„Eine Reduktion von Aerosolen um gut 90 Prozent“

Frank Helleis beantwortet Fragen zur Lüftungsanlage, die in Innenräumen potenziell mit dem Coronavirus belastete Partikel entfernen kann

11. November 2020
Ein Team um Frank Helleis, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, hat eine einfache Lüftungsanlage für Innenräume konstruiert, die etwa in Klassenzimmern eingesetzt werden kann. Hier beantwortet er Fragen zur Installation, Funktion und Wirkung der Anlage sowie zur Kombination etwa mit Raumluftreinigern.

Wie funktioniert das Abluftsystem für Klassenzimmer, dass Sie an der Integrierten Gesamtschule in Mainz-Bretzenheim installiert haben?

Die Luft wird von über jedem Tisch installierte Abzugshauben abgesaugt, durch kleinere Rohre in ein großes Zentralrohr unter der Decke geleitet und über einen Ventilator an einem kippbaren Fenster nach draußen geblasen. Die Zuluft kann über ein weiteres spaltoffenes Fenster oder vorzugsweise durch die spaltoffene Tür zugeführt werden. Eine besondere Eigenschaft der Anlage ist, dass sie die um den warmen menschlichen Körper aufsteigende Strömung ausnutzt, die natürlicherweise die ausgeatmete Luft innerhalb von zehn Sekunden in das Absaugrohr transportiert, also bevor sie turbulent in den gesamten Raum eingemischt werden kann.

Wie teuer und aufwendig ist die Installation?

Die Materialkosten liegen bei etwa 200 Euro pro Klassenraum. Die Anlagen sind so konstruiert, dass sie von engagierten Lehrern und Eltern, eventuell sogar Schülern selbst aufgebaut werden können. Neben typischen Werkzeugen wie Zange und Schere sind einige spezieller Geräte wie ein Lötkolben für die Verbindung von Drähten oder ein Plastikschweißgerät sinnvoll. Mit etwas Routine im Umgang mit den Geräten und den entsprechenden Materialien , die wir in einer Liste zusammengestellt haben, können vier bis sechs Leuten eine Anlage in vier Stunden einbauen.

Wie haben Sie getestet, wie wirksam dieser Low-Tech-Ansatz zur Luftreinigung ist?

Wir haben Messungen mit Aerosol- und CO2-Quellen durchgeführt, die auf einem Sitzplatz in Kopfhöhe installiert einen infizierten Schüler simulieren. Indem wir den Probeneinlass in und außerhalb des Abluftsystems positionieren, kann die Anreicherung der Aerosole im Abluftsystem direkt als Verhältnis der beiden Messwerte ermittelt werden. Bringt man den Aerosolgenerator außerhalb des Absaugbereichs der Abzugshaube an, wird das Aerosol nicht selektiv abgesaugt und man sieht einen entsprechenden Anstieg der Konzentrationen überall im Klassenraum. Bei diesen Messungen mit simulierten Schülern wurde eine Reduktion von Aerosolen um gut 90 Prozent gemessen.

Für welche Art und Geometrie von Klassenzimmern wäre so etwas sinnvoll?

Das System ist ein Baukasten aus mit der Schere zuschneidbaren Folienrohrsegmenten und Verteiler- beziehungsweise Verbindungsstücken. Da die Rohrsegmente erst vor Ort hergestellt werden, gibt es keine Einschränkungen hinsichtlich Art oder Geometrie. Es wird lediglich ein kippbares Fenster und eine Steckdose benötigt.

Wie groß ist das Interesse – bei Schulen und bei Firmen, die sowas bauen könnten?

Wir haben innerhalb von einer Woche seit dem ersten Medienbericht mehr als 1000 Anfragen von Schulleitern, Schulträgern sowie Privatpersonen und sogar Lüftungstechnikfirmen erhalten, die unser Lösungsansatz offensichtlich überrascht hat. Die Anzahl der auszurüstenden Räume geht in die Zehntausende. Unser System wäre zwar mit Standardlüftungskomponenten darstellbar, dann aber viel teurer, schwerer, lauter, ineffizienter und in der Montage viel aufwendiger. Zudem sind diese Materialien nicht transparent, wodurch die Montage in der Nähe bzw. unterhalb von Lampen zu Verdunklungen führen könnte. Wir haben am Markt keinen Hersteller gefunden, der Komponenten für extreme Niederdrucksysteme anbietet.

Ist es möglich, die Ergebnisse ihrer Prüfungen einzusehen?

Wir haben derzeit automatisierte CO2-Messungen installiert. Diese und auch die vorläufigen Daten werden wir in Kürze, wahrscheinlich noch in der ersten Novemberwoche, auf unserer Homepage veröffentlichen.

Stellen Sie eine Bauanleitung für die Lüftungsanlage zur Verfügung?

Interessierte können sich auf unserer Webseite registrieren, um über die Dokumentation und Änderungen an dieser automatisch benachrichtigt zu werden.

Muss das Fenster in Ihrer Variante dauerhaft gekippt bleiben oder kann es zeitweise geschlossen werden?

Das Fenster ist mit einem Anschluss für den Ventilator ausgerüstet, der unabhängig von der Fensterstellung praktisch luftdicht ist. Daher kann das Fenster in der unterrichtsfreien Zeit geschlossen werden, der Ventilator stoppt dann automatisch.

Schützt dieses System nur vor indirekten Ansteckungen? Sind zusätzliche Plexiglastrennscheiben zu empfehlen und wie verhält es sich mit einer Mund-Nase-Bedeckung?

