Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Lebenserwartung: Warum stehen die USA so schlecht da?

Autoren
Myrskylä, Mikko
Abteilungen
Arbeitsbereich Bevölkerung und Gesundheit, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Zusammenfassung
Seit 2010 bleiben die USA bei der Entwicklung der Lebenserwartung deutlich hinter anderen Industrienationen zurück. Zuletzt nahm die durchschnittliche Lebensdauer in den Vereinigten Staaten sogar ab. Eine neue Studie am Max-Planck-Institut für demografische Forschung zeigt nun: Entscheidender für diese Entwicklung als die oft genannte Opioid-Krise war die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Seit 2010 stagniert der Anstieg der Lebenserwartung in den USA – woran liegt es?

Der Anstieg der Lebenserwartung in den USA im 20. Jahrhundert war gewaltig: Mit jedem Jahrzehnt, das verging, gewannen US-Amerikaner fast zwei Lebensjahre hinzu. Seit 1970 waren dafür vor allem Erfolge bei der Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen verantwortlich. Die Sterberate sank zwischen 1970 und 2002 um die Hälfte.

Doch spätestens seit 2010 stagniert diese Entwicklung. Während die USA zu Beginn des Jahrtausends bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch ähnliche Sterberaten verzeichneten wie die zehn Länder mit der weltweit höchsten Lebenserwartung, verloren sie in den 2010er-Jahren den Anschluss. Im Jahr 2016 schließlich lagen die Sterberaten bereits 30 Prozent über dem Schnitt der Top-10-Länder, wie Neil K. Mehta, Leah R. Abrams von der University of Michigan und ich in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA (PNAS) schreiben [1]. Betroffen sind von dieser Stagnation sowohl Männer als auch Frauen, fast alle Altersgruppen und fast alle US-Bundesstaaten.

Bisher war für die negative Entwicklung der Lebenserwartung in den USA vor allem die Opioid-Krise, also der zunehmende Missbrauch von Schmerzmitteln, als Erklärung herangezogen worden. Und tatsächlich hat die Sterblichkeit in diesem Bereich zuletzt deutlich zugenommen. Doch wir vermuteten, dass die USA nicht vornehmlich durch einen Anstieg von Drogentoten, sondern vielmehr durch ausbleibende Fortschritte bei der Bekämpfung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ins Hintertreffen gerieten.

Wie hätte sich die Lebenserwartung entwickelt, wenn die Sterblichkeit durch Drogenmissbrauch nicht gestiegen wäre?

Um herauszufinden, wie stark sich der Missbrauch von Opioiden und die stagnierende Sterblichkeit bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf die Lebenserwartung insgesamt auswirkten, rechneten wir zwei hypothetische Szenarien durch: Wie hätte sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA entwickelt, wenn sich die Sterblichkeit durch Drogenmissbrauch seit 2010 nicht verändert hätte? Und wie hätte sie sich entwickelt, wenn die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen im gleichen Tempo wie vor 2010 weiter zurückgegangen wäre? Gerechnet haben wir mit der verbleibenden Lebenserwartung 25-Jähriger.

Die Ergebnisse der beiden Szenarien zeigen, dass der Missbrauch der Opioide vor allem bei Männern einen Effekt auf die Entwicklung der Lebenserwartung hatte. Wäre die Sterblichkeit durch Drogenmissbrauch seit 2010 nicht angestiegen, dann würden US-amerikanische Männer heute im Schnitt ungefähr fünf Monate länger leben. Bei Frauen hingegen wäre die Lebenserwartung nur gut einen Monat höher.

Die deutlich größeren Effekte zeigen sich im zweiten Szenario: Hätten die USA – so wie viele andere Industrienationen – den positiven Trend bei der Bekämpfung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen fortsetzen können, dann wäre die Lebenserwartung heute bei Frauen um 1,2 Jahre höher und bei Männern um 1,1 Jahre. Diese Zahl entspricht recht genau der Lücke, die sich von 2010 bis 2017 zwischen der Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten und der durchschnittlichen Lebenserwartung in den 27 EU-Ländern gebildet hat – nämlich 1,2 Jahre.

Analysen bestätigten: Die Stagnation der Lebenserwartung ist vor allem auf die Herz-Kreislauf-Toten zurückzuführen

Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse sind, veränderten wir in weiteren Szenarien einige Parameter: Wir berechneten die Entwicklung der verbleibenden Lebenserwartung mit 15 statt mit 25 Jahren, wir nahmen statt 2010 das Jahr 2000 als Ausgangspunkt für die Untersuchung und wir rechneten mit einer halb so erfolgreichen Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Darüber hinaus analysierten wir, inwieweit andere Todesursachen wie etwa Krebserkrankungen einen Einfluss auf die stagnierende Lebenserwartung in den USA hatten. Alle diese Analysen bestätigten das Ergebnis, dass die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen den größten Einfluss auf die Entwicklung der Lebenserwartung seit der Stagnation im Jahr 2010 hatte.

Dass dieser Zusammenhang in früheren Analysen teilweise nicht nachgewiesen werden konnte, führen wir darauf zurück, dass viele Forschende sich auf die jüngste Zeit konzentriert hatten, in der die Lebenserwartung zurückging und in der sich die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits nicht mehr verbesserte, sondern schon stagnierte. Die Periode vor dem Jahr 2010, in der die USA hier Jahr für Jahr die Sterberaten senken konnten, geriet dadurch aus dem Blick.

Trotzdem wollen wir keinesfalls die Bedeutung der Opioid-Krise herunterspielen. Sie hat auf jeden Fall zur Stagnation und zum Rückgang der Lebenserwartung beigetragen. Wir dürfen aber nicht annehmen, dass eine erfolgreiche Bekämpfung des Missbrauchs von Schmerzmitteln und Drogen die USA wieder auf das Niveau der zehn führenden Länder in Sachen Lebenserwartung zurückführen würde. Dafür wären zunächst weitere Erfolge bei der Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen notwendig.

Literaturhinweis

Mehta, K.; Abrams, L.; Myrskylä, M.

US life expectancy stalls due to cardiovascular disease, not drug deaths

Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 117 (13) 6998–7000 (2020)

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