Forschungsbericht 2020 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut

Fotoarchive als Wissenschafts- und Gesellschaftslabore

Autoren
Caraffa, Costanza; Dercks, Ute; Goldhahn, Almut
Abteilungen
Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut, Florenz, Italien, Photothek
Zusammenfassung
Die im digitalen Habitat herrschende Bilderflut wiederholt quasi die mediale „Revolution“, die die Verbreitung der Fotografie im 19. Jh. für Wissenschaft und Gesellschaft gebracht hat. Fünf Publikationen der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz aus dem Jahr 2020 liefern theoretische und methodische Instrumente, um damit umzugehen. Demnach sind Fotoarchive Wissenschafts- und Gesellschaftslabore sowie Experimentierräume (auch für Künstler und Künstlerinnen), aus denen Reflexionen über Materialität, Wertesysteme, Taxonomie sowie aktuelle Themen wie Kulturerbe oder Migration hervorgehen.

Foto-Objekte als Forschungsinstrumente und epistemische Dinge

Die Entstehung wissenschaftlicher Fotoarchive seit dem späten 19. Jahrhundert basierte auf dem positivistischen Vertrauen in die angebliche Objektivität des fotografischen Prozesses. Zur Akkumulation „neutraler“ Bilder als Evidenz für die Forschung ist auch die Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – Max-Planck-Institut (KHI) entstanden, eine der wichtigsten wissenschaftlichen Sammlungen von Dokumentarfotografien zur italienischen Kunst. Als Forschungseinrichtung und Labor spielt sie heute eine zentrale Rolle in der internationalen und transdisziplinären Debatte über die Funktion von Fotoarchiven in Forschung und Gesellschaften des 21. Jahrhunderts mit einem Fokus auf die Wechselbeziehungen zwischen fotografischen, archivarischen und akademischen Praktiken. Methodisch orientiert sich diese Forschung an Ansätzen aus der Anthropologie und der Material Culture Studies. Danach sind Fotografien nicht nur flache Bilder, sondern materielle Objekte mit zeitlichen und räumlichen Dimensionen, die in sozialen und kulturellen Kontexten aktiv sind. Einer davon ist das fotografische Archiv. Fotoarchive selbst sind mehr als die Summe der in ihnen aufbewahrten Materialien: Sie sind Ökosysteme, in denen die Abzüge mit ihren Kartons, Schachteln, Stempeln, Inschriften, mit dem Klassifikationssystem, mit Karteikarten sowie mit digitalen Tools interagieren. Im Ökosystem des Fotoarchivs (inter-)agieren auch Archivar*innen und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen: Sie prägen mit ihrer täglichen Arbeit die fotografischen Dokumente, indem sie sie auswählen, sortieren, beschriften, in die eine oder andere Schachtel legen, Metadaten definieren, Fotografien für die Digitalisierung oder Publikation selektieren. Die Foto-Objekte entfalten ihrerseits eine eigene Affordanz, ein Handlungsangebot, indem sie gewisse (wissenschaftliche) Praktiken nahelegen. Ein Scan in Hochauflösung erlaubt zum Beispiel das Einzoomen. Eine auf beschrifteten Karton geklebte Fotografie ermöglicht die gleichzeitige Wahrnehmung von visuellen und textlichen Informationen sowie den Schutz vor Berührung der fotografischen Oberfläche. Erst solche Transformationen machen die Fotografie zu einem zu Forschungszwecken verwendbaren Instrument sowie auch selbst zu einem epistemischen Ding (Hans-Jörg Rheinberger), Gegenstand und Anreger weiterer Forschung. Im Jahr 2020 sind fünf Publikationen erschienen, die exemplarisch für die Forschungsansätze der Photothek stehen. Sie sind aus Kooperationen der letzten Jahre hervorgegangen, bei denen die Photothek federführend wirkte.

Wertesysteme des Fotoarchivs

Die Frage, wie eine Fotografie zu einem wissenschaftlichen Objekt wird, steht im Zentrum der Publikation „Foto-Objekte. Forschen in archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Archiven“, die aus einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015 bis 2018 geförderten Verbundprojekt hervorgegangen ist [1]. Herausgegeben von der Photothek zusammen mit Partnern aus den Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Humboldt-Universität zu Berlin, untersucht das Buch anhand vier wissenschaftlicher Archive sowohl Mechanismen der Wissensproduktion als auch die Wirkung von Fotografien und Archivstrukturen in den akademischen Disziplinen.  

