Vergeuden Sie niemals eine gute Krise!

Unter dieser Überschrift beschreiben die Politikwissenschaftler Jack Blumenau und Benjamin E. Lauderdale, wie Partikularinteressen die Eurokrise für Institutionenreformen genutzt haben. Dahinter steht ein allgemeines Problem: In schweren Krisen können Politiker die bisherige Politik nicht mehr beibehalten, aber sie wissen auch nicht, mit welcher Politik sich die aktuellen Krisenprobleme lösen lassen. Ein Meinungsbeitrag von Kai A. Konrad und Marcel Thum

Deshalb schlägt in Krisen die Stunde der Vertreter von Einzelinteressen. Sie haben Politikvorschläge und Gesetzesvorlagen in der Tasche, mit denen sie seit Jahren die Politik bearbeiten. In der Krise legen sie diese Vorschläge den Politikern wieder auf den Tisch. Sie sagen öffentlichkeitswirksam: Dies ist die Medizin gegen die Krise. Wir haben das schon immer gefordert. Hätte die Politik doch nur früher auf uns gehört!  Jetzt ist es an der Zeit!

Auch in der Coronakrise lässt sich dieses Muster an vielen Stellen erkennen. So hört man die Forderung nach höheren Mindestlöhnen und einer gerechteren Entlohnung in allen sozialen Berufen für die Zukunft. Das mag eine legitime Forderung sein – sie hilft in der augenblicklichen Krise nicht, weder was die Unterbrechung der Infektionsketten oder die Behandlung der Kranken angeht, noch was die Erforschung wirksamer Medikamente und Impfstoffe oder den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Krise betrifft.

Es ist auch die Stunde der Globalisierungskritiker. Sie glauben zu wissen, dass die internationalen Verflechtungen die Ursache für die Coronakrise sind und wir zu mehr Autarkie zurückkehren müssen. Unbestritten ist, dass das Virus durch die hohe Mobilität der Menschen rasch um die Welt gereist ist. Allerdings wären wir ohne die Globalisierung der Wirtschaft auch viel ärmer und könnten denjenigen Menschen, die erkranken, viel schlechter helfen. Und eine autarke Gesellschaft wäre dem Ausbruch einer Epidemie recht hilflos ausgeliefert. Wo sollten die lebensnotwendigen Güter und Nahrungsmittel herkommen, wenn die inländische Wirtschaft von der Krankheit gelähmt ist. In einer globalisierten Welt können wenigstens die (noch) nicht betroffenen Staaten und die Länder, die die Epidemie schon leidlich überwunden haben, bei der Versorgung wichtige Dienste leisten.

Man hört auch die Forderung nach Verstaatlichung oder Teilverstaatlichung großer Unternehmen, etwa der Lufthansa – für Übergangszeiträume zwar, aber ohne klares Ausstiegsszenario. Ist das ein Beitrag zur Lösung der Corona-Krise? Die Lufthansa ist ein sehr leistungsfähiges privatwirtschaftliches Unternehmen. Dem Unternehmen und seinen Angestellten stehen nun unsichere Übergangszeiten bevor.  Ist das ein Grund, aus der Lufthansa wirklich ein defizitäres staatlich kontrolliertes Unternehmen etwa nach dem Vorbild von Alitalia zu machen? Luftfahrtgesellschaften sind keine Banken, die in der Schieflage alles mit sich nach unten reißen. Man kann sie gegebenenfalls nach der Krise über eine Sanierung wieder flottmachen. Und im schlimmsten Fall würden ihre Flieger, Strecken und vor allem ihr gut ausgebildetes Personal schnell von anderen Fluggesellschaften übernommen.

Diejenigen, die überall neoliberale Exzesse sehen, fordern für viele Güter nun mehr staatliche Lenkung. Wird das zu mehr Versorgungssicherheit und besserer Produktqualität zu günstigeren Preisen führen? Wer vor zwei Wochen im Supermarkt keine Penne Rigate, keinen Arborioreis und keine italienischen Dosentomaten mehr bekam, war vielleicht etwas enttäuscht und musste das Menü für den Abend kurzfristig umplanen. Aber echte Lebensmittelknappheit gab es trotz des Ansturms auf die Supermärkte nicht, und schon wenige Tage danach hatten die Logistikexperten des Einzelhandels die Regale mit Produkten anderer Pastazulieferer wieder gefüllt. In der Planwirtschaft der DDR waren die Regale meist leer. Und viele Güter gab es nur unter der Ladentheke. Sie wurden als „Bückware“ getauscht oder an gute Freunde verschoben.  Und Produktqualität? In Berlin kann man im Museum noch die Eleganz eines „Trabant S de luxe“ (Wartezeit für einen neuen Trabbi ca. 10 Jahre), die DDR Jeans der Marke „Boxer“, Retro-Look Farbfernseher der Marke „Chromat“ oder Computer des VEB Robotron bestaunen. Nach 1990 wollte diese Güter keiner mehr haben.  

Auch die neu entbrannte Diskussion um Euro-Bonds nutzt die „Gunst der Stunde“. Frankreich, Italien und Spanien fordern angesichts der Krise einmal mehr die Vergemeinschaftung der Schuldenaufnahme in Europa– nicht nur für die Krise jetzt, sondern dauerhaft, und als Symbol für Zusammenhalt. Bisher war das Kernargument für Euro-Bonds, dass damit asymmetrische Schocks abgefedert werden können. Wer Pech hat und von einem negativen Schock getroffen wird, z.B. weil die wichtigste Branche eines Landes in eine globale Krise hineingerät, wird von den anderen Ländern, die nicht betroffen sind, unterstützt und gleichsam versichert. Ob das Argument trägt, sei einmal dahingestellt. Bei der Corona-Krise handelt es sich aber um einen weitgehend symmetrischen Schock, da alle Euro-Länder betroffen sind.

Dies ist kein Plädoyer für nationalen Egoismus. Länder, die (noch) nicht von der Epidemie betroffen sind, sollten einen Teil ihrer Notfallinfrastruktur den Bürgern der EU-Nachbarn zur Verfügung stellen. Auch temporäre zwischenstaatliche Kredithilfen können nützen. Etwa im Rahmen des European Stability Mechanism (ESM). Die EU könnte auch eine stärkere Rolle bei der Koordinierung nationaler Politikmaßnahmen einnehmen. Unilaterale Grenzschließungen, die kaum etwas an der Epidemie ändern aber die Versorgung und die Erwerbsmöglichkeiten der Bevölkerung bedrohen, zeigen, wie sinnvoll eine europaweite Koordination wäre.  Aber die Krise liefert keine überzeugenden Gründe, jetzt und schnell die Europäische Finanzarchitektur des öffentlichen Sektors für die Jahrzehnte nach der Krise umzukrempeln.

Wie soll man sich also künftig gegen Pandemien und andere seltene Katastrophen wappnen? Braucht man wirklich mehr staatliche Kontrolle dort, wo in der Corona-Krise Knappheiten auftreten? Vermutlich wird die nächste Katastrophe ganz andere Herausforderungen bereithalten.  Der Nobelpreisträger Thomas Schelling hat einmal dafür plädiert, primär die Krisenreaktionsfähigkeit der Volkswirtschaft zu erhöhen: Dies geschieht durch mehr Wissen, bessere Technologien, und durch höhere Wirtschaftskraft und Wohlstand der Volkswirtschaft, so dass sich genügend Ressourcen schnell in die Bewältigung einer aufkommenden Krise lenken lassen.

Anmerkung: Dieser Kommentar erscheint zeitgleich auf handelblatt.com.

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