"Ich sehe die neue Aufgabe als ein Abenteuer und Perspektivenwechsel."

Ulman Lindenberger wurde zum neuen Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft gewählt

9. Juli 2020

​​​​​​​Ulman Lindenberger ist seit 2003 Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Seit 2014 leitet er zusammen mit Ray Dolan vom Wellcome Centre for Human Neuroimaging am University College London das Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research. In seinen Forschungsarbeiten geht es vor allem um individuelle Potenziale und Grenzen der kognitiven Entwicklung über die Lebensspanne. 2010 erhielt der Psychologe den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der DFG. Als Vizepräsident ist Lindenberger seit dem 1. Juli 2020 für die Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftliche Sektion zuständig. Im Gespräch erläutert er, was ihn an der neuen Aufgabe reizt und welche Themen ihn besonders umtreiben.

Warum tun Sie sich den Job des Vizepräsidenten an? Denn der ist ja nicht mit wenig Arbeit verbunden.

Ulman Lindenberger: Zunächst gibt es das Pflichtbewusstsein. Ein großer Teil meines wissenschaftlichen Werdegangs hängt mit der MPG zusammen, und daraus ergibt sich der Wunsch, der MPG etwas zurückzugeben. Außerdem reizt mich die neue Aufgabe. Ich betrachte sie als ein Abenteuer und als einen Perspektivenwechsel. Und schließlich habe ich bereits jetzt den Eindruck, dass der Präsident und wir Vizepräsidenten als Team sehr gut zusammenarbeiten werden.

Das durften Sie im Rahmen eines gemeinsamen Retreats mit allen drei neuen Vizepräsidenten sowie Ihren Vorgängern schon einmal ausloten.

Ja, das stimmt. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich auch meiner Vorgängerin im Amt, Angela Friederici, herzlich danken. Sie hat mich in vielen Gesprächen in die Aufgaben und Vorgänge eingeführt. Das war ein Onboarding-Prozess, der schon im letzten Jahr begonnen hat und der durch Corona zwar erschwert, aber nicht ernsthaft gestört wurde. Die neue Aufgabe ist kein Sprung ins kalte Wasser mehr. Ich habe den Eindruck, dass ich das, was auf mich zukommt, – sagen wir mal – zur Hälfte überblicken kann.

Dann reden wir doch mal über die eine Hälfte. Da gibt es auch eine Aufgabe, die Sie von Frau Friederici übernehmen: die Leitung der Minerva Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Israel. Waren Sie schon einmal in Israel?

Ja, ich war mehrmals in Israel. Ich habe sowohl Jerusalem als auch Tel Aviv über mehrere Tage hinweg kennengelernt. Ich war insbesondere von Tel Aviv begeistert. Ich glaube, das geht vielen Berlinern so, die nach Tel Aviv kommen und dort auf einmal die ganze Bauhaus-Architektur und die weltoffene Stimmung entdecken, plus Mittelmeer.

Von der Minerva-Stiftung bin ich tief beeindruckt, von deren Geschichte und von ihren derzeitigen Aktivitäten. Die Stiftung bietet viele Möglichkeiten, Wissenschaftskooperationen zwischen Deutschland und Israel voranzubringen. Ich blicke diesem Teil meiner Aufgaben sehr erwartungsvoll entgegen, auch wenn es angesichts der aktuellen Pandemie-Situation und der strikten Einreisebeschränkungen wohl noch eine Weile dauern wird, bis ich Israel besuchen werde. Ganz besonders freue ich mich darauf, meinen Kollegen Alon Chen [Anm. d. Red.: vormals Direktor am MPI für Psychiatrie] wiederzusehen und mit ihm in seiner Funktion als Präsident des Weizman Instituts zusammenzuarbeiten.

Das nächste Land ist zurzeit auch nicht so einfach zu bereisen – das ist Großbritannien, wo Sie das gemeinsame Max Planck Center mit dem University College London haben.

Ja, das ist richtig. Aber die wissenschaftlichen Kontakte wachsen und gedeihen trotz Brexit und Corona. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf beiden Seiten des Kanals sind fest entschlossen, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Wenn die politische Lage schwierig ist, stehen die Forschungsorganisationen ganz besonders in der Verantwortung. Dies wurde auch deutlich, als sich der Wellcome Trust und die MPG im letzten Jahr zu einer gemeinsamen Sitzung in München getroffen haben.

