Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Virale Zeiten

Autoren
Zeberg, Hugo; Maricic, Tomislav; Pääbo, Svante
Abteilungen
Abteilung für Evolutionäre Genetik
Zusammenfassung
2020 stellte SARS-CoV-2 fast alles in unserem Leben auf den Kopf. Zu den ermutigenden Erfahrungen der Pandemie gehört, dass viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ihre Kompetenzen eingebracht haben, um das Virus besser zu verstehen und zu bekämpfen – so auch am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Seit SARS-CoV-2 unser Leben auf den Kopf stellt, bringen auch wir am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (MPI-EVA) unsere Kompetenzen ein, um das Virus besser zu verstehen und zu bekämpfen. So halfen im Frühjahr 2020 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Abteilung Evolutionäre Genetik des MPI-EVA in einem Leipziger Labor für klinische Virologie aus. Andere entwickelten einfachere und schnellere Tests zum Nachweis von SARS-CoV-2 in Gurgelproben. Mit einem vereinfachten Test konnten wir solche Proben von bis zu 25 Personen zusammenzufassen und dennoch erkennen, ob eine einzelne Person hoch infektiös ist. So haben wir das gesamte Personal eines von Covid-19 betroffenen Pflegeheims über drei Wochen hinweg täglich getestet. Im Winter 2020, als der vorliegende Jahrbuchbeitrag entsteht, bieten wir diesen Test allen Mitarbeitenden des MPI-EVA an. Die Teilnahme ist freiwillig und viele von uns fühlen sich nun etwas sicherer, wenn sie im Institut arbeiten.

Bekannte und unbekannte Risikofaktoren

In der Pandemie besonders drängend ist die Frage, warum die meisten Menschen bei einer Infektion leichte oder keine Symptome entwickeln, während einige schwer erkranken oder sterben. Fortgeschrittenes Alter, männliches Geschlecht und bestimmte Vorerkrankungen erhöhen das Risiko, doch diese Faktoren allein können die unterschiedliche Symptomatik nicht vollständig erklären. Auch genetische Veranlagungen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind, könnten eine Rolle spielen.

Ein Kollege aus unserem Team gehört zur Covid-19 Host Genetics Initiative, die nach Varianten im menschlichen Genom sucht, die mit erhöhtem Infektionsrisiko und schweren Covid-19-Verläufen in Verbindung stehen. Im Juni 2020 stellte das Konsortium seine ersten Ergebnisse vor: Im menschlichen Genom befindet sich auf Chromosom 3 ein Bereich, der Genvarianten enthalten kann, die das Risiko seines Besitzers maßgeblich erhöhen, im Falle einer Infektion mit SARS-CoV-2 schwer zu erkranken und auf einen Krankenhausaufenthalt, Intensivpflege und künstliche Beatmung angewiesen zu sein. Zu unserer Überraschung stellte sich heraus, dass dieser Befund mit einem für uns zentralen Forschungsthema zusammenhängt.

Unsere Abteilung hat in den letzten zehn Jahren die Genome von Neandertalern sequenziert, evolutionären Verwandten des heutigen Menschen, die in Europa und Westasien lebten und vor etwa 40.000 Jahren ausstarben, als sie auf moderne Menschen trafen, die aus Afrika einwanderten. Die Neandertaler sind jedoch nicht vollständig ausgestorben; sie vermischten sich mit modernen Menschen. So stammen ein bis zwei Prozent des Genoms von Menschen, deren genetische Wurzeln außerhalb Afrikas liegen, von Neandertalern. Welche Neandertaler-Genvarianten ein Mensch im Genom trägt, ist individuell verschieden. Einige wirken sich bei heute lebenden Menschen auf die Schmerzempfindlichkeit und das Risiko, Fehlgeburten zu erleiden, aus. Wir untersuchten also den Bereich auf Chromosom 3 auf Neandertaler-Varianten. Die Ergebnisse waren erstaunlich.

Neandertaler-Genvariante erhöht Risiko für schweren Covid-19 Verlauf

Menschen mit erhöhtem Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, trugen auf Chromosom 3 einen langen Abschnitt, der mit dem eines etwa 50.000 Jahre alten Neandertalers aus Kroatien, dessen Genom wir 2017 sequenziert hatten, nahezu identisch war. Wir konnten zeigen, dass dieser Abschnitt in den Genpool des modernen Menschen gelangte, als dieser vor etwa 60.000 bis 40.000 Jahren auf Neandertaler traf.

In Europa tragen etwa 16 Prozent der Menschen diese vom Neandertaler stammende Risikovariante. Wer sie von Mutter oder Vater geerbt hat, dessen Risiko ist mehr als doppelt so hoch, bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 schwer zu erkranken und Intensivpflege zu benötigen. Wer sie von beiden Elternteilen geerbt hat, trägt ein mehr als vierfaches Risiko – so als wäre der Betroffene etwa 20 Jahre älter als es tatsächlich der Fall ist.

