Thronfolge geregelt

Ein ungewöhnlicher Mechanismus sichert die Funktionsfähigkeit von Boten-RNA in Nervenzellen

Eine spezifische Region von Boten-RNAs, die 3'untranslatierte Region (3’-UTR), spielt eine wichtige Rolle für die einwandfreie Funktion von Zellen. Ausschließlich in Neuronen werden die 3’-UTRs in Hunderten von mRNAs während der Embryonalentwicklung verlängert, was für die Funktion der Gehirnzellen von entscheidender Bedeutung ist. Das Labor von Valérie Hilgers am Max-Planck Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg konnte nun zeigen, dass in Drosophila ein eleganter und doppelt abgesicherter Mechanismus diesen Prozess der 3’-UTR-Verlängerung sicherstellt. In ihrer neuesten Studie beschreibt das Team erstmals einen hierarchischen Mechanismus der Funktionsübernahme. Ausgehend vom wichtigen Protein ELAV, das als Master Regulator die Verlängerung unter normalen Bedingungen in der Zelle anleitet, gibt es mit dem Protein FNE einen Stellvertreter, der im Notfall aktiviert wird und bei Abwesenheit des Masters sämtliche Aufgaben übernimmt.

Neuronen, auch als Nervenzellen bekannt, senden und empfangen Signale in unserem Gehirn. Sie sind besonders komplex und in vielerlei Hinsicht einzigartig: Neuronen teilen oder regenerieren sich nicht wie viele andere Zelltypen und sie können in ihrer Wirkung erregend, hemmend oder modulierend und in ihrer Funktion motorisch, sensorisch oder sekretorisch sein.

RNA-Moleküle sind entscheidend dafür, dass Neuronen richtig funktionieren. Nahezu jede bekannte neurologische oder neurodegenerative Erkrankung beim Menschen ist mit einer Fehlfunktion der RNA-Regulation verbunden. Während der Genexpression werden Boten-RNA-Moleküle (mRNA) von der DNA transkribiert und später in ein Protein übersetzt. Die RNA ist aber nicht nur das Bindeglied zwischen der DNA und dem Protein.

RNA übernimmt wichtige regulatorische Aufgaben

Denn bestimmte Regionen des mRNA-Moleküls werden nicht in ein Protein übersetzt, so zum Beispiel die sogenannte 3’untranslatierte Region (3’-UTR), die unmittelbar nach dem Stopcodon der proteincodierenden Region auf der mRNA folgt. Interessanterweise hat der 3’‑UTR Abschnitt für sich allein genommen viele regulatorische Funktionen. Er kann zum Beispiel bestimmen, wann und wo ein Gen aktiv wird oder wo in der Zelle ein Protein seinen Platz finden soll. Außerdem spielt diese Region eine wichtige Rolle bei der Bildung von Synapsen und der Aufrechterhaltung des Gedächtnisses.

Ein einzigartiger RNA-Mechanismus, der erst vor einem Jahrzehnt entdeckt wurde, unterscheidet die Nervenzellen von allen anderen Zellen: das Hinzufügen einer langen Sequenz weiterer nicht-kodierender Nukleinbasen zu vielen mRNA-Molekülen. Dieses Phänomen, das als „3’-UTR-Verlängerung“ bezeichnet wird, ist für Neuronen von entscheidender Bedeutung, damit sie ihre Identität bewahren und richtig funktionieren können.

Das Labor von Valérie Hilgers am MPI für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg konzentriert sich auf diesen RNA-Verarbeitungsmechanismus. In früheren Arbeiten aus dem Labor konnte gezeigt werden, dass in Neuronen der Fruchtfliege Drosophila das Protein ELAV äußerst wichtig für den Prozess der 3’-UTR-Verlängerung ist. In ihrer aktuellen Studie machte sich das Team auf, mehr über ELAV zu erfahren.

ELAV als Master-Regulator der Neuronenbiologie

Dabei zeigte sich, dass ELAV ein sogenannter „Master-Regulator“ ist. In der Biologie sind Master-Regulatoren Moleküle, von denen man annimmt, dass sie für die Steuerung eines ganzen Regulationsprogramms innerhalb der Zelle verantwortlich sind. Sie stellen also sicher, dass wichtige, transformative Ereignisse stattfinden, und zwar oftmals auf eigene Faust. Ohne sie kann das transformative Ereignis nicht stattfinden. Es ist jedoch gefährlich für die Zelle, sich vor allem bei wichtigen Aufgaben nur auf einen einzigen Effektor zu verlassen. Deshalb teilen sich in vielen biologischen Systemen in der Regel mehrere Proteine die Arbeit.

Bei Drosophila fanden die WissenschaftlerInnen aber ein ungewöhnlich robustes System, das die Bildung und Aufrechterhaltung neuronaler Transkript-Signaturen in Drosophila gewährleistet. „Unter normalen Bedingungen fungiert ELAV als Master-Regulator und leitet die 3’-UTR-Verlängerung im Alleingang an. Interessanterweise unterdrückt es aber auch die Expression eines Exons eines anderen Gens der gleichen Familie namens FNE. Als wir nun das System durch die Mutation von ELAV unter Stress setzten und ELAV ausschalteten, konnten wir zeigen, dass eine neue, aktivierte Form von FNE in der Zelle exprimiert wird. Diese wird in den Kern verlagert, um die Funktion von ELAV in dessen Abwesenheit zu übernehmen“, erklärt Judit Carrasco, Erstautorin der Studie.

EXAR-Mechanismus regelt Nachfolge

Das Team nennt diesen bisher unbekannten Mechanismus EXAR (EXon-Activated Rescue). „In Anbetracht der Bedeutung der 3’-UTR-Verlängerung für die Funktion von Neuronen ist es einleuchtend, einen solch robusten Mechanismus zu verwenden, bei dem die Nachfolge klar geregelt ist,“ sagt Studienleiterin Valérie Hilgers, die auch Mitglied des CIBSS – Centre for Integrative Biological Signalling Studies an der Universität Freiburg ist.

Dieser neue Einblick in ELAV und den EXAR-Mechanismus ist ein vielversprechender Ansatzpunkt für die zukünftige Forschung. ELAV ist eines der am stärksten konservierten Proteine in Tieren. Man findet es nicht nur in Drosophila, sondern in den Nervenzellen eines jeden Tieres. Auch beim Menschen sind ELAV-Proteine an zahlreichen neurologischen Krankheiten beteiligt. Die konkreten Mechanismen, wie ELAV die Gesundheit von Nervenzellen beeinflussen, sind aber noch nicht eindeutig verstanden. Deshalb wollen die ForscherInnen in Freiburg in weiteren Studien herausfinden, wie ELAV-Proteine auf die RNA wirken, um die Gesundheit von Nervenzellen zu erhalten.

VH/MR

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