Zu diesem Komplex zählt auch die Frage nach den Wertesystemen des Fotoarchivs. So spielen Dokumentarfotografien traditionell eine untergeordnete Rolle in der Hierarchie der Kunstgeschichte, die von Werten der Museen und des Kunstmarktes wie Autorschaft und Einmaligkeit stark geprägt ist. Durch den materiellen Ansatz hinterfragt die Photothek diese Hierarchie und fokussiert die Arbeitsprozesse im Fotoarchiv. So widmet sich eine weitere Publikation der Verschränkung zwischen den Wertesystemen des Fotoarchivs und der Werterzeugung durch den Einsatz von Fotografien im Kunsthandel [2].

Interaktionen mit Künstler*innen

Die Produktion von Wert durch Bilder ist ein Hauptthema auch für den Fotografen und Filmemacher Armin Linke, 2019 bis 2021 Artist in Residence am KHI. Erstes Ergebnis dieser Zusammenarbeit [3] ist Linkes Dokumentation der Arbeitspraktiken der Photothek, die in seinen Fotografien zum Ausstellungsobjekt wird. Mit ähnlichen Projekten ist die Photothek in den letzten Jahren zu einem Experimentierraum für Künstler und Künstlerinnen wie Antonio Di Cecco, Guido Guidi, Joachim Schmid, Elisabeth Tonnard, und Akram Zaatari geworden. Ihre Außenperspektive und die Auseinandersetzung mit ihren kreativen und intellektuellen Praktiken stimulieren Selbstreflexivität und Positionalität der Photothek.

Fotoarchive als Gesellschaftslabore

Das Wissen über die Zirkulation von Fotografien und ihre Akkumulation in Sammlungen und Archiven ist nicht nur für die Forschung relevant; es schult darüber hinaus eine in postdigitalen Gesellschaften notwendige Bildkompetenz, denn auch das Internet mit seiner Bilderflut muss als eine Art Riesenarchiv verstanden werden. Gerade die Zusammenarbeit mit Künstler und Künstlerinnen leitet von Reflexionen über Materialität, Wertesysteme, Taxonomie hin zu aktuellen Themen wie Kulturerbe oder Migration. In der Installation „Encounters in an Archive“ hat der Künstler Massimo Ricciardo von ihm in Sizilien gesammelte, von Migranten und Migrantinnen zurückgelassene Objekte in einen Dialog mit Foto-Objekten und Strukturen der Photothek gebracht. In den geordneten Räumen der Photothek stießen die fragilen Objekte auf Überlegungen über die Macht von Archiven und Klassifikationssystemen an. Ricciardos Installation steht im Rahmen einer Kooperation mit Eva-Maria Troelenberg und Anna Sophia Messner über Fotografie und Migration [4].

Ähnlich wie die Fotografien, sind diese Publikationen zirkulierende Objekte: Sie verlassen das Ökosystem der Photothek und leben weiter, wirken in anderen Kontexten und werden nicht nur von Kunsthistoriker*innen gelesen. Auch auf ihnen beruht die internationale, transdisziplinäre Ausstrahlung der Photothek [5]. Ihre Forschungsfragen und -ansätze sind in der intellektuellen Agenda des KHI fest verankert.

Literaturhinweise

Bärnighausen, J.; Caraffa, C.; Klamm, S.; Schneider, F.; Wodtke, P. (Hg.)

Foto-Objekte: Forschen in archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Archiven
Kerber Verlag, Bielefeld (2020)

Caraffa, C.; Bärnighausen, J. (Hg.)

Photography and Art Market around 1900 (Sonderausgabe)
Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 62 (1), Centro di Edizioni, Florenz (2020)

Linke, A.; Balduzzi, M. (Hg.)

Armin Linke: Modalities of Photography
Silvana Editoriale, Mailand (2020)

Troelenberg, E.-M.; Caraffa, C.; Messner, A. S. (Hg.)

Special Issue on Photography and Migration

International Journal for History, Culture and Modernity 8 (1), 1–104 (2020)

Caraffa, C.

Photographic Itineraries in Time and Space: Photographs as Material Objects
In: Handbook of Photography Studies, 79–96 (Hg. Pasternak, G.). Bloomsbury Visual Arts, London UK (2020)
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