Emmy Noether

"Ohne Emmy Noether gäbe es eine Lücke in der Mathematik"

Noémie Combe vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften über Emmy Noether

Sie überschritt die Grenzen des traditionellen Denkens in der Mathematik und gab der abstrakten Algebra ein völlig neues Gesicht: Die Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) gilt als eine bedeutendsten Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts und bedeutendste Vertreterin ihres Faches. Nach ihr sind die Noetherschen Ringe und Moduln benannt, und auch der Noethersche Normalisierungssatz und das Noether-Theorem tragen ihren Namen. In diesem Theorem, oder erstem Satz, stellte sie 1915 fest, "dass jede differenzierbare Symmetrie der Wirkung eines physikalischen Systems ein entsprechendes Erhaltungsgesetz hat" - auch heute noch eine fundamentale Grundlage der theoretischen Physik.

Ihre bahnbrechenden Arbeiten kann in drei Perioden eingeteilt werden. In der ersten, von 1907 bis 1919, leistete sie grundlegende Beiträge zu Zahlenfeldern und algebraischen Invarianten. In diese Periode fallen auch ihre zentralen Arbeiten in der Physik, die beiden Noether-Theoreme. In der zweiten Epoche (zwischen 1920 und 1926) konzentrierte sie sich auf die abstrakte Algebra und ihre Theorie der mathematischen Ringe. In der letzten Periode (1927-1935) beschäftigte sich Noether mit nicht-kommutativen Algebren und hyperkomplexen Zahlen.

Obwohl Noether zu Lebzeiten einen internationalen Ruf als außergewöhnlich brillante Mathematikerin erlangte, sah sie sich als Frau und Jüdin in den 1920er-Jahren und zu Beginn der 1930er-Jahre in Deutschland vielfachen beruflichen Diskriminierungen ausgesetzt.  Geboren wurde sie als Amalie Emmy Noether am 23. März 1882 in Erlangen, wo ihr Vater Max Mathematikprofessor war. Zunächst wollte sie Englisch und Französisch-Lehrerin werden, entschied sich aber doch für das Fach Mathematik. Da sich Frauen nicht an deutschen Universitäten immatrikulieren konnten, hospitierte ab 1900 bei mathematischen Vorlesungen. Als die Regeln für die Teilnahme von Frauen geändert wurden, promovierte sie 1907 in Mathematik mit "summa cum laude" und war erst die zweite Frau, die an einer deutschen Universität den Doktortitel in Mathematik erhielt. Die nächsten sieben Jahre lehrte Noether in Erlangen, ohne Gehalt und ohne Titel, bevor sie von David Hilbert, einem der bedeutensten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, an die Universität Göttingen eingeladen wurde.

Der Widerstand der Fakulät gegen weibliche Akademiker war jedoch so stark, dass Noether nur unter Hilberts Namen unterrrichten durfte. Ihr Antrag auf Habilitation wurde erst 1919 positiv entschieden. Im Jahre 1922 durfte sie die Bezeichnung „außerordentlicher Professor" führen, aber ohne angemessene Bezahlung. Nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland 1933 wurde Emmy Noether von ihrer Universität verwiesen und emigrierte in die USA, wo sie bis zu ihrem frühen Tod 1935 am Bryn Mawr College lehrte. In einer Trauerrede würdigte sie der Mathematiker Herman Weyl mit den Worten: "Die Algebra hat ein anderes Gesicht bekommen".

Frau Combe, was ist es, was Sie an Emmy Noether besonders fasziniert?

Ihre Entschlossenheit, ihr Mut und ihre unglaubliche mentale Stärke. Ihre Kraft, das Gegenteil von dem zu tun, was die Gesellschaft damals von ihr als Frau erwartete. Ihre innere Stärke, ihrer Liebe zur Mathematik zu folgen, und das in einer Zeit, in der Frauen gegenüber Männern noch als intellektuell minderwertig angesehen wurden. Außerdem die ungeheure Konzentrationsfähigkeit, die es ihr ermöglichte, große Entdeckungen zu machen. Und nicht zuletzt ihr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten.

Was hat Sie dazu gebracht, Wissenschaftlerin zu werden? Was hat Ihr Interesse an Mathematik geweckt?

