Inhalations-Anästhetika machen Blut-Hirn-Schranke durchlässiger

Isofluran könnte Medikamente ins Gehirn transportieren

4. Oktober 2021

In fast allen Organen ist der nahezu uneingeschränkte Austausch von Substanzen durch die Blutgefäße ins Gewebe möglich. Nur der Transport ins Gehirn wird stark kontrolliert. Grund dafür ist die Blut-Hirn-Schranke, die den Transport von körperfremden Substanzen ins Gehirn verhindert. Nur wenige Substanzen gelangen unkontrolliert über die Blut-Hirn-Schranke. Ein Beispiel sind Anästhetika, die aufgrund ihrer biophysikalischen Eigenschaften die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Seit Langem wird vermutet, dass Inhalations-Anästhetika, wie zum Beispiel Isofluran, auf die Blut-Hirn-Schranke wirken. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen unter der Leitung von Gesine Saher haben herausgefunden, dass Isofluran einen Importweg über die Blut-Hirn-Schranke anschaltet. Dies unterstützt die Chemotherapie von Hirntumoren in Mäusen, was zur Behandlung von vielen Erkrankungen des Nervensystems genutzt werden könnte.

Wie ein Netz aus Versorgungswegen durchziehen Blutgefäße das Gehirngewebe. Dass nur erwünschte Substanzen ins Gehirn gelangen, wird durch ein ausgeklügeltes System in der Blut-Hirn-Schranke ermöglicht: feste Verankerungen zwischen den Zellen der Blutgefäße, den sogenannten Endothelzellen, verhindern unkontrollierten Fluss von Molekülen. Zusätzlich zu dieser physikalischen Barriere besitzt die Blut-Hirn-Schranke zahlreiche Transportmechanismen, die den spezifischen Import benötigter Substanzen, wie zum Beispiel von Nährstoffen, kontrollieren. Überdies schleusen sie körperfremde Substanzen umgehend wieder aus.

Im Gegensatz zur Peripherie wird im Gehirn unspezifischer Massen-Import („Bulk Transport“) über die Blutgefäße gehemmt. Kleine fettliebende Substanzen, wie zum Beispiel einige Anästhetika, gelangen ohne regulierten Transport ins Gehirn. Während die Blut-Hirn-Schranke so unter normalen Umständen die optimale Leistung der Nervenzellen gewährleistet, stellt sie bei Erkrankungen des Nervensystems, wie zum Beispiel bei Hirntumoren, ein Problem dar. Die strikte Kontrolle der Zu- und Abgänge verhindert den Import von Medikamenten, wie zum Beispiel von Chemotherapeutika, zum Wirkort. Eine pharmakologische Therapie von Hirntumoren ist daher oft wenig effektiv. Seit Langem ist bekannt, dass Patienten nach Operationen unter Narkose neurologische Defizite entwickeln können. „Es wird vermutet, dass bestimmte Anästhetika die Arbeitsweise des Gehirns stören, indem sie auf die Blut-Hirn-Schranke wirken“, erklärt Gesine Saher.

Isofluran löst Transport über Blut-Hirn-Schranke aus

Gesine Saher und ihre Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen erforschen die Rolle von Cholesterin und anderen Lipiden im Nervensystem unter physiologischen und pathologischen Bedingungen. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam aus Göttingen, Münster, Oldenburg und Freiburg haben sie nun untersucht, wie das Inhalations-Anästhetikum Isofluran auf die Membranlipide der Endothelzellen wirkt.

In ihrer Studie konnten die Forscher mittels Mikroskopie im Nanobereich zeigen, dass bestimmte Membranbereiche, die besonders Cholesterin-reich sind, durch Isofluran verändert wurden. Diese Membrankompartimente, auch als "membrane lipid rafts" bezeichnet, dienen unter anderem als Plattform für Massen-Transport mittels Caveolin. „Wir wollten herausfinden, ob Caveolin-vermittelter Transport für die Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke durch Isofluran verantwortlich ist“, erklärt Lena Spieth, Mitarbeiterin von Gesine Saher und Erstautorin der Studie. Tatsächlich konnte Isoflurananästhesie in transgenen Mäusen, in denen Caveolin-1 ausgeschaltet worden war, die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke nicht erhöhen.

Wichtig für die sichere Anwendung war die Konzentration und Dauer der Anästhesie. Eine lange Exposition mit Isofluran in hoher Dosierung führte zu Einlagerungen von Flüssigkeit um die Blutgefäße des Gehirns, sogenannten Ödemen. In Maßen angewandt, regenerierte die Blut-Hirn-Schranke sofort bei Abschalten der Inhalationsanästhesie. „Durch die moderate Applikation von Isofluran können wir die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke wie mit einem Schalter steuern“, erklärt Lena Spieth.

Besonders interessant: die Chemotherapie eines Hirntumormodells konnte durch gleichzeitige Isoflurananästhesie gefördert werden. „Unsere Ergebnisse in Mäusen enthüllen volatile Anästhetika als einen neuen potenziellen Faktor in der pharmakologischen Therapie von Erkrankungen des zentralen Nervensystems", sagt Lena Spieth. „Unsere Resultate deuten darauf hin, dass diese Behandlung auf Menschen übertragbar sein könnte“, fügt Gesine Saher, Leiterin des Forschungsteams, hinzu.

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