Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme

Statistik der Turing-Muster in komplexen biochemischen Systemen

Autoren
Haas, Pierre A.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, Dresden
Zusammenfassung
Der einfachste mathematische Mechanismus für Musterbildung ist der sogenannte Turing-Mechanismus. Ob solche Turing-Muster zu realen biochemischen Mustern und Strukturen beitragen, ist aber immer noch unklar, da der Mechanismus in einfachen Systemen unrealistische Werte chemischer Parameter benötigt. Mittels einer statistischen Analyse konnten wir jedoch zeigen, dass dies in komplexeren Systemen mit mehr chemischen Substanzen nicht der Fall ist. Dies hebt die Rolle des Wechselspiels zwischen einfachen und komplexen Modellen für unser Verständnis der uns umgebenden Welt hervor.

Wie entstehen die Streifen des Zebras, die Flecken der Giraffe oder die Schuppenmuster des Kugelfisches? Allgemeiner fragt die Entwicklungsbiologie: Wie bilden Zellen komplexe, makroskopische Strukturen? Ein Zusammenspiel biochemischer Prozesse, mechanischer Kräfte und genetischer Regulierung liegt dieser sogenannten Morphogenese zu Grunde. Dieses formgebende Zusammenspiel zu beschreiben, ist eines der zentralen ungelösten Probleme der Biophysik. Die erste mathematische Beschreibung eines solchen Muster bildenden Prozesses durch Alan Turing [1] liegt zwar nun schon siebzig Jahre zurück. Aber die Frage, ob reale biologische oder chemische Prozesse diesen einfachen Turing-Mechanismus nutzen, wird immer noch kontrovers diskutiert.

Der Turing-Mechanismus

Ein Bad chemischer Reaktionen, auch Reaktionsdiffusionssystem genannt, kann einen Zustand erreichen, in dem alle Konzentrationen der chemischen Substanzen sich zeitlich und räumlich nicht verändern. Dieser Zustand ist ein Gleichgewicht des Systems (Abb. 1). Falls das System nach jeder minimalen, räumlich homogenen Störung wieder in dieses Gleichgewicht zurückkehrt, ist das Gleichgewicht stabil; anderenfalls ist es labil (Abb. 1). Ein stabiles Gleichgewicht ist Turing-labil, falls es nach einer minimalen räumlich inhomogenen Störung nicht in dieses Gleichgewicht zurückkehrt und stattdessen ein Muster bildet (Abb. 1). Das Entstehen eines solchen Turing-Musters mag überraschen, da die zufällige (brownsche) Molekularbewegung eigentlich dazu neigt, die räumlichen Konzentrationsgradienten des Musters durch Diffusion auszugleichen. Es ist daher die Kombination von chemischen Reaktionen und Diffusion, die dieses Muster ermöglicht.

Eine notwendige mathematische Bedingung für das Entstehen eines solchen Musters ist jedoch, dass die Diffusion der verschiedenen chemischen Substanzen unterschiedlich schnell sei. Die chemischen Substanzen in solchen Systemen haben aber ähnliche molekulare Größen und daher auch ähnliche Diffusionskoeffizienten. Dies ist an sich noch kein mathematischer Widerspruch (da die mathematische Bedingung Turing-Muster nur für exakt gleiche Diffusionskoeffizienten ausschließt), aber viele mathematische Modelle einfacher Systeme mit wenigen chemischen Substanzen erlauben in der Tat keine Turing-Muster für die gemessenen Werte der Diffusionskoeffizienten. Aus diesem Grund ist die Bedeutung des Turing-Mechanismus für reale (bio)chemische Prozesse immer noch unklar: Ist der hier beschriebene Mechanismus tatsächlich nicht realisierbar, oder gibt es doch komplexere Systeme mit mehr chemischen Substanzen, in denen er beobachtet werden kann?