Ich habe den Drang, auf kartesische und logische Weise zu verstehen, warum und wie Dinge passieren. Andererseits habe ich sehr viel Phantasie, die ich in irgendeiner Form ausdrücken möchte. Die Mathematik ist dafür perfekt geeignet.

Wie relevant ist Noethers Arbeit heute?

Ungeheuer relevant! Ohne ihre Arbeit wäre der heutige Zweig der algebraischen Geometrie nicht das, was er ist. Die Theorie der Invarianten würde nicht existieren, ebenso wenig die Grundlagen der Algebra, zum Beispiel die Noetherschen Ringe. Sie gehört zu den Pionier*innen der modernen Algebra. Ohne Noethers Arbeit gäbe es eine große Lücke in der Mathematik und ihrem Verständnis. Es gibt viele verschiedene Zweige der Mathematik, auf die Noethers Arbeit einen erheblichen Einfluss hatte.

Wie ist es Noether gelungen, ihren eigenen Weg zu gehen, trotz der Einschränkungen, die Frauen in der Wissenschaft und in der Gesellschaft im Allgemeinen in dieser Zeit auferlegt wurden?

Sie hatte eine außerordentliche Charakterstärke und verfolgte deshalb brillante Ideen, obwohl sie mit Vorurteilen aufgrund ihres Geschlechts konfrontiert war. Sie hätte einen konventionellen Lebensstil wählen können, der die Zustimmung der Gesellschaft gefunden hätte, hat es aber nicht getan.

Doch Noethers Talent und ihr Verständnis waren so herausragend, dass sie dadurch die Kraft fand, das Urteil der Gesellschaft zu überwinden, sich im Elfenbeinturm der Mathematik zurechtzufinden und ganz neue Ideen zu entwickeln.

Der Anteil der Wissenschaftlerinnen liegt weltweit bei nur 30 Prozent. Die Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft ist auch heute noch allgegenwärtig, insbesondere in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieur-, Natur- und Technikwissenschaften). Welche Faktoren tragen Ihrer Meinung nach zu dieser Diskrepanz bei?

Leider gibt es in unserer Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten hartnäckige kulturelle Vorurteile und Geschlechterstereotypen. Heutzutage sind Fortschritte zu verzeichnen – die Situation ist sicherlich besser als zu Zeiten von Sofja Kovalevskaja (in Deutschland als Sonja Kowalewski bekannt) und Marie Curie, wo institutioneller Sexismus die Norm war und Frauen jedes Mal, wenn sie die Universität betraten, mit Vogelnamen beschimpft wurden, weil sie es wagten, ein wissenschaftliches Fach zu studieren.

Wegen der verbreiteten Voreingenommenheit ist es für eine Frau aber immer noch nicht einfach, Wissenschaftlerin zu werden.

MINT-Berufe werden immer noch von Männern dominiert. Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit sich mehr Mädchen für MINT-Fächer begeistern und mehr Frauen eine Karriere in MINT-Fächern anstreben?

Da ich Europäerin bin, nehme ich auch hier einen europäischen Standpunkt ein. Stereotype sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und manifestieren sich bereits in jungen Jahren.

Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass wir uns im Kindergarten, als ich drei Jahre alt war, einmal am Tag jedes beliebige Spielzeug aus der Spielzeugkiste aussuchen und jedes Spiel spielen durften, das wir wollten.

Es gab etwa eine Kiste voller Frauenkleider, Kinderknete, einige Mikrofone mit einem Aufnahmesystem zum Singen, Lego und ein Bügelbrett zusammen mit einem kaputten Dampfbügeleisen. Eine kleine Gruppe von Mädchen verbrachte ihre gesamte Spielzeit damit, wie wild zu bügeln und den Boden zu fegen. Eines Tages schaute meine Mutter vorbei und fragte mich: „Warum spielst du nie mit Lego?“ Meine Antwort war: „Das ist doch nur für die Jungs“. Mir wurde also schon in diesem jungen Alter vermittelt, dass es Spiele „nur für die Jungs“ gibt, bei denen Mädchen nicht willkommen sind. Solche Überzeugungen setzen sich leider fort, wenn aus Kindern Erwachsene werden.  

