Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Sorgfaltspflichten und internationale Rechtsordnung: Die strukturverändernde Bedeutung eines vielschichtigen Rechtsbegriffs
Klimaschutz, Terrorismusbekämpfung, Pandemie, Cyberspace und Lieferkettengesetz – diese Phänomene sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Bewältigung eine Zusammenarbeit von Staaten auf der internationalen Ebene erfordert. Allerdings sind diese Herausforderungen vielfach transnationaler Natur und gehen von privaten Akteuren aus, deren Verhalten das Völkerrecht in der Regel nicht direkt erfasst. Zudem werden internationale Lösungen durch eine Krise des Multilateralismus erschwert, die sich unter anderem sowohl aus globalen geopolitischen Umwälzungen des Staatensystems insgesamt als auch aus Verwerfungen innerhalb einzelner demokratischer Staaten speist. Die aktuelle Krise erschwert die Einigung auf inhaltliche Lösungsansätze in multilateralen Vertragswerken. Die Vereinbarung von Verfahrens- und Sorgfaltspflichten bietet hier einen gewissen Ersatz.
Verfahrens- und Sorgfaltspflichten gewinnen im Völkerrecht an Bedeutung
Solche Verfahrens- und Sorgfaltspflichten (bekannt unter dem Oberbegriff Due Diligence) sind deshalb in den Fokus gerückt. Ursprünglich vor allem im Umweltvölkerrecht zur Vermeidung von grenzüberschreitenden Schäden bedeutsam, werden solche Pflichten zunehmend in weiteren Völkerrechtsbereichen relevant.
Unsere Forschungsgruppe hat Due Diligence-Pflichten umfassend und systematisch aus völkerrechtlicher Perspektive untersucht. Denn ihre rechtsdogmatische Grundlage, ihr Umfang und ihre Verbindlichkeit waren bislang unklar. Die Unklarheiten sind ein erhebliches Problem für die Rechtspraxis, da Pflichten nur dann stabilisierende Wirkung entfalten können, wenn Geltung und Inhalt hinreichend bestimmt sind.
Wir haben Völkerrechtswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Regionen der Welt eingeladen, diese Pflichten in allen wesentlichen Gebieten des Völkerrechts zu analysieren, so etwa im internationalen Umweltrecht, im Menschenrechtsschutz, im humanitären Völkerrecht und im Antikorruptionsrecht. Die Autoren und Autorinnen arbeiteten entlang der von uns entwickelten Hypothesen und Leitfragen. Ein Workshop im Harnackhaus bot Gelegenheit, diese Hypothesen und Fragen kontrovers zu diskutieren. Der Forschungsertrag sind allgemeine, über die einzelnen Bereiche hinausweisende Schlüsse:
Prozeduralisierung der internationalen Ordnung
Der Aufstieg von Due Diligence-Pflichten in der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung ist sowohl eine Manifestation als auch ein Katalysator eines Prozesses, den wir als Prozeduralisierung der internationalen Ordnung bezeichnen: Im Gegensatz zu materiellen Rechtsnormen, die unmittelbar rechtlich verbindliche Regeln treffen und inhaltliche Standards auf internationaler Ebene vorgeben, betreffen prozedurale Verpflichtungen die Verfahren der Rechtssetzung, Rechtsdurchsetzung und Rechtsfortbildung, ohne hierbei ein konkretes (substanzielles) Ergebnis vorwegzunehmen. Allein die Verletzung dieser Verfahrenspflichten kann die internationale rechtliche Verantwortlichkeit („Haftung“) von Staaten begründen. Ein Beispiel ist das staatliche Versäumnis, bei der Genehmigung riskanter industrieller Vorhaben eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu möglichen grenzüberschreitenden Schäden durchzuführen. Betroffene Staaten können bereits gegen diese Unterlassung (zum Teil unabhängig von einer Materialisierung eines Schadens) vorgehen. Das Umschalten auf Verfahrenspflichten kann Verantwortlichkeitslücken infolge fehlender inhaltlicher Standards (zum Beispiel über das konkrete Ausmaß verbotener Umweltschäden) verringern.
Darüber hinaus stellen Due Diligence-Pflichten häufig einen Kompromiss zwischen völkerrechtlicher Bindung und staatlichen Souveränitätsansprüchen her. Beispielsweise richtet sich der konkret erforderliche Sorgfaltsstandard nach der organisatorischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Staates. Hierdurch wird die Überforderung von Staaten vermieden.
Unsere Untersuchung zeigte jedoch auch, dass Due Diligence-Pflichten völkerrechtlich nicht durchgängig positiv zu bewerten sind: Ihre Biegsamkeit kann es Staaten ermöglichen, der völkerrechtlichen Verantwortung zu entgehen. Dies kann zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes dazu führen, dass Staaten trotz Einhaltung ihrer prozeduralen Berichts- und Überprüfungspflichten die objektiv erforderlichen Maßnahmen zur Treibhausgasreduzierung unterlassen. So können Verfahrenspflichten, die zu unbestimmt gefasst sind, Risiken verschleiern und eine Scheinsicherheit suggerieren.
Darüber hinaus kann eine Ausdehnung von Due Diligence-Pflichten Rechtsverletzungen befördern. So besteht im Cyberspace die Gefahr, dass sich Staaten auf ihre Due Diligence-Pflicht zur Vorbeugung grenzüberschreitender Schäden berufen, um Cyberaktivitäten stärker zu kontrollieren. Dies kann die völkerrechtlich geschützte Meinungs- und Informationsfreiheit beeinträchtigen. Wichtig ist es daher, bereichsspezifische Due Diligence-Pflichten im Einklang mit sonstigen Regeln des Völkerrechts auszulegen.
Due Diligence und strukturelle Veränderungen der internationalen Ordnung
Diese und weitere Ergebnisse unseres Forschungsprojekts sind im Buch „Due Diligence in the International Legal Order“ enthalten, das im Dezember 2020 erschienen ist [1]. Die Erkenntnisse sind auch für Rechtspraktiker und -prakterinnen hilfreich. Sie geben beispielsweise Diplomaten*innen Aufschluss darüber, welche Verantwortlichkeits- und Haftungsregeln sinnvoll in neue völkerrechtliche Abkommen aufgenommen werden können und unter welchen Bedingungen ein Rückgriff auf Due Diligence-Pflichten erfolgversprechend ist.
Die Ergebnisse wurden auch im Aufsatz „Due diligence: the risky risk management tool in international law“ zusammengefasst [2].
Weitere Erscheinungsformen der Prozeduralisierung sind darüber hinaus Gegenstand von zwei Qualifikationsarbeiten der Forschungsgruppe. Leonhard Kreuzer untersucht Präventions- und Sorgfaltspflichten im Cyberspace und Jonas Püschmann analysiert prozedurale Pflichten im Rahmen grenzüberschreitender Migrationskontrolle.