Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte

Felipe González, assoziierter Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, ist Leiter der Max Planck Partner Group for the Study of the Economy and the Public in Santiago de Chile. Er berichtet über das Projekt, über soziale Unruhen in Chile – und erinnert sich an den Kulturschock während seiner Zeit in Deutschland.

Frühjahr 2020. Die ganze Welt in der Corona-Schockstarre, und Chile macht hier natürlich keine Ausnahme. Dennoch bin ich der Meinung, dass das Virus und die Social-Distancing-Maßnahmen über die Bevölkerung Chiles zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt hereinbrachen. Vor Corona fanden in Santiago und anderen chilenischen Städten heftige Demonstrationen statt – und das bereits seit Oktober 2019. Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Erhöhung der Preise für Metro-Fahrkarten. Ein Minister goss zusätzlich Öl ins Feuer, als er sagte, die Leute müssten einfach früher aufstehen – dann seien die Tickets billiger. Rückblickend war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die gesellschaftlichen Ursprünge der Unruhen indes liegen bereits 20 oder 30 Jahre zurück.

Egal ob Gesundheit oder Bildung, in Chile ist fast alles privatisiert. Viele Menschen können sich deshalb keine angemessene medizinische Grundversorgung oder kein Studium leisten – was zu einer zunehmenden sozialen Ungleichheit führt. Als die Regierung die Ticketpreise erhöhte, schlug die Unzufriedenheit in Proteste um. Tausende Chilenen gingen auf die Straße und skandierten: „Gebt uns unsere Würde!“

Kurz vor dem Corona-Ausbruch schienen die Proteste Erfolg zu haben. Das Parlament veranlasste eine Volksbefragung darüber, ob die Verfassung, die während der Diktatur unter Pinochet geschrieben wurde, geändert werden sollte. Denn erst die Verfassung legitimiert die Privatisierung und ist daher in den Augen vieler Menschen der Ursprung der Ungleichheit. Dann aber verhängte die Regierung den Lockdown und verschob die Abstimmung auf Oktober. Nun weiß niemand, was daraus wird. Vor Corona hatten die Demonstranten das Momentum auf ihrer Seite; die Politiker spürten den gesellschaftlichen Druck. Diese Stimmung könnte im Oktober verflogen sein, obwohl die Pandemie die Ungleichheit und das defizitäre Gesundheitssystem umso mehr offenlegt.

Für Wirtschaftssoziologen wie mich ist Chile der ideale Ort, um die gesellschaftlichen Wurzeln der Wirtschaft zu erforschen. Seit Beginn dieses neoliberalen Experiments wird das Land von Ökonomen beherrscht. Und aufgrund des privatisierten Systems finden sich viele Verbindungen zwischen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten. Dennoch habe ich während meines gesamten Soziologiestudiums nichts über Wirtschaftssoziologie gelernt, weshalb ich selbst dazu recherchierte und dabei auf das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung stieß. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich dort eine Doktorandenstelle erhielt.

Nachdem ich meine Promotion beendet und noch einige Zeit am Institut geforscht hatte, entschied ich mich, nach Chile zurückzugehen. Es war für mich jedoch klar, dass ich mit Deutschland, Köln und vor allem dem Institut weiter verbunden bleiben möchte. Die Max-Planck-Partnergruppe, die ich seit Januar leite, ist daher der ideale Kompromiss. Ein Ziel der Gruppe: Wirtschaftssoziologie in Chile bekannter zu machen. Es gibt eine wachsende Community junger Studierender, die sich für dieses Thema interessieren. Für sie soll die Partnergruppe als Treffpunkt dienen. Zugleich soll sie eine Brücke schlagen zwischen Chile und der Max-Planck-Gesellschaft – und zwischen Chile und Deutschland.

Die Kulturen beider Länder könnten unterschiedlicher kaum sein, was ich selbst erlebte, als ich 2011 nach Köln zog. In Lateinamerika sind die Leute grundsätzlich entspannt, sie unterhalten sich lautstark auf der Straße, und vieles wird eher locker gehandhabt. In Deutschland schien es dagegen für alles strikte Regeln zu geben: Man trennt den Müll, man läuft nur auf dem Bürgersteig, und im Zug wird nicht telefoniert! Sobald ich jedoch einmal die wichtigsten Gepflogenheiten verinnerlicht hatte, spürte ich beinahe unbegrenzte Freiheit.

Köln versprüht meiner Ansicht nach sogar etwas lateinamerikanisches Flair. Natürlich auch wegen des Karnevals; die Kölnerinnen und Kölner sind aber grundsätzlich von ihrem Wesen her sehr offen und warmherzig. Wie oft ich im Bus oder auf der Straße mit fremden Leuten ins Gespräch gekommen bin! In anderen Regionen Deutschlands habe ich diese Erfahrungen nicht gemacht. In Köln jedenfalls habe ich Freundschaften geschlossen, die sicher mein Leben lang halten werden.

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