Wie erwartet tritt diese Genvariante in Afrika, wo es keine Neandertaler gab, fast überhaupt nicht auf. Außerhalb Afrikas tritt sie je nach Bevölkerung unterschiedlich häufig auf. In China und Japan sowie in anderen Teilen Ostasiens ist sie nicht oder kaum vorhanden. Im Gegensatz dazu tragen in Indien und Bangladesch etwa 50 oder sogar 65 Prozent der Menschen mindestens eine Kopie im Genom. Diese Genvariante scheint also in der Vergangenheit in Südostasien für ihre Träger von Vorteil gewesen zu sein. Vielleicht war sie bei der Abwehr anderer Krankheitserreger hilfreich. Umgekehrt ist sie in Ostasien wahrscheinlich verloren gegangen, weil sie sich dort nachteilig ausgewirkt hat. Man könnte spekulieren, dass diese Variante durch vergangene Coronavirus-Epidemien in Ostasien aus dem Genpool der Bevölkerung „aussortiert“ wurde. Einer groben Berechnung zufolge sind bis heute (Dezember 2020) im Zuge der Pandemie tragischerweise etwa 100.000 Menschen „zusätzlich“ gestorben, weil sie die vom Neandertaler stammende Risikovariante besaßen.

Tröstlich ist, dass das Neandertalererbe nicht nur negative Auswirkungen in der aktuellen Pandemie hat. So zeigte eine Studie aus Großbritannien im Oktober 2020, dass es weitere Bereiche im Genom gibt, die den Verlauf einer Infektion mit SARS-CoV-2 beeinflussen können. Einer dieser Bereiche befindet sich auf Chromosom 12 und auch hier ist eine Neandertaler-Variante im Spiel, die allerdings das Risiko einer infizierten Person, Intensivpflege zu benötigen, senkt. Leider verringert sich das Risiko nur um etwas mehr als zwanzig Prozent.

Genomregion auf Chromosom 3 wird intensiv untersucht

Könnte die Untersuchung der Neandertaler-Varianten dazu beitragen, schwer an Covid-19 erkrankte Personen besser behandeln zu können? Vielleicht. Die Region auf Chromosom 12 kodiert drei Gene, die an der Regulation eines Enzyms beteiligt sind, das bei Virusinfektionen RNA abbaut. Die vom Neandertaler stammenden Proteinvarianten sind aktiver als die Risikovarianten und daran beteiligt, ihre Träger vor anderen Viren zu schützen, wie zum Beispiel dem Hepatitis-C-Virus, dem West-Nil-Virus und SARS-CoV, dem Virus, das eng mit SARS-CoV-2 verwandt ist und im Jahr 2003 einen Ausbruch verursachte.

Über die Risikovarianten auf Chromosom 3 ist weniger bekannt. Es befinden sich jedoch einige interessante Gene in dieser Genomregion: Eines kodiert einen Rezeptor, der an Immunreaktionen beteiligt ist, zum Beispiel im Darm. Ein anderes Gen kodiert ein Protein auf der Zelloberfläche, das gemeinsam mit einem Protein, an das SARS-CoV-2 sich bindet, einen Komplex bildet. Diese Gene werden nun von uns und anderen Forschungsteams intensiv untersucht.

Literaturhinweise

 Zeberg, H.; Pääbo, S.
The major genetic risk factor for severe COVID-19 is inherited from Neanderthals
Nature 587, 610-612 (2020)
Zeberg, H.; Dannemann, M.; Sahlholm, K.; Tsuo, K.; Maricic, T.; Wiebe, V.; Hevers, W.; Robinson, H. P.; Kelso, J.; Pääbo, S.
A Neandertal sodium channel increases pain sensitivity in present-day humans
Current Biology 30(17), 3465-3469 (2020)
DOI: 10.1016/j.cub.2020.06.045
Zeberg, H.; Kelso, J.; Pääbo.S.
The Neandertal Progesterone Receptor
Molecular Biology and Evolution 37(9): msaa119, pp. 2655-2660 (2020)

Maricic, T.; Nickel, O.; Aximu-Petri, A.; Essel, E.; Gansauge, M.; Kanis, P.; Macak, D.; Richter, J.; Riesenberg, S.; Bokelmann, L.; Zeberg, H.; Meyer, M.; Borte, S.; Pääbo, S.

A direct RT-qPCR approach to test large numbers of individuals for SARS-CoV-2
PLOS ONE 15(12): e0244824 (2020)

 

Bokelmann, L.; Nickel, O.; Maricic, T.; Pääbo, S.; Meyer, M.; Borte, S. & Riesenberg, S.

Point-of-care bulk testing for SARS-CoV-2 by combining hybridization capture with improved colorimetric LAMP
Nature Communications 12, 1467 (2021)



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