Es ist sicher nicht einfach, die Stereotypisierung zu überwinden, da sie ja auch mit einem starken sozialen Druck einhergeht. Leider sind diese Ideen sehr hartnäckig und „kleben“ in unseren Köpfen fest. Niemand mag es, lächerlich gemacht zu werden oder sich abgelehnt zu fühlen. Man muss geistig sehr stark und unabhängig sein, um solche Hindernisse zu überwinden.

Deshalb sollten wir dafür kämpfen, dass diese falschen Vorstellungen aus dem Volksglauben verschwinden. Jedes Mädchen sollte die Möglichkeit haben, Wissenschaft zu studieren, wenn es möchte.

Glauben Sie, dass wir einen Strukturwandel in der Wissenschaft brauchen, um den Frauenanteil zu erhöhen?

Ja, ich glaube, dass ein Strukturwandel in der Wissenschaft und im akademischen Bereich notwendig ist. Eine größere vertragliche Arbeitsplatzsicherheit für junge Wissenschaftler*innen wäre zum Beispiel sehr wichtig.

Kurzzeitverträge sehen auf dem Papier gut aus, sind aber in der Realität schlecht. Tatsächlich bedeuten sie in erster Linie endlose, stressige Bewerbungen. Zeit, die man für Bewerbungen aufwendet, ist verlorene Zeit für die Forschung.

Wenn man es schließlich geschafft hat, irgendwo einen Kurzzeitvertrag zu bekommen, bedeutet das oft, ein neues Leben zu beginnen, wahrscheinlich ohne Freunde und Verwandten, und beruflich wie privat keine verlässlichen Pläne für die Zukunft schmieden zu können.

Halten Sie Mentoring-Programme und/oder Frauennetzwerke für sinnvolle Maßnahmen? Gibt es Angebote zur Überwindung von Hürden für Frauen in der Wissenschaft, die Sie aus eigener Erfahrung als hilfreich empfunden haben?

Auch hier antworte ich als Europäerin. Meiner Meinung nach ist es wichtig, jede junge Frau zu ermutigen, die sich für mathematische, physikalische und technische Fächer begeistert und interessante wissenschaftliche Ideen hat.

Entgegen der landläufigen Meinung glaube ich nicht, dass das Talent für Mathematik − und für Naturwissenschaften im Allgemeinen − bei Frauen besonders selten ist. Ich habe viele Schulungskurse für Gymnasiast*innen betreut und dabei festgestellt, dass es in einer kleinen Gruppe von fünf bis sechs Personen immer ein Mädchen gab, das eifrig die Matheaufgaben für alle anderen machte.

Bedauerlicherweise entschied sich keines dieser Mädchen für ein Mathematikstudium an der Universität. Als ich zufällig einigen dieser Mädchen nach ihrem Schulabschluss begegnete, stellte sich heraus, dass sie Fächer gewählt hatten, die für Mädchen eher „passend“ erschienen. Aber ehrlich gesagt: Sie sahen nicht so glücklich aus wie während der Mathematikschulungen!

Kürzlich habe ich eine Fernsehsendung gesehen, in der eine Journalistin sagte, Frauen seien nicht gut in den Naturwissenschaften, insbesondere der Mathematik, weil sie nicht konzentrationsfähig sind. Ich finde das nicht nur beleidigend, sondern befürchte, solche negativen Stereotypen untergraben das Interesse von Mädchen an MINT-Fächern.

Es gibt viele Frauen mit einer Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften. Ihre Arbeit wird jedoch oft unterschätzt. Ihre mathematisch-naturwissenschaftlichen Fragen werden oftmals als dumm angesehen. Am Ende werden all jene Mädchen, die in dieser feindlichen Umgebung durchgehalten haben, kaum erwähnt. Viele Frauen geben einfach auf und begraben ihren Traum von einer wissenschaftlichen Karriere angesichts dieser Art von Druck.

Abschließend möchte ich sagen, dass ich Mentoring-Programme durchaus hilfreich finde. Insgesamt sind allerdings noch enorm viele Fortschritte nötig.

Welchen Rat würden Sie jungen Frauen geben, die eine wissenschaftliche Karriere in Betracht ziehen?

Vertraut Euch selbst! Nur ihr wisst, was ihr wollt.

TR

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