezifischen Gruppen.

Um diese Veränderungen zu untersuchen, haben Andreea Lazar und ihre Kollegen ein spezielles Computerprogramm zu Hilfe genommen. Damit ließen sich die Reize klassifizieren und rekonstruieren. Die Ergebnisse zeigen, dass Wiederholungen zu deutlichen Verbesserungen bei der Rekonstruktion führen. Darüber hinaus fanden die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen deutliche Veränderungen in den neuronalen Mustern, die nach der Darbietung der visuellen Reize auftraten. Das lässt auf umfassende und dauerhafte Veränderungen in der neuronalen Verschlüsselung schließen.

Magie der Vernetzungen

Wie diese jüngste Veröffentlichung zeigt, haben die Vernetzungen im Gehirn fast etwas Magisches an sich. Und die Forschung beginnt gerade erst, ihre Komplexität zu verstehen. Die optimierte Verschlüsselung von Reizen, die hier auf der Ebene des primären visuellen Kortex aufgedeckt wurde, ergibt sich aus Veränderungen in der Informationsverarbeitung, welche mit einem Computermodell dieses Netzwerks reproduziert werden können. Diese Erkenntnisse könnten die nächste Generation anpassungsfähiger KI-Systeme zur Objekterkennung und Navigation inspirieren.

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