Ja, das System reduziert nur die Ansteckungsgefahr durch Aerosole. Wenn Schüler, die sich auch in der Pause oder privat treffen, an denselben Tischen sitzen, wird man keine Trennscheiben brauchen. Die Risikoreduktion durch Alltagsmasken kommt allerdings noch multiplikativ hinzu.

Inwiefern ist Ihr Modell für den Masseneinsatz geeignet?

Das System ist aus unserer Sicht massentauglich für alle Situationen, in denen sich Menschen mehr oder minder an einem Ort aufhalten. Dann haben die Abzugshauben maximale Wirkung. Beispiele sind Schulen, Büros, Restaurants.

Mit welcher zusätzlichen Geräuschbelastung ist durch den Ventilator zu rechnen?

Laut Hersteller erzeugt der Ventilator freiblasend etwa 40 Dezibel, da er sich aber in einem Gehäuse befindet, rechnen wir nur mit 30 Dezibel. Wir werden dies aber nochmals messen.

Wird die Raumluft durch das ständige Lüften im Winter nicht besonders trocken?

Im Gegenteil, weil die Raumluft nominell nur etwa zweimal pro Stunde gewechselt wird, wird ihr im Vergleich zum vorgeschriebenen Stoßlüften alle 20 Minuten entsprechend weniger Wasser entzogen.

Inwieweit stören andere Wärmequellen wie eine Heizung die thermische Konvektion im Bereich der Schüler?

Vorläufige Simulationen der Raumluftströmungen haben gezeigt, dass die typischerweise unter den Fenstern angebrachte Heizung im Zusammenspiel mit der kalten Fensterfront eine eigene kleinräumige Konvektionszelle bildet. Diese greift kaum in den Raum hinein und verstärkt die Strömungsrichtung im Bereich der nächstsitzenden Schüler eher als sie abzuschwächen.  Dies sollte noch im Experiment verifiziert werden. Intuitiv ist es aber verständlich, dass die Wärmequelle Schüler gegenüber der Heizung und der Fensterfront rechnerisch dominiert.

Warum können kaum Standard Komponenten aus der Lüftungstechnik benutzt werden?

Lüftungshersteller bauen meist zentrale Anlagen bei minimierten Platzanforderungen und nutzen deswegen relativ hohe Ventilatorleistungen und Strömungsgeschwindigkeiten. Da wir aus praktischen, statischen und brandschutztechnischen Gründen minimales Gewicht, offenen Bauweise, uneingeschränkte Nachrüstbarkeit, einfache Herstellbarkeit und minimale Geräuschentwicklung brauchen, haben wir Systemdrucke und -Flüsse drastisch reduziert. Bis jetzt bieten nur modifizierte Bodenventilatoren die nötigen niedrigen Leistungen an.

Erfüllt Ihre Anlage die gängigen Brandschutzauflagen und Sicherheitsbestimmungen?

Unsere Anlage wurde im Vorfeld durch Sachverständige des zuständigen Schulträgers in Bezug auf Brandschutz- und allgemeinen Sicherheitsbestimmungen geprüft und akzeptiert. Durch die Art der Konstruktion, die Nutzung vorhandener Fenster und die brandschutztechnisch sicheren beziehungsweise im Klassenraum auch an anderen Stellen verwendeten Materialien wie etwa Polyethylen und Polypropylen ergaben sich nur geringe bürokratische Hürden. Unsere Anlage wiegt etwa 10 Kilo. Verglichen mit der durchschnittlichen Brandlast von etwa 200 Kilo durch Stühle, Kleidung und Unterrichtsutensilien, die im Brandfall teilweise hochgiftige Gase freisetzen könnten, ist unserer Anlage nahezu vernachlässigbar.

Sehen Sie Ihr System als Konkurrenz zu mobilen Raumluftfiltern – oder als Ergänzung?

Zur vom Umweltbundesamt geforderte Begrenzung der mittleren CO2-Konzentration in Klassenräumen auf circa 1000 ppm sind rechnerisch fünf Raumluftwechsel pro Stunde nötig. Hat man keine Lüftungsanlage und ist es zu kalt zum Dauerlüften, kann dies durch dreimaliges Stoßlüften pro Stunde erreicht werden. Kann man kein Fenster öffnen, ist die Nachrüstung unumgänglich. Da Raumluftfilter aber kein CO2 entfernen, können sie lediglich ergänzend zum Lüften oder im absoluten Notfall betrieben werden. Die von Herstellern von Raumluftfiltern und Forschern empfohlene Installationsleistung liegt auch in dem durch 20-minütige Stoßlüftung erreichbaren Bereich. Position und Luftführung sind erheblich für ihre Wirksamkeit. Manche Forscher präferieren den Einsatz von mehreren kleinen anstelle eines großen Gerätes. Der Hauptreinigungseffekt entsteht durch das Stoßlüften, der zusätzliche Einsatz von Raumluftreinigern bringt dann typischerweise nur eine weitere Halbierung des Infektionsrisikos. Unsere Anlage reduziert drastisch Sars-COV-2, CO2 und den Energieverbrauch der Schulen während der Heizperiode bei zehnfach geringeren Kosten, die noch dazu über die Heizperiode amortisiert werden. Unser System ist offensichtlich auch nach der Pandemie nutzbringend einsetzbar. Fazit: Raumluftreiniger sind aus unserer Sicht keine Konkurrenz, sondern lediglich eine Ergänzung zu Lüftungsanlagen oder Stoßlüftung – aber nicht umgekehrt.

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