„Müll“-RNA nach Chemotherapie verbessert die Blutregeneration

Blutstammzellen nutzen RNA aus im Genom integrierten pathogenen Überresten, um das Blutsystem wieder aufzufüllen

Eine Chemotherapie zerstört neben Krebszellen auch andere zirkulierende Blutzellen. Diese senden jedoch Signale an die Blutstammzellen im Knochenmark, um schnell wieder Nachschub zu produzieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg konnten nun zeigen, dass während der hämatopoetischen Regeneration RNA aus einem Teil des Genoms, der oft als „Müll-DNA“ bezeichnet wird, von den hämatopoetischen Stammzellen genutzt wird, um aktiviert zu werden. Diese sogenannten Transposons bilden nach einer Chemotherapie RNA, die an einen Immunrezeptor der Zellen bindet und Entzündungssignale auslöst. Diese fördern den Zyklus der hämatopoetischen Stammzellen und sind so an der Regeneration des blutbildenden Systems beteiligt.

Eine Chemotherapie wird häufig zur Behandlung von Krebspatienten eingesetzt. Während der Behandlung wirken Chemotherapeutika auf verschiedene biochemische Prozesse, um die schnell wachsenden Krebszellen zu töten oder deren Wachstum zu verlangsamen. Die zellschädigende Wirkung der Chemotherapie betrifft jedoch nicht nur Krebszellen, sondern auch viele andere Zelltypen, einschließlich der gesunden Blutzellen. Dies setzt das blutbildende System unter Druck und bringt die Blutstammzellen, die sogenannten hämatopoetischen Stammzellen, im Knochenmark dazu, neue Zellen zu produzieren und so die zurückgegangene Zahl an ausgewachsenen Blutzellen im Körper wieder aufzufüllen.

Forschende des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg haben nun gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Freiburg, Lyon, Oxford und des St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis herausgefunden, dass hämatopoetische Stammzellen „Müll"-RNA-Moleküle nutzen, um ihre Aktivierung nach einer Chemotherapie zu verstärken. Die RNA-Moleküle stammen aus DNA-Bereichen, die nicht in Eiweiße übersetzt werden und lange Zeit als genomischer Müll abgetan wurden.

Entzündungsweckruf für Stammzellen

Hämatopoetische Stammzellen sind die Grundlage unseres Blutsystems und können die Mehrzahl der Blutzellen einschließlich der Immunzellen bilden. Unter normalen Bedingungen ruhen sie im Knochenmark, wodurch ihr langfristiges Selbsterneuerungspotenzial erhalten bleibt. Bei einer Chemotherapie werden sie jedoch „gezwungen“, die Ruhephase zu verlassen und mit der Zellteilung zu beginnen. „Hämatopoetische Stammzellen reagieren auf eine Chemotherapie, indem sie anfangen sich zu vermehren. Wir wissen, dass Entzündungssignale dabei eine entscheidende Rolle spielen. Aber viele Aspekte dieser Aktivierung sind noch nicht vollständig verstanden“, sagt Eirini Trompouki, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik.

Interessanterweise beobachteten sie und ihr Team, dass neben der RNA der „klassischen“ kodierenden Gene auch andere RNA-Moleküle in hämatopoetischen Stammzellen nach einer Chemotherapie transkribiert werden. Ein Teil dieser RNA stammt von aktiven oder inaktiven Transposons (engl. „transposable elements“, TE). Dabei handelt es sich um Überreste von Krankheitserregern wie Viren oder Bakterien, die im Laufe der Evolution in das Genom von Wirbeltieren integriert wurden. Die Forschung bezeichnete dieses genetischen Materials lange Zeit als „Müll-DNA“, das es das Genom von Mensch und Maus mit mehr als einem Drittel dominiert, aber oft keine spezifischen Funktionen zu haben schien.

Nachdem das Team die RNA-Moleküle nach einer Chemotherapie in den Zellen bemerkt hatte, stellte es sich die Frage: „Gibt es einen Zusammenhang zwischen der RNA der Transposons und den erhöhten Entzündungssignalen, die nach einer Chemotherapie beobachtet werden?“, erläutert Thomas Clapes, einer der Erstautoren. In der Tat exprimieren hämatopoetische Stammzellen einige Rezeptoren, die solche Entzündungen auslösen könnten. Aber diese Rezeptoren sind eigentlich mit Immunzellen assoziiert und in erster Linie darauf spezialisert Viren-RNA zu erkennen. „Trotzdem stellten wir die Hypothese auf, dass diese Rezeptoren auch an Transposon-RNA binden können“, sagt Aikaterini Polyzou.

In Versuchen mit Mäusen konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Freiburg nun zeigen, dass Transposon-RNA an den Immunrezeptor MDA5 binden kann und eine Entzündungsreaktion auslöst. So werden die ruhenden hämatopoetischen Stammzellen aus ihrem Schlaf gerissen und beginnen mit der Zellteilung und Differenzierung, um neue Blutzellen zu produzieren. „Ohne diese Interaktion zwischen Transposon-RNA und Rezeptor verläuft die Aktivierung der Blutstammzellen langsamer und weniger effizient. Dies deutet darauf hin, dass das Erkennen der RNA für die hämatopoetische Regeneration nicht zwingend notwendig ist, aber die Blutregeneration nach einer Chemotherapie fördern kann“, sagt Pia Prater.

Biologischer Mechanismus oder Anpassung?

Für diesind diese Erkenntnisse wichtig, da sie helfen, die molekularen Grundlagen der hämatopoetischen Regeneration, insbesondere nach Chemotherapie, besser zu verstehen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass Transposon-RNA sehr spezifische von den Zellen bei Übergängen zwischen verschiedenen Zellstadien genutzt wird. Der Übergang einer Zelle von einem inaktiven in einen aktiven Zustand mit verstärkter Zellteilung bedeutet eine massive Reorganisation des Genoms. Die Zelle muss Gene ausschalten, die den Energiesparmodus aufrechterhielten und stattdessen Gene einschalten, die für einen erhöhten Stoffwechsel oder den Zellzyklus notwendig sind.

„Es ist ein interessanter Gedanke, dass Zellen Transposon-RNA oder andere repetitive RNA zur Feinabstimmung und Anpassung nutzen, wenn sie ihren Zustand nach Stresssignalen ändern. Dies passiert ja nicht nur in Stresssituationen einer Chemotherapie, sondern auch nach anderen physiologischen Stresssignalen in der Entwicklung oder bei der Alterung“, sagt Eirini Trompouki. Die Wissenschaftlerin vermutet, dass die Verwendung von RNA eine Möglichkeit für die Zelle darstellt, die ablaufende Transkription zu erkennen und zu puffern. „Es gibt noch viele Fragen zu beantworten, bis wir verstehen, ob diese Art der RNA-Erkennung eine evolutionäre Anpassung ist, die in Fällen hoher zellulärer Plastizität zur Feinabstimmung von Entscheidungen über das Zellschicksal genutzt wird“, sagt Eirini Trompouki.

MR

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