Fürchten Sie, dass, wenn Großbritannien Ende des Jahres mit einem „no Deal“ ausscheiden sollte, es zu einer Beschädigung des Max Planck Center führen könnte auch aufgrund ggf. finanzieller Schwierigkeiten? Es sieht ja ohnehin gerade für die Universitäten, die sich über Studiengebühren finanzieren, nicht ganz so rosig aus in Corona-Zeiten.

Konkret um das Max Planck Center in London mache ich mir weniger Sorgen, da es u.a. wegen seiner Drittmittel auch finanziell sehr gut aufgestellt ist. Aber ​generell besteht dieses Problem. Insbesondere private Hochschulen, darunter durchaus auch renommierte, könnten in finanzielle Schwierigkeiten geraten, und das könnte Kooperationen beeinträchtigen. Das lässt sich im Augenblick noch nicht absehen. Die Center-Zusammenarbeit basiert ja auf dem Prinzip der „matching funds“. Wir können nicht für strukturelle Defizite einspringen, die in einem anderen Land entstehen. Dennoch sollten wir uns stets darum bemühen, Lösungen zu finden, die der wissenschaftlichen Zusammenarbeit dienen.

Wie sehen denn die Perspektiven für die Center in Europa ohne Großbritannien Ihrer Einschätzung nach aus?

Die Center orientieren sich an wissenschaftlicher Exzellenz und Passung. Sie sind weltweit verteilt mit gewissen regionalen Schwerpunkten, z.B. in Großbritannien sowie an der Ost- und Westküste Nordamerikas. Es ist wünschenswert, wenn wissenschaftliche Exzellenz und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu weiteren Centern in anderen Teilen Europas und der Welt führen.

Was sind Ihre wichtigsten Anliegen für Ihre kommenden drei Jahre im Amt des Vizepräsidenten?

Ein Anliegen, das mir wichtig ist, ist eine Stärkung der Marke Max-Planck. Ich treffe immer wieder auf Kolleginnen und Kollegen im Ausland, die das Institut kennen, das in ihrem Feld angesiedelt ist, und von diesem Institut auch eine sehr hohe Meinung haben. Häufig ist denen aber gar nicht klar, dass da eine Max-Planck-Gesellschaft dahintersteckt. Wir sollten uns überlegen, wie wir die Max-Planck-Gesellschaft als solche stärken können – das ist auch eine Frage der Identität von uns Wissenschaftlichen Mitgliedern. Wie kann es uns gelingen, zusätzlich zum Institut auch die Max-Planck-Gesellschaft als Ganzes stärker ins Blickfeld zu rücken?

Da sprechen Sie ein Thema an, dass uns in der Kommunikation schon seit Jahren bewegt. Das fängt natürlich – so banal das klingen mag – bei bestimmten Markenkennzeichen an, zum Beispiel der Sichtbarkeit unseres Logos, der Minerva.

Genau. Ich finde es wichtig, dass die Minerva auf Broschüren und im Web prominent in Erscheinung tritt. Und es hilft, wenn sich der Webauftritt eines Instituts am Gesamterscheinungsbild von Max-Planck orientiert. Bei den meisten Instituten ist das ja mittlerweile der Fall. Das kommt am Ende uns allen zugute.

Und ein weiteres Thema?

Innovation. Unsere Auswahlprozesse, auch die für Wissenschaftliche Mitglieder, funktionieren in der Regel immer dann besonders gut, wenn wir in einem Feld suchen, in dem wir bereits besonders stark sind und deshalb die Expertise mitbringen. Aber wir sollten erfindungsreicher werden, wenn es darum geht, die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu finden auf Feldern, auf denen die MPG zurzeit weniger stark ist.

Da ließe sich natürlich auch an die Erfahrungen mit dem Neugründungsprozess im Rahmen des Aufbaus Ost anknüpfen. Damals war der Druck sehr groß, in kurzer Zeit geeignete Themen zu identifizieren. In diesem Zusammenhang wurden seinerzeit auch externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinzugezogen. Zum Beispiel stammt das Konzept für die evolutionäre Anthropologie, das sich ja wirklich bewährt hat, von Professor Durham aus Stanford.

Ja, das ist ein sehr schönes Beispiel. Manchmal können Experten von außerhalb der MPG gemeinsam mit uns eine Gründungsidee entwickeln. Mir ist daran gelegen, dass wir die Varianz vergrößern in Bezug auf Themen, die wir Max-Planck-intern noch nicht auf dem Schirm haben.

Gibt es auch explizite Impulse für Ihre Sektion?

Zunächst freue ich mich auf die Zusammenarbeit mit dem Sektionsvorsitzenden Ulrich Becker. Uns beiden ist daran gelegen, dass die Sektionssitzungen genügend Zeit für die Diskussion ausgewählter wichtiger Themen bieten – angesichts einer vollen Tagesordnung immer eine Herausforderung. Unsere Sektion ist reich an unterschiedlichen Wissenschaftsformen, und dieser Reichtum birgt Potenzial für Kreativität und fruchtbaren Austausch. Außerdem ist mir die Zusammenarbeit über die Sektionen hinweg wichtig. Es gibt Themenbereiche, die in allen drei Sektionen vertreten sind. Nehmen wir zum Beispiel Neurowissenschaften in der BMS, kognitive Neurowissenschaften in der GSHS und Künstliche Intelligenz in der CPTS. Diese drei Forschungsfelder hängen auf der Ebene der Modellierung und der Theoriebildung eng miteinander zusammen, und es gibt hier auch bereits zahlreiche Berührungspunkte und Kooperationen zwischen den Sektionen. Aber ich habe den Eindruck, da geht noch mehr.

Das wäre ein Aspekt, über den Sie sich natürlich auch mit Ihren Vizepräsidentenkollegen austauschen.

Ja, und darauf freue ich mich auch. Und dann gibt es ein Thema, das Klaus Blaum sich auf die Fahne geschrieben hat und bei dem ich ihn sehr gerne unterstützen werde – das ist die Nachhaltigkeit. Wie bauen wir und wie können wir unsere Wissenschaft so ausüben, dass sie möglichst ressourcenschonend ist? Dazu gehören ganz praktische Dinge wie Dienstreisen oder die Nutzung von Abwärme bei Großgeräten. Die nachhaltigere Alternative ist langfristig betrachtet sowie bei Berücksichtigung der externen Kosten auch oft die wirtschaftlichere. Das ist ein Querschnittsthema, das sich noch stärker als bislang im alltäglichen Handeln niederschlagen sollte – und zwar bis hin zu den Richtlinien unseres Organisationshandbuchs. 

Nachhaltigkeit spielt auch in der Markenkommunikation eine Rolle. Die US-amerikanischen Universitäten setzen das schon ganz strategisch ein, wie beispielsweise die Universität Stanford. Exzellenz und Nachhaltigkeit schließen sich also nicht aus. Times Higher Education hat vor zwei Jahren ein eigenes Hochschulranking zu Nachhaltigkeit eingeführt.

Das ist neu für mich. Umso besser!

Und für unseren Nachwuchs ist Nachhaltigkeit durchaus auch ein Thema. Apropos Nachwuchs: Wie wichtig ist für Sie die Nachwuchsförderung?

Exzellente Nachwuchsförderung ist das Lebenselixier der MPG. Ich begrüße die Umstellungen und neu geschaffenen Programme zur besseren Förderung und Finanzierung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Als Mitglied der Kommission unter Leitung von Bill Hansson habe ich an diesen Änderungen selbst mitgewirkt. Gerade auch für Promovierende soll die MPG eine besonders attraktive Adresse sein. Die zunehmende Kodifizierung des Betreuungsverhältnisses darf aber nicht zu der Erwartung verleiten, dass ein perfekt organisiertes System den Erfolg der Dissertation garantieren kann. So eine Erwartung schwächt das, was man im Englischen als „sense of agency“ bezeichnet, also das Gefühl, durch das eigene Handeln etwas bewirken zu können. Eine Dissertation erfolgreich abzuschließen, ist oft nicht leicht, auch nicht unter idealen Bedingungen. Wenn es den Beteiligten gelingt, gemeinsam Schwierigkeiten zu überwinden, dann können sie am Ende auch stolz auf das Ergebnis sein.

Und zum Schluss?

Ich bin gespannt auf die neue Aufgabe! Und ich freue mich auf die gute Zusammenarbeit im Präsidentenkreis und im Perspektivenrat sowie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Generalverwaltung, die ich bereits in meiner Zeit als Sektionsvorsitzender kennengelernt habe und deren Kompetenzen ich sehr schätze.

Das Interview führte Christina Beck.

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