Statistik der Turing-Muster

Diese Frage lässt sich nur in einem Wechselspiel von Experiment und Theorie beantworten, in dem mathematische Modelle geeignete experimentelle Systeme vorschlagen, nämlich solche, in denen der für Turing-Muster erforderliche Unterschied der Diffusionskoeffizienten, also der Schwellenwert zur Musterbildung niedrig ist. Bei der Berechnung dieses Schwellenwertes stellt sich jedoch das Problem, dass er für Systeme mit mehr als zwei chemischen Substanzen nicht in allgemeiner Form ausgedrückt werden kann. Um dieses Problem zu umgehen, bedienten wir uns eines aus der theoretischen Ökologie bekannten Tricks [2]: Wir berechneten den Schwellenwert für eine große Anzahl zufällig gewählter, abstrakter Systeme, um so statistische Informationen über jene Systeme mit niedrigem (das heißt realistischem) Schwellenwert zu erhalten [3]. Dies setzt natürlich voraus, dass wir den Schwellenwert numerisch effizient bestimmen können. Aber mittels weiterer mathematischer Tricks konnten wir in der Tat Systeme mit bis zu sechs chemischen Substanzen behandeln.

Im Besonderen konnte wir so den Anteil von Systemen mit niedrigem Schwellenwert in diesen zufällig gewählten Systemen berechnen (Abb. 2(a)). Dieser Anteil ist sehr gering für Systeme mit nur zwei Substanzen, ist aber bereits beträchtlich höher für Systeme mit drei Substanzen und steigt sogar noch weiter für Systeme mit vier und mehr Substanzen (Abb. 2(a)). Dies bedeutet natürlich keinesfalls, dass Systeme mit zwei Substanzen keine Turing-Muster haben können: Zum Beispiel haben Systeme mit fast gleichen Reaktionsraten sehr wohl einen niedrigen Schwellenwert (Abb. 2(b)). Allerdings sind dies sehr spezielle und auch unrealistische Systeme, denn die Reaktionsraten realer chemischer Systeme sind nicht alle fast gleich. Dennoch suggerieren unsere statistischen Befunde, dass ein niedriger Schwellenwert eher in Systemen mit mehr chemischen Substanzen zu finden ist [3], und lenken so die zukünftigen experimentellen Untersuchungen, die Turing-Muster in realen Systemen suchen werden.

Weniger (Komplexität) ist (nicht immer) mehr

Auch wenn eine solche experimentelle Bestätigung unserer theoretischen Untersuchung also noch aussteht, lehrt letztere uns doch, dass weniger Komplexität nicht immer mehr ist. Zwar erlauben im Allgemeinen Berechnungen in einfachen Modellen oft tiefe Einblicke in biologische, chemische oder physikalische Mechanismen (die in komplexeren Modellen vernebelt werden), aber die auf solchen Berechnungen basierende Vermutung, dass der für Turing-Muster erforderliche Unterschied der Diffusionskoeffizienten generell unrealistisch groß ist, hat sich also für komplexere Systeme nicht bestätigt. Diese Verringerung können wir jetzt zwar statistisch charakterisieren, es fehlt uns aber noch eine mathematische Erklärung des Mechanismus, der ihr zu Grunde liegt. Weitere theoretische Untersuchungen werden uns jedoch vielleicht erlauben, diesen Mechanismus in (etwas weniger) einfachen Modellen zu beschreiben. Es ist also genau dieses Wechselspiel zwischen einfachen und komplexen Modellen, das uns ermöglicht, unser wissenschaftliches Verständnis der uns umgebenden Welt weiter zu entwickeln.

Literaturhinweise

Turing, A. M.
The chemical basis of morphogenesis
Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 237, 37–72 (1952)
May, R. M.
Will a large complex system be stable?
Nature (London) 238, 413–414 (1972)
Haas, P. A., Goldstein, R. E.
Turing’s diffusive threshold in random reaction-diffusion systems
Physical Review Letters 126, 238101 (2021)

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