Welche Patienten retten?

Überlegungen von Tatjana Hörnle, Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, zu den Dilemmata bei der Zuteilung von Beatmungsgeräten

Was tun, wenn mehrere Menschen in akuter Lebensgefahr sind und Retter sich zwischen Handlungsoptionen entscheiden müssen, mit denen nicht alle gerettet werden können? In der Moralphilosophie, der Strafrechtstheorie und der Verfassungslehre waren es bislang zumeist hypothetische Fälle, die diskutiert wurden. Angesichts der Verbreitung von Covid-19 und einem Mangel an Beatmungsgeräten könnte es möglicherweise aber auch um reale Fälle gehen, schreibt die Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle in ihrem Aufsatz "Dilemmata bei der Verteilung von Beatmungsgeräten".

Ein Beispiel: Zwei Patienten werden zeitgleich in die Intensivstation gebracht; bei beiden liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit Beatmung bei über 90 Prozent, ansonsten unter 50 Prozent. Die zuständige Ärztin entschließt sich, Patient A (40 Jahre, keine Grunderkrankungen, Arzt in der Intensivstation des Klinikums einer anderen Stadt) gegenüber Patient B (75 Jahre, ebenfalls keine gesundheitliche Vorbelastung, guter Allgemeinzustand) zu bevorzugen; Patient B stirbt. Strafrechtlich gesehen wäre dies ein Fall einer „echten Pflichtenkollision“, schreibt Tatjana Hörnle. Bei der strafrechtlichen Beurteilung des Geschehens wäre die Entscheidung der Ärztin gerechtfertigt und nicht zu bestrafen. Es sei weitgehend anerkannt, dass diejenigen, die Lebensrettungspflichten gegenüber mehreren Personen haben und nicht allen gerecht werden können, rechtmäßig handeln, wenn eine Person gerettet wird, so die Begründung. Die Gründe für die Auswahl werden nicht geprüft. Entscheidend ist allein die faktische Unmöglichkeit, alle Rettungspflichten zu erfüllen.

Wie aber sollen allgemeine Regeln für Dilemmata dieser Art aussehen? Sieben deutsche medizinische Fachgesellschaften haben am 25. März 2020 einen Kriterienkatalog veröffentlicht, anhand dessen Ärzte entscheiden können, welche Patienten weiter behandelt werden, wenn Intensivkapazitäten während der COVID-19-Pandemie nicht mehr ausreichen. Der Deutsche Ethikrat zog am 27. März mit einer Ad-Hoc-Empfehlung zu „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ nach.

Gute Gründe für den Ausschluss sozialer Kriterien

Kurz gefasst empfehlen die Papiere ein zulässiges Kriterium, um in einer Notfallsituation zu entscheiden: den erwarteten medizinischen Nutzen, also die klinische Erfolgsaussicht. Beide Papiere wenden sich explizit gegen die Berücksichtigung von Lebensalter und sozialen Kriterien. Es dürfe keine Rolle spielen, ob der Patient noch jung ist oder einen „krisenwichtigen Beruf“ ausübt, so der Tenor. Es bleibt das Problem, dass in Fällen wie dem oben genannten Beispiel, wo der aktuelle klinische Zustand von Patienten ebenso wie ihr Allgemeinzustand und Vorerkrankungen vergleichbar sind, die klinischen Kriterien nicht für eine Entscheidung ausreichen.

Laut Tatjana Hörnle gibt es allerdings gute Gründe dafür, dass sich die genannten Regelwerke auf das Feld der klinischen Kriterien zurückziehen. Schon die offene Diskussion darüber, welche biographischen Merkmale als Zusatzkriterien in Betracht kommen könnten, würde von sehr vielen Menschen als Affront und Tabubruch empfunden. Auch betone der Deutschen Ethikrat in seinen Empfehlungen, dass in Katastrophenzeiten Staat und Gesellschaft keine Erosion der Fundamente ertragen könnten, was laut Tatjana Hörnle, „sicherlich eine zutreffende sozialpsychologische Beschreibung ist“.

Darf eine Beatmung abgebrochen werden?

In einem zweiten Punkt kommen die medizinischen Fachgesellschaften und der Deutsche Ethikrat zu unterschiedlichen Ergebnissen. Um das zu verstehen, muss der Beispielfall folgendermaßen abgewandelt werden: Patient B ist an das letzte funktionsfähige Beatmungsgerät angeschlossen, die Ärztin entfernt das Gerät, um Patient A zu beatmen. Patient B stirbt. Nach den Festlegungen des Ethikrats ist es erheblich problematischer, wenn die Ärztin das Beatmungsgerät dem Patienten B nachträglich abnimmt („Triage bei Ex-post-Konkurrenz“), als wenn sie von Anfang bei Patient B kein Gerät angeschlossen hätte („Triage bei Ex-ante-Konkurrenz“). Anders die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften: Die Beendigung bereits eingeleiteter intensivmedizinischer Maßnahmen sei nicht anders zu beurteilen sei als der Verzicht auf solche, heißt es darin.

Ist es aber wirklich verwerflicher, wenn der Patient durch das Eingreifen der Ärztin (in diesem Fall durch das Abhängen vom Beatmungsgerät) stirbt, als wenn die Ärztin es von Anfang an unterlassen hätte, ein Beatmungsgerät anzubringen? Eine verbreitete Intuition sieht das so, was in Formulierungen wie „der Mensch soll nicht Schicksal spielen“ zum Ausdruck kommt.

Solche Vorgaben sind nach Ansicht von Tatjana Hörnle nur dann erklärbar, wenn die Grundannahme ist, dass der Gang der Dinge vom Willen Gottes oder einer anderen, die großen Zusammenhänge ordnenden Einheit getragen werde. Unter dieser Prämisse sei es im Zweifel richtig, dass Menschen Schicksal zulassen und darauf verzichten, aktiv eingreifen, schreibt sie. Grundsätzlich zieht die Expertin aber den nüchternen Blick der medizinischen Fachgesellschaften vor, die keinen erheblichen Unterschied zwischen dem Abschalten eines Beatmungsgeräts und der von vornherein unterlassenen Beatmung sehen.